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Heribert Weishaupt

Totenstille
am See

Ein Troisdorf-Krimi

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Heribert Weishaupt

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

Impressum

eISBN: 978-3-939829-99-7

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Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Epilog

Anmerkung

Wer der Meinung ist,
dass man für Geld alles haben kann,
gerät leicht in den Verdacht,
dass er für Geld alles zu tun bereit ist
.

(Benjamin Franklin)

Prolog

Die nackte Glühbirne tauchte den Raum in ein diffuses Licht. Wahrscheinlich war es eine der letzten des 130 Jahre alten Leuchtmittels, das ab September 2012 nicht mehr auf den Markt gebracht werden durfte. Die Lichtstärke von 20 Watt ließ den mehr als dreißig Quadratmeter großen Raum noch düsterer und unheimlicher wirken, als er tatsächlich war. In den kahlen Betonwänden befand sich weder ein Fenster noch irgendeine sonstige Öffnung. Lediglich eine verrostete Eisentüre unterbrach den kahlen Beton. Die Luft war feucht und der Geruch von Exkrementen erschwerte zusätzlich das Atmen.

Er lag auf dem Rücken, Beine und Arme leicht vom Körper abgewinkelt. Seine Hände und Fußgelenke waren mit schmalen Lederriemen an ein in den Beton eingelassenes Eisen rechts und links von ihm angebunden. Über seine Stirn zog sich ein ähnlicher Lederriemen und gestattet nicht die kleinste Drehung des Kopfes.

Die einzige Bewegung, die seine Fesseln zuließen, war das Zittern, das seinen gesamten Körper ergriffen hatte.

In regelmäßigen Abständen fiel ein Wassertropfen genau auf seine Nasenwurzel zwischen seinen Augen. Er konnte den Zeitabstand bis zum nächsten Tropfen genau einschätzen. Bereits kurz vorher schloss er seine Augen und verbarg dadurch seine geröteten Augäpfel.

Er hätte nie gedacht, dass diese Foltermethode so grausam sein könnte. Die Kälte, die der feuchte Betonboden abgab, nahm er seit geraumer Zeit nicht mehr bewusst wahr.

Er war sicher, dass er diesen Raum nicht mehr lebend verlassen würde. Inzwischen war er so weit, dass er den Tod herbeisehnte. Die Vorstellung, bald dieses erlösende Gefühl zu spüren, ließ ihn die Schmerzen und Qualen weiter ertragen.

„Unterschreibe und alles ist vorbei und du bist frei“, drang wieder diese dumpfe, monotone Stimme mit den gleichen, eindringlichen Worten an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken.

Er würde nicht unterschreiben, egal was sie mit ihm anstellten. Dieser letzte Triumph würde ihm gehören. Denn auch, wenn er sich tatsächlich entschließen würde zu unterschreiben, würde man ihn mit Sicherheit nicht freilassen.

„Niemals“, war zum wiederholten Male seine Antwort, die krächzend aber bestimmt aus seinem Mund kam.

Und wieder traf ein Wassertropfen seine Nasenwurzel und das Wasser rann ihm in die entzündeten Augen. Wieso musste Sterben so schwer sein?

Paul Altmann erwachte, schlug die Augen auf und saß gleichzeitig aufrecht im Bett. Es dauerte einige Augenblicke, bis er begriff, dass er geträumt hatte. Der dünne Schlafanzug klebte an seinem schweißnassen Körper. Er zitterte. Doch jetzt war kein Albtraum dafür verantwortlich, in dem er vor Angst zitternd auf dem Boden lag, sondern der Herbstwind, der durch das halb geöffnete Fenster blies.

Inzwischen häuften sich die Nächte, in denen Albträume ihn um den gesunden Tiefschlaf brachten. Trotzdem stand sein Entschluss fest. Er würde nicht klein beigeben.

1. Kapitel

Die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen versanken am Horizont hinter dem Kirchturm der St.-Johannes-Kirche in Troisdorf-Sieglar. Mit dem Untergang der Sonne endete ein angenehm, warmer Herbsttag und in den nächsten Stunden würden die Temperaturen erheblich sinken. Franz Bertram fuhr mit seinem Wagen die Hüttenstraße entlang bis zum Wanderparkplatz direkt hinter dem Hochwasserschutzdamm der Sieg, die von hier aus in wenigen Kilometern in den Rhein mündet. Dort stellte er seinen alten Mercedes 190 D ab. Inzwischen war sein geliebtes Gefährt stolze zwanzig Jahre alt. Er würde ihn auch künftig hegen und pflegen – und nach weiteren zehn Jahren wäre er würdiger Besitzer eines Oldtimers.

Der Parkplatz war an diesem Samstagabend leer. Die Spaziergänger und Wanderer, die das schöne Wetter genutzt hatten, waren um diese Zeit wieder zu Hause. Für Liebespaare, die sich manchmal auf dem Parkplatz im Auto vergnügten, war es dagegen noch zu früh und vor allem nicht dunkel genug.

In dieser Nacht endete die Sommerzeit. Die Uhren würden wieder eine Stunde zurückgestellt werden … und ab morgen wäre es um diese Zeit noch lange heller Tag. Franz wollte heute die frühe Dunkelheit noch einmal zum Nachtangeln nutzen.

Er stieg aus, ging um seinen Wagen herum und setzte sich auf den Beifahrersitz, um seine Stiefel anzuziehen, die er vorsorglich vor der Abfahrt vor den Sitz gelegt hatte. Auf dem Beifahrersitz hatte er mehr Bewegungsfreiheit. Hier störte ihn nicht das Lenkrad. Die Stiefel waren bereits viele Jahre alt. Am Schaft und unter der Sohle klebte noch die getrocknete Erde von seinem letzten Angelabend.

Er öffnete den Kofferraum und griff sich die lange und prall gefüllte Angeltasche, die er sich über die Schulter hängte. In die rechte Hand nahm er seinen Angelstuhl und in die andere einen kleinen Werkzeugkoffer, in dem er Angelhaken, Blei, Posen und sonstige Kleinutensilien ordentlich sortiert verstaut hatte. Wie immer wollte er auch heute zu seinem Angelplatz am Westufer des Sieglarer Sees. Er liebte den See. Hier fand er Ruhe und Erholung vom Stress des Alltags.

Er wandte sein, von der Sonne braun gebranntes Gesicht dem Himmel zu. Nur wenige Quellwolken unterbrachen das Blau des Firmaments. Er nickte zufrieden und ging beschwingt und erwartungsvoll los.

Er überquerte den Siegdamm, um dann noch einige Hundert Meter am Ufer entlang des Sees zu gehen. Anfangs war der Weg breit, und ging später in einen engen Pfad über. Leicht außer Puste erreichte er die Stelle des Pfades, an der er den Pfad verlassen musste, um zu seinem Angelplatz am Ufer zu gelangen. In solchen Momenten, wenn er nach kurzen Anstrengungen nach Luft schnappte, haderte er mit sich selbst. Er schaute an sich herunter. Sein Bauch wölbte sich immer mehr über seine Hose, und seine Jacke ließ er so wie heute meistens offen, damit sie ihn nicht zu sehr einengte. Er hasste diese Momente und er hasste dann auch sich selbst. Vor Jahren hatte er noch eine ansprechende Figur. Inzwischen war er bequemer und das Essen seine Leidenschaft geworden. Zum wiederholten Male nahm er sich vor, etwas für seine Kondition und seinen Körper zu tun. Ja, morgen würde er mit Gymnastik und Laufen beginnen – und wenn nicht ab morgen, dann spätestens ab nächstem Wochenende.

Er stellte sein Gepäck ab und atmete einmal tief durch.

Links von ihm ragten entlang des Pfades die über zwei Meter hohen Stängel des drüsigen Springkrauts in den Himmel. Erst bei seinem letzten Besuch am See hatte er das Kraut, das sich inzwischen in fast allen Auen und Uferlandschaften eingebürgert hatte, niedergetreten, um sich einen Weg zum Seeufer zu bahnen. Und bereits heute, nach wenigen Wochen, war der Zugang zum See erneut zugewachsen. Er hasste das Gewächs, weil es alle anderen Pflanzen überwucherte. Außerdem mochte er den starken, süßlichen Duft nicht, den die rosa Blüten verströmten, und der sich wie eine Glocke über das Ufer legte.

Er ließ seinen Ärger auf brutale Art an den Pflanzen aus und bahnte sich erneut einen Zugang zu seinem Angelplatz, indem er rücksichtlos die Stängel der lästigen Pflanzen niedertrat. Sein Ärger verflog aber sofort wieder, als er den Angelplatz sah, der nach wie vor frei von irgendwelchen Gewächsen war. Die festgetretene, steinige Erde bot für den Samen des Springkrauts wenige Möglichkeiten, Wurzeln zu bilden.

Franz Bertram freute sich auf einen schönen und hoffentlich erfolgreichen Angelabend.

Bevor er sein Gepäck heranholte, blieb er einige Augenblicke am Wasser stehen und genoss den Blick über den See bis zum gegenüberliegenden Ufer. Es war fast windstill und der See bot zumindest in Ufernähe eine fast glatte Oberfläche. Lediglich in der Mitte des Sees kräuselte sich das Wasser leicht. Dort beobachtete er eine größere Anzahl unterschiedlicher Entenarten. Er bedauerte es, dass er von seinem jetzigen Standort nicht die beiden Inseln im See sehen konnte, die von einer Unmenge Vögeln und Enten aller hiesigen Arten bevölkert wurden. Lediglich die Vogelstimmen und das Geschnatter der Enten drangen bis zu ihm vor. Er hatte den Eindruck, als ob alle Tiere den zu Ende gehenden Tag verabschieden wollten. Er war mit sich und der Welt zufrieden.

Energisch riss er sich vom Anblick des Sees los. Er griff in seine Tasche und holte eine alte, blaue Kappe hervor. Da sein Kopfhaar inzwischen dünn und schüttern geworden war, benötigte er eine Kopfbedeckung, die seinen Kopf gegen die nächtliche Kälte schützte. Bis mindestens Mitternacht wollte er angeln. Falls ihm das Anglerglück nicht versagt blieb, vielleicht auch noch die eine oder andere Stunde länger. Einen entsprechend großen Ködervorrat hatte er vorsorglich eingepackt.

Gut gelaunt begann er, seinen Angelplatz einzurichten. Er öffnete den Werkzeugkoffer, damit er, falls erforderlich, das nötige Werkzeug schnell zur Hand hatte, und stellte ihn neben seinen Stuhl. Aus seiner Angeltasche nahm er den Kescher, fuhr die Teleskopstange aus, sodass der Kescher eine Länge von fast zwei Metern erreichte, und legte ihn ebenfalls in Reichweite auf den Boden. Dann begann er, seine Angeln herzurichten. Durch seine jahrelange Routine konnte er bereits nach wenigen Minuten die erste Angel auswerfen. Er kurbelte die Angelschnur ein kurzes Stück ein, sodass sie gerade gespannt auf der Wasseroberfläche lag. Am Ende der Angelschnur, ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt, hatte er den Schwimmer postiert, der unbewegt, aufrecht aus dem Wasser ragte und ihm den Biss eines Fisches anzeigen würde. Jetzt noch die zweite Angel auswerfen und den Bissanzeiger vier, fünf Meter daneben postieren, und der gemütliche Teil des Tages konnte beginnen.

Inzwischen wurde es immer dämmriger. Und mit der zunehmenden Dunkelheit verbreitete sich vom See aus auch eine unangenehme Feuchtigkeit. Franz kannte das und hatte sich mit entsprechend warmer Kleidung und Schuhwerk versorgt.

Er holte seine beiden Posen ein, um sie gegen Posen mit einem Knicklicht zu tauschen. Seinem kleinen Koffer entnahm er ein kleines Kunststoffstäbchen, das mit zwei unterschiedlichen Chemikalien gefüllt war. Er knickte das Stäbchen, wodurch der Glasbehälter im Inneren brach und die beiden Flüssigkeiten sich vermischten. Durch die dadurch einsetzende chemische Reaktion entstand ein Leuchten, das mehrere Stunden anhalten würde. Das leuchtende Stäbchen befestigte er an der dafür vorgesehenen Stelle am oberen Ende des Bissanzeigers. Die auf diese Art neu präparierte Angel warf er wieder aus. Auch bei völliger Dunkelheit konnte er jetzt die Reaktion des Schwimmers bei dem Biss eines Fisches verfolgen und entsprechend reagieren. Zufrieden schaute er über den See, griff sich ein mitgebrachtes altes Handtuch und trocknete seine Hände daran ab.

Heute beabsichtigte er, einige Aale an Land zu ziehen. Bisher hatte er noch kein Glück gehabt – weder ein Aal, noch ein sonstiger Fisch hatte angebissen. Er war deswegen nicht enttäuscht, denn er wusste, die Hauptbeißzeit der Aale würde noch kommen. Die günstigste Fangzeit für Aale war die Dämmerung, vor allem aber die Nacht.

Bevor sich die Dunkelheit endgültig über den See legte, genoss er es, weiterhin die Natur zu beobachten, wobei er mit einem Auge immer seine leuchtenden Knicklichter beobachtete. Die Laute der Tiere ließen allmählich nach, bis sie plötzlich, als wäre ein unhörbarer Befehl ergangen, ganz verstummten. Eine gespenstische Ruhe breitete sich über den See aus. Gleichzeitig war es fast übergangslos stockfinster geworden. Die Wasseroberfläche war jetzt so glatt wie eine Glasscheibe, zumindest der Teil, den er noch erkennen konnte. Die dünne Sichel des Mondes konnte gegen die Finsternis nichts ausrichten. Durch die Windstille wurden keine Geräusche des nahe gelegenen Autobahndreiecks St. Augustin-West herangetragen. Es war eine lautlose Nacht – es war totenstill.

Die leuchtenden Knicklichter lagen nach wie vor unbeweglich auf der Wasseroberfläche. Aus Langeweile begann Franz, die Ratten, die sich schüchtern seinem Stuhl näherten, mit Brotkrumen zu füttern. Wenn er unbewegt auf seinem Angelstuhl saß, kamen sie bis unter seinen Stuhl, schnappten sich eine Brotkrume, um dann wieder in Windeseile zwischen den Stängeln des Springkrautes zu verschwinden.

Er öffnete die dritte Flasche Kölsch und trank einen kräftigen Schluck. Er hatte noch zwei weitere als Reserve in seiner Angeltasche. Wenn Ingrid, seine Frau, das sähe, würde es wieder ein Donnerwetter geben. Vor einigen Tagen, als sie wieder einmal stritten – und sie stritten meistens wegen seines Alkoholkonsums – bezeichnete ihn Ingrid als elenden Alkoholiker. Auch missbilligte sie, dass er nach mehreren Flaschen Kölsch, die er regelmäßig am See trank, mit dem Wagen nach Hause fuhr. Wie oft hatte sie ihm gepredigt, doch sein Fahrrad für die kurze Strecke zu benutzen. Aber er sah das völlig anders. So schlimm stand es um ihn wegen der einen oder anderen Flasche Bier nicht. Und mit dem Fahrrad die sperrige Angeltasche zu befördern, war ihm zu beschwerlich. Da war die kurze Fahrt mit dem Wagen wesentlich bequemer. Zudem fuhr er nach Hause nur über Nebenstraßen und „Schleichwege“, wie er sich auszudrücken pflegte. Dort würde ihm mitten in der Nacht kein Auto begegnen – schon gar nicht ein Streifenwagen der Polizei.

Es war aber nicht nur der Alkohol, weswegen sie stritten. Sie stritten fast täglich über irgendwelche Kleinigkeiten – und Franz hatte längst eingesehen, dass seine Ehe kaputt war. Nur einen Schlussstrich ziehen, konnte er noch nicht.

Wahrscheinlich lag Ingrid bereits im Bett und schlief fest. Sie würde daher nicht bemerken, dass er ein paar Bier getrunken hatte, wenn er in einigen Stunden nach Hause kam.

Es war bereits weit nach dreiundzwanzig Uhr, als er hinter sich ein Geräusch vernahm. Höchstwahrscheinlich ein größeres Tier. Womöglich eines dieser Nutrias, mutmaßte er. Dieses große Nagetier hatte sich vor Jahren hier am See, und in der unmittelbar neben dem See vorbeifließenden Sieg, angesiedelt. Kurz drehte er sich um, denn er wollte seine leuchtenden Posen nicht unnötig lange aus den Augen verlieren. Nichts.

Doch da wieder ein Geräusch, dieses Mal ganz in der Nähe, direkt hinter ihm. Erneut wandte er seinen Kopf nach hinten. Wie von Geisterhand wurden die Stängel des Springkrauts zur Seite geschoben und nur schemenhaft konnte er eine menschliche Gestalt in der Dunkelheit erkennen, die sich durch das Springkraut bis an den Rand seines Angelplatzes drängte. Franz fasste blitzschnell seine Taschenlampe, die er sofort verfügbar neben seinen Angelkoffer gelegt hatte und richtete den Strahl direkt auf den unerwarteten Besucher. Mit der anderen Hand ergriff er sein Anglermesser, das er griffbereit auf seinem kleinen Koffer platziert hatte und sprang auf.

Als der Lichtstrahl seiner Taschenlampe das Gesicht des ungebetenen Gastes erhellte, erkannte er die Person, die mit einer schwarzen Hose, einer schwarzen Jacke, sowie einem Schal und einer tief in die Stirn gezogenen Mütze bekleidet war.

„Du? Was willst du denn hier am See?“, rief er völlig überrascht aus.

Seine Stimme schallte durch die lautlose Nacht. Aber niemand würde durch seinen Ausruf erschreckt werden, denn er war heute wieder einmal der einzige Angler am See. Durch die großen Kormorankolonien, die häufig über den See herfielen und den Fischbestand erheblich reduzierten, war der Sieglarer See in Anglerkreisen nicht besonders beliebt. Die meisten Angler bevorzugten den wesentlich fischreicheren Rotter See.

„Mach das Licht aus und setz dich wieder hin. Wir müssen reden“, forderte ihn die Person eindringlich auf.

„Wir haben nichts miteinander zu reden. Schon gar nicht hier am See“, entgegnete Franz Bertram aufgebracht.

In der einen Hand die Taschenlampe, in der anderen das gezückte Messer sprang er auf seinen unwillkommenen Besucher zu, um ihn von seinem Angelplatz zu drängen, auch wenn der Besucher wegen des Messers in Franz Bertrams Hand Schlimmeres befürchtete.

Sein Angelstuhl kippte dabei um und fiel auf seinen kleinen, geöffneten Koffer, der ebenfalls scheppernd umfiel. Der Inhalt verstreute sich über die leicht abschüssige Angelstelle. War es sein Kreislauf, der durch das plötzliche Hochspringen außer Kontrolle geriet, oder war es der Bierkonsum? Im Nachhinein würde es letztlich nicht feststellbar sein, was der Grund für sein Taumeln war.

Statt in Richtung der Person, torkelte er rückwärts, verlor das Gleichgewicht vollends und stürzte in den See, der zu dieser Jahreszeit viel zu kalt für ein Bad war. Der See war an dieser Stelle bis ein, zwei Meter vom Ufer entfernt noch nicht sehr tief. Franz ruderte kräftig mit den Armen. Er zog seine Beine an, um sich aufzurichten und schnell aus dem kalten Wasser zu gelangen. Überraschend gewandt gelangte er in eine sitzende Position. Und schon ragten sein Kopf und seine Schultern aus dem Wasser.

„Jetzt nach vorne beugen und aus dem See heraus. Dann werde ich dir zeigen, dass man so mit einem Franz Bertram nicht umgehen kann“, dachte er.

Plötzlich erhielt er einen Stoß gegen die Brust und fiel erneut rückwärts in den See. Das kalte Wasser schwappte über sein Gesicht und lief in seinen um Luft ringenden, geöffneten Mund. Er schloss seinen Mund und musste mehrmals schlucken, um ihn vom Seewasser zu befreien.

Er wollte sich erneut aufrichten. Ein starker Druck auf seine Kehle verhinderte jedoch, dass er seinen Kopf aus dem Wasser heben konnte. Angst und Panik machte sich bei Franz breit. Sein Sauerstoffvorrat war beinahe erschöpft.

Mit aller Kraft, die ihm seine Panik verlieh, versuchte er erneut, sich gegen den Druck auf seiner Kehle zur Wehr zu setzen, und den Kopf über Wasser zu bekommen. Er ruderte mit den Armen und versuchte mit den Beinen Halt zu finden. Vergeblich.

Inzwischen hatte sich seine dicke Kleidung, die ihn gegen die Kälte schützen sollte, mit Wasser vollgesogen. Wie eine Bleiweste hingen die Kleidungsstücke an ihm. Er musste seinen Kopf unbedingt über Wasser bekommen, egal wie.

Sollte das sein Ende sein?

Vor seinen Augen tanzten Sterne. Seine Lunge schien zu zerbersten. Er musste seinen Mund öffnen und nach Luft schnappen. Unbedingt. Als er den Mund öffnete und seine Lungen gierig Sauerstoff einsaugen wollten, erreichte nur ein Schwall Wasser seine Lunge und seine Bronchien. In seinem Kopf platzte nacheinander Stern um Stern, bis nur noch ein grelles, weißes Licht vorhanden war.

Aber auch dieses Licht erlosch. Franz Bertram nahm nicht mehr wahr, dass sich der Druck auf seine Kehle verringerte und schließlich ganz verschwand.

„Das hast du nun davon“, flüsterte die dunkel gekleidete Gestalt.

Der nächtliche Besucher schaute zufrieden über den See, ohne Franz Bertram eines weiteren Blickes zu würdigen. Den Kescher, mit dessen Griff er Franz Bertram unter Wasser gedrückt hatte, hielt er noch immer am Ende der Teleskopstange, dort wo das Netz begann, in der Hand. Mit der Sicherheit, dass ihn niemand beobachtet hatte, drehte er sich ruhig um und verließ den Angelplatz. Den Kescher, der als Beweisstück gegen ihn verwandt werden könnte, nahm er zu seiner Sicherheit mit.

Zu diesem Zeitpunkt bewegte sich die Pose mit dem Knicklicht in Zickzack-Linie über die ruhige Wasseroberfläche, bevor der Aal sie mit einem Ruck unter Wasser zog. Er hatte sich am Haken festgebissen und niemand war da, ihn zu erlösen.

2. Kapitel

Auf Zehenspitzen schlich ich vom Schlafzimmer die Treppe hinunter zum Hausflur und von dort in den Keller, um meine Laufschuhe zu holen.

Bereits im Schlafzimmer hatte ich möglichst geräuschlos meine Laufbekleidung angezogen. Meine Frau, mit der ich bereits über dreißig Jahre verheiratet war, sollte weiterschlafen können. Laut Wetterbericht sollten die Temperaturen in der Nacht erstmals unter 10 Grad gesunken sein. Ich hatte daher lange Leggings und ein wärmendes Laufshirt mit langem Arm ausgewählt. Nochmals hoch zum Schlafzimmer und ein Blick zum Bett. Meine Frau schlief noch fest. Auf dem Rückweg würde ich beim Bäcker vorbeilaufen und Brötchen für das Frühstück mitbringen. Ich hegte insgeheim die Hoffnung, dass meine Frau bis dahin aufgewacht sei und mich köstlicher Kaffeeduft empfangen würde.

Nachdem ich die Schuhe wie immer sorgfältig geschnürt hatte, steckte ich noch zwei Euro für die Brötchen ein und zog leise die Haustüre hinter mir zu.

Auch wenn ich es erwartet hatte, war ich doch über die Kälte überrascht, die mich draußen empfing. Ein kurzer Druck auf die Stoppuhrtaste meiner Armbanduhr, und der Frühsport konnte beginnen.

Gestern war es spät geworden, und vielleicht hatte ich auch ein Glas Wein zu viel getrunken. Mit leichten Kopfschmerzen war ich recht früh aufgewacht. Einschlafen konnte ich nicht mehr. Ich hatte mich daher für eine früh-morgendliche Laufrunde in der Siegniederung entschieden. Joggen in frischer Luft würde bestimmt meine Kopfschmerzen vertreiben.

Der Weg führte mich durch die noch menschenleeren Wohnstraßen bis zum Hochwasserschutzdamm der Sieg. Von dem erhöhten Damm hatte ich einen weiten Blick über die herrliche Auenlandschaft. Über den Wiesen und Feldern hing noch ein leichter Nebelschleier, der sich jedoch in Kürze auflösen würde. Ich folgte dem Schutzdamm bis zur Höhe des Sportplatzes der Fortuna Müllekoven. Hier verließ ich den Damm und orientierte mich in Richtung Siegufer. Dort begann mein Rückweg über einen Feldweg entlang der Sieg.

Ich freute mich bereits auf einen Schlenker um den Sieglarer See, den ich fest eingeplant hatte. Ich liebte die morgendliche Stille und die noch unberührte Natur am See. Außerdem kam der weiche Boden dort meinen Gelenken zugute. Am Südost-Ufer hatte der See eine Furt, wo er mit der direkt vorbeifließenden Sieg verbunden war. Der Fluss führte heute nur mäßig Wasser, und der grobe Kies in der Furt war zwar nass, aber die Furt ohne Probleme passierbar.

Der See lag jetzt verträumt in der morgendlichen Stille vor mir. Lediglich die Enten gackerten bereits in den noch über den See liegenden Nebelschwaden. Im nördlichen Teil des Sees hatte sich der Nebel bereits vollständig gelichtet und die ersten Sonnenstrahlen brachen sich im spiegelglatten Wasser.

Ich war verschwitzt, und da ich mein Lauftempo beim Durchqueren der Furt gedrosselt hatte, wurde mir zunehmend kalt. Hätte ich doch nur ein noch dickeres Wintershirt angezogen, haderte ich mit mir.

Langsam erhöhte ich wieder mein Tempo, jedoch nur so viel, dass ich den Blick über den See genießen konnte, ohne Gefahr zu laufen, über einen Stein oder einer Wurzel zu straucheln. Ich befand mich inzwischen am nördlichen Ende des Sees und musste jetzt den direkten Uferweg verlassen. Noch ein kurzer Blick zum gegenüberliegenden Ufer. Dort ragen hohe Bäume und dichtes Springkraut in den Himmel. Aber es gab auch den ein oder anderen versteckten, kleinen Angelplatz, der nur von dieser Uferseite einzusehen war.

Zu dieser frühen, morgendlichen Herbstzeit hatte ich in der Vergangenheit nur selten einen Angler gesichtet. Doch heute schien sich ein Angler bereits in einer kleinen Bucht auf der gegenüberliegenden Uferseite eingerichtet zu haben. Der See war an dieser Stelle nicht sehr breit. Aus der Entfernung konnte ich daher recht gut verschiedene Gegenstände, wie einen Anglerstuhl und eine große Tasche erkennen. Vor der Bucht drehte ein Schwan seine Kreise. Hin und wieder steckte er seinen Kopf ins Wasser und entfernte sich langsam vom Ufer. Die Angelstelle schien verlassen zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass hier aktiv geangelt wurde.

Mein Gefühl sagte mir: Irgendetwas stimmte nicht. Meine Schritte verlangsamten sich, bis ich schließlich anhielt. Ich suchte das Ufer mit meinen Augen ab. Einen Angler konnte ich nirgendwo ausmachen. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, meinen Lauf fortzusetzen. Immer wieder strengte ich meine Augen an, um Details zu erkennen. Lag da nicht etwas Größeres im Wasser? Vielleicht ein Stück eines Baumstammes, das dort im Wasser vermoderte? Nein, ein Baumstamm war das nicht. Es schien fast so, als wenn zwei Füße und zwei Beine an Land lagen und der restliche Körper im Wasser. Konnte das womöglich ein Mensch sein?

Mit einem Male war ich mir sicher – dort lag jemand im Wasser.

Ich musste dorthin. Bestimmt war ich die einzige Person, die sich zu dieser Zeit am See aufhielt und helfen konnte. Meine Beine setzten sich augenblicklich in Bewegung und nahmen den unterbrochenen Lauf wieder auf. Nur mit dem Unterschied, dass mein Lauftempo jetzt wesentlich höher war. Ich geriet zunehmend ins Schwitzen. Die vorher noch empfundene Kälte war verschwunden.

Am Ende des Sees bog ich in einen kleinen Pfad ein, der zunehmend holpriger wurde. Große Steine wechselten sich mit dicken Ästen ab, die über den Pfad lagen. Der Weg forderte meine gesamte Aufmerksamkeit, um nicht hinzufallen. Hin und wieder schlugen Äste in mein Gesicht und hinterließen Kratzspuren, die durch den eindringenden Schweiß brannten. Auf den Weg zu achten und gleichzeitig nach oben zu schauen, um den Ästen auszuweichen, funktionierte nicht.

Plötzlich kam mir in den Sinn, dass ich wahrscheinlich Erste Hilfe leisten müsse, wenn dort ein Mensch im Wasser lag. Mein Tempo wurde schneller.

Wie lange lag mein Erste-Hilfe-Kurs bereits hinter mir. Vierzig Jahre oder noch länger? Zu meiner Führerscheinprüfung, so mit zwanzig oder einundzwanzig Jahren, hatte ich einen Kurs belegt, erinnerte ich mich. Von damals hatte ich bestimmt nichts mehr behalten. Stabile Seitenlage, wie war das noch? Allmählich stieg Panik in mir auf. Wie sollte ich helfen, wenn ich nicht mehr wusste, wie?

Inzwischen hatte ich das Nordufer des Sees passiert, ohne auf diesem Stück des Weges den See nochmals zu Gesicht bekommen zu haben. Der Weg wurde jetzt besser. Steine und Äste waren nicht mehr vorhanden, dafür säumten die hohen Stängel des drüsigen Springkrautes den Wegrand und der Weg wurde schmaler. Der nächtliche Tau hatte ihn stellenweise sehr rutschig gemacht und ich konzentrierte mich weiterhin auf meine Schritte.

Irgendwo war hier die Angelstelle. Als ich um eine Wegbiegung lief, erreichte ich einen breiten Wanderweg. Nein, hier war ich auf dem falschen Weg. Ich war bestimmt an der Angelstelle vorbei gelaufen.

Ich drehte mich um und ging jetzt langsam zurück, den Blick immer nach rechts zum See gerichtet.

Dann sah ich einige Meter vor mir die gesuchte Stelle. Das Springkraut war niedergetreten, und als ich zwischen das Springkraut trat, lag der See vor mir. Ich stand schwitzend inmitten der hochragenden Stängel des asiatischen Krautes, dessen süßlicher Duft mir in die Nase stieg und mich zum Niesen reizte.

Im Unterbewusstsein nahm ich wahr, dass am Ufer ein umgekippter Anglerstuhl und ein ebenfalls umgekippter Anglerkoffer lagen. Der Inhalt war über den gesamten Angelplatz verteilt. Mehrere Flaschen Kölsch lagen verstreut umher. Wie es den Anschein hatte, waren alle leer.

Dann fiel mein Blick auf zwei große Stiefel, die aus dem Wasser ragten. Die restliche dazugehörige Gestalt lag völlig unter Wasser. Ihre Kleidung war vom Wasser aufgebläht. Der Körper wirkte dadurch westlich kompakter, als er wahrscheinlich tatsächlich war. Es war ein Mann, der auf dem Rücken im Wasser lag. Das Gesicht konnte ich nicht genau erkennen.

Aufgeregt lief ich die letzten Meter bis zum Wasser. Meine Füße stießen dabei gegen einige der vielen umherliegenden Gegenstände.

Ich beugte mich zu der reglos im Wasser liegenden Gestalt hinunter. Zwei leblose Augen starrten mich an. Das Gesicht strahlte eine gewisse Überraschung oder vielleicht auch Ärger aus. Angst konnte ich nicht erkennen. Die Haut wirkte aufgeschwemmt und es schien, als ob alles Leben aus dem Gesicht gewichen war und einem farblosen, leicht bläulichen Schimmer Platz gemacht hatte. Womöglich lag der Mann bereits länger im Wasser. Die Arme waren vom Körper abgewinkelt, als ob er die Balance im Wasser suchte.

Mir war schlagartig klar: Hier kam jegliche Erste-Hilfe zu spät. Der Mann war tot.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, der nicht von der morgendlichen Frische herrührte. Was sollte, nein, was musste ich jetzt unternehmen?

Natürlich, die Polizei informieren. Aber wie? Ein Handy hatte ich wieder einmal nicht dabei. Ich ärgerte mich darüber. Wie oft hatte meine Frau zu mir gesagt: „Nimm dein Handy mit. Du weißt nie, was passiert. Vielleicht verletzt du dich. Dann kannst du mich wenigstens anrufen, und ich kann dich mit dem PKW holen.“

Vorsichtig bewegte ich mich in Richtung des Weges zurück. Ich wollte mit keinem Fuß gegen einen der umherliegenden Gegenstände oder Flaschen stoßen.

Es gab nur eine Möglichkeit. Ich musste so schnell wie möglich nach Hause laufen und von dort die Polizei informieren. Mir war klar, dass ich dieses Vorgehen der Polizei gegenüber ausführlich erklären musste. Darüber wollte ich mir im Augenblick keine weiteren Gedanken machen. Womöglich traf ich aber auch einen Spaziergänger, der sein Handy dabei hatte, und der die Polizei anrufen könnte. Ich wählte die Richtung bis zu dem breiten Wanderweg, bis zu dem ich kurz vorher bereits gelaufen war. Von dort führte der Weg direkt zum Siegdamm hoch. Immer wieder schaute ich umher, aber niemand war zu dieser frühen Zeit am Sonntagmorgen unterwegs.

Ich lief weiter bis zu den ersten Häusern der „Schwarzen Kolonie“ im Ortsteil Friedrich-Wilhelms-Hütte. Ihren Namen verdankt sie den schwarzen Dachziegeln der Häuser, die Louis Mannstaedt um 1912 für seine Arbeiter bauen ließ. In den letzten Jahrzehnten hatten die Bewohner die Häuser liebevoll restauriert. Seit längerer Zeit standen sie unter Denkmalschutz.

An diesem Sonntagmorgen wirkten die Häuser noch verschlafen, und die engen Straßen waren menschenleer. Lediglich einem älteren Mann mit seinem Hund begegnete ich. Leider hatte er kein Handy dabei und wie er sagte, wohnte er fünfzehn Minuten von hier entfernt. Also auch keine Hilfe.

Sollte ich irgendwo an einer Haustüre klingeln? Da es nur noch fünfhundert Meter bis zu mir nach Hause waren, entschied ich mich dagegen. Die wenigen Minuten, die ich bis nach Hause noch benötigte, würden am Sachverhalt nichts ändern.

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Völlig außer Puste und erschöpft drückte ich den Klingelknopf bei mir zu Hause. Natürlich hatte ich wie immer keinen Haustürschlüssel dabei. Gleichzeitig fiel mir plötzlich völlig unpassend ein, dass ich die Brötchen vergessen hatte.

„Wie siehst du denn aus. Du bist ja total fertig“, empfing mich meine Frau, als sie mir die Haustüre öffnete.

„Da kannst du sicher sein. Ich bin fertig. Am See liegt ein Toter – ertrunken“, stammelte ich außer Atem.

„Ich rufe die Polizei an!“ und schon eilte ich durch den Flur ins Wohnzimmer zum Telefon.

Meine Frau stand wie versteinert im Hausflur und sah entgeistert hinter mir her.

Als ich den Telefonhörer ans Ohr hielt und mich umdrehte, sah ich, dass meine dreckigen Laufschuhe Spuren auf den Fliesen im Flur und auf dem Teppich im Wohnzimmer hinterlassen hatten.

Ich wählte die Notrufnummer 110. Es meldete sich ein Mann mit einer freundlichen Stimme, der fragte, wie er mir helfen könne. Als Erstes nannte ich meinen Nachnamen. Vor Aufregung fiel mir fast mein Vorname nicht ein, den ich nach einem tiefen Atemzug hinzufügte.

Meine Frau stand inzwischen neben mir und hörte mit fragendem Blick zu, was ich wohl dem Polizisten am anderen Ende der Leitung zu sagen hatte.

„Am Sieglarer See liegt ein Toter“, fuhr ich dann aufgeregt fort und musste nach diesem Satz erneut tief durchatmen.

„Ja, den habe ich gerade gefunden.“

„Nein, ich kann nicht dort bleiben, weil ich schon wieder zu Hause bin.“

„Ja, ich habe den See verlassen. Ich konnte sie von dort nicht anrufen, da ich kein Handy dabei hatte.“ „Nein, ich bin kein Spaziergänger, ich bin Jogger. Auf meiner Runde am See entlang habe ich den Toten gefunden.“

„Nein, ohne Zweifel, der Mann ist tot.“

„Was, ich soll wieder zum See zurück? Ich bin total kaputt. Ich kann nicht nochmals dorthin laufen.“

„Ja, natürlich habe ich ein Auto.“

„Ja, okay, ich fahre zum Parkplatz und gehe dann das letzte Stück bis zum See.“

„Bis dann. Ich fahre sofort los“, beendete ich den Dialog.

„Du musst wieder zum See?“, fragte meine Frau, als ich den Hörer aufgelegt hatte.

„Was ist denn eigentlich geschehen?“

„Ich habe am See einen toten Angler gefunden. Ich muss noch einmal zum See. Die Polizei erwartet mich dort. Vielleicht kann ich dir später mehr erzählen, wenn ich wieder zurück bin – aber das kann bestimmt einige Zeit dauern. Warte nicht mit dem Frühstück auf mich. Oder willst du vielleicht mitfahren?“

„Um Himmels willen, nein. Ich mag diese Aufregung am frühen Morgen nicht“, rief sie mir hinterher, denn ich war bereits auf dem Weg zur Garage.

Meine Gedanken schwirrten durcheinander.

„Ein Toter am See. Ein Unfall? – oder vielleicht auch nicht?“

Und ich war mitten drin, in den Ereignissen.

3. Kapitel

Kriminalhauptkommissar Frank Eisenstein stand in der Mitte des Wohnzimmers. Noch war der Raum leer. Während er sich um sich selbst drehte, füllte sich der Raum in seiner Vorstellung mit Mobiliar und harmonischen Accessoires. Bereits jetzt empfand er eine heimelige Atmosphäre. Der Makler hatte ihm diese Wohnung in Troisdorf-Bergheim wärmstens empfohlen, und auch der Mietpreis war für den Großraum Bonn durchaus angenehm. Die Wohnung gefiel ihm recht gut. Nur mit dem Gedanken, künftig in diesem beschaulichen Ort zu wohnen, konnte er sich noch nicht abfinden. Von der Großstadt in einen kleinen Stadtteil von Troisdorf zu ziehen, auch wenn es nur wenige Autominuten bis Bonn waren, war ein Schritt, der gut überlegt sein musste.

Eisenstein war vor zwei Monaten nach Bonn versetzt worden. Ein Grund für Eisensteins Versetzung war nicht allein die Beförderung zum Kriminalhauptkommissar und der damit verbundenen Besoldung nach A 12 des Bundesbesoldungsgesetzes gewesen, sondern vor Allem wollte er mit seiner Freundin zusammenleben.

Im Frühjahr lernte er Inka bei einem Türkeiurlaub kennen. Kurze schwarze Haare und als Anfang-Vierzigerin eine tadellose Figur waren die Kriterien, die Eisenstein zuerst ins Auge gefallen waren. Nachdem sie sich kennen gelernt hatten, war er mehr und mehr von ihrer Ausstrahlung, ihrer ansteckenden Fröhlichkeit und auf der anderen Seite von der Ernsthaftigkeit der Gespräche, die er mit ihr führen konnte, angetan. Aus dem anfänglichen Urlaubsflirt wurde mehr. Der Altersunterschied von etwas mehr als zehn Jahren störte beide nicht. Sie liebten und respektierten sich. Eisenstein hätte nicht erwartet, dass er nach seiner zweiten Scheidung vor vier Jahren nochmals zu einer Beziehung fähig war. Inka war eine einfühlsamere Frau, als seine beiden Frauen vorher. Sie akzeptierte es, dass ihr Freund berufsbedingt wenig und unregelmäßig Freizeit hatte. Ihm hingegen war klar, dass Inka nicht ihre Stelle bei der Stadt Bonn aufgeben und zu ihm nach Duisburg ziehen würde. Daher war der Anfang ihrer Beziehung auf die Wochenenden beschränkt, an denen sie sich abwechselnd bei ihm oder in ihrer Wohnung in Bonn-Pützchen, einem kleinen rechtsrheinischen Vorort von Bonn, trafen.

Eine Wochenendbeziehung war auf Dauer für beide nicht akzeptabel. Aus diesem Grund wollten sie in näherer Zukunft irgendwann zusammenziehen.

Die freiwerdende Stelle im Kommissariat Bonn kam ihm gerade recht. Binnen eines Monates wurde sein Versetzungsantrag bewilligt, und seitdem wohnte er bei seiner Freundin. Da die Wohnung gerade einmal 55 qm groß war, galt es als nächsten Schritt eine für beide Seiten akzeptable Wohnung zu finden. Leider hatten sie gegensätzliche Vorstellungen von der Lage einer gemeinsamen Wohnung. Inka bevorzugte die ländliche Gegend, wohingegen er ein Stadtmensch war. Mehrere gute Wohnungsangebote hatten sie inzwischen ausgeschlagen. Er bezweifelte bereits, ob sie jemals übereinkommen würden. Die Vororte von Bonn und die Städte und Gemeinden im Rhein-Sieg-Kreis, die er bisher kennen gelernt hatte, wirkten auf ihn kleinstädtisch, ja fast dörflich. Er würde wohl über kurz oder lang in den sauren Apfel beißen müssen und eine Wohnung in irgendeinem Nest akzeptieren.

Während Eisenstein noch mit sich rang, ob er mit der Lage dieser Wohnung klarkommen würde, war seine Freundin bereits Feuer und Flamme, als sie das Haus gesehen und den ersten Rundgang durch die Räume unternommen hatte. Nur noch drei weitere Mieter im Haus und diese Parterrewohnung mit großer Terrasse und freiem Zugang zum angrenzenden Rasen, auf dem einige große Bäume im Sommer angenehmen Schatten spenden würden, war ihre Idealvorstellung von einer Mietwohnung. Außerdem lag das Naherholungsgebiet der Siegaue direkt vor ihrer Haustüre.

Inka führte ein angeregtes Gespräch mit dem Makler. Eisenstein schlenderte in Gedanken vertieft durch den Raum. Sein Handy klingelte. Mehrmals ignorierte er den nervigen Klingelton. Letztendlich griff er dann doch in seine Jackentasche und holte das Handy hervor.

Bereits im Display sah er, dass es seine Dienststelle war. Seine träumerischen Vorstellungen von einer gemütlichen Wohnung lösten sich in Nichts auf, und die Realität hatte ihn wieder. Er hasste es, wenn sich seine Kollegen in seiner Freizeit meldeten, denn das hieß meistens, dass er seine privaten Aktivitäten unterbrechen und unverzüglich seinen Dienst aufnehmen musste. Und so war es wahrscheinlich auch heute.