1.

Inhaltsverzeichnis

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich. –

Im Hause der Oblonskiy herrschte allgemeine Verwirrung. Die Dame des Hauses hatte in Erfahrung gebracht, daß ihr Gatte mit der im Hause gewesenen französischen Gouvernante ein Verhältnis unterhalten, und ihm erklärt, sie könne fürderhin nicht mehr mit ihm unter einem Dache bleiben. Diese Situation währte bereits seit drei Tagen und sie wurde nicht allein von den beiden Ehegatten selbst, nein auch von allen Familienmitgliedern und dem Personal aufs Peinlichste empfunden. Sie alle fühlten, daß in ihrem Zusammenleben kein höherer Gedanke mehr liege, daß die Leute, welche auf jeder Poststation sich zufällig träfen, noch enger zu einander gehörten, als sie, die Glieder der Familie selbst, und das im Hause geborene und aufgewachsene Gesinde der Oblonskiy.

Die Herrin des Hauses verließ ihre Gemächer nicht, der Gebieter war schon seit drei Tagen abwesend. Die Kinder liefen wie verwaist im ganzen Hause umher, die Engländerin schalt auf die Wirtschafterin und schrieb an eine Freundin, diese möchte ihr eine neue Stellung verschaffen, der Koch hatte bereits seit gestern um die Mittagszeit das Haus verlassen und die Köchin, sowie der Kutscher hatten ihre Rechnungen eingereicht.

Am dritten Tage nach der Scene erwachte der Fürst Stefan Arkadjewitsch Oblonskiy – Stiwa hieß er in der Welt – um die gewöhnliche Stunde, das heißt um acht Uhr morgens, aber nicht im Schlafzimmer seiner Gattin, sondern in seinem Kabinett auf dem Saffiandiwan. Er wandte seinen vollen verweichlichten Leib auf den Sprungfedern des Diwans, als wünsche er noch weiter zu schlafen, während er von der andern Seite innig ein Kissen umfaßte und an die Wange drückte. Plötzlich aber sprang er empor, setzte sich aufrecht und öffnete die Augen.

»Ja, ja, wie war doch das?« sann er, über seinem Traum grübelnd. »Wie war doch das? Richtig; Alabin gab ein Diner in Darmstadt; nein, nicht in Darmstadt, es war so etwas Amerikanisches dabei. Dieses Darmstadt war aber in Amerika, ja, und Alabin gab das Essen auf gläsernen Tischen, ja, und die Tische sangen: ›Il mio tesoro‹ – oder nicht so, es war etwas Besseres, und gewisse kleine Karaffen, wie Frauenzimmer aussehend,« – fiel ihm ein.

Die Augen Stefan Arkadjewitschs blitzten heiter, er sann und lächelte. »Ja, es war hübsch, sehr hübsch. Es gab viel Ausgezeichnetes dabei, was man mit Worten nicht schildern könnte und in Gedanken nicht ausdrücken.« Er bemerkte einen Lichtstreif, der sich von der Seite durch die baumwollenen Stories gestohlen hatte und schnellte lustig mit den Füßen vom Sofa, um mit ihnen die von seiner Gattin ihm im vorigen Jahr zum Geburtstag verehrten gold-und saffiangestickten Pantoffeln zu suchen; während er, einer alten neunjährigen Gewohnheit folgend, ohne aufzustehen mit der Hand nach der Stelle fuhr, wo in dem Schlafzimmer sonst sein Morgenrock zu hängen pflegte.

Hierbei erst kam er zur Besinnung; er entsann sich jäh wie es kam, daß er nicht im Schlafgemach seiner Gattin, sondern in dem Kabinett schlief; das Lächeln verschwand von seinen Zügen und er runzelte die Stirn.

»O, o, o, ach,« brach er jammernd aus, indem ihm alles wieder einfiel, was vorgefallen war. Vor seinem Innern erstanden von neuem alle die Einzelheiten des Auftritts mit seiner Frau, erstand die ganze Mißlichkeit seiner Lage und – was ihm am Peinlichsten war – seine eigene Schuld.

»Ja wohl, sie wird nicht verzeihen, sie kann nicht verzeihen, und am Schrecklichsten ist, daß die Schuld an allem nur ich selbst trage – ich bin schuld – aber nicht schuldig! Und hierin liegt das ganze Drama,« dachte er, »o weh, o weh!« Er sprach voller Verzweiflung, indem er sich alle die tiefen Eindrücke vergegenwärtigte, die er in jener Scene erhalten.

Am unerquicklichsten war ihm jene erste Minute gewesen, da er, heiter und zufrieden aus dem Theater heimkehrend, eine ungeheure Birne für seine Frau in der Hand, diese weder im Salon noch im Kabinett fand, und sie endlich im Schlafzimmer antraf, jenen unglückseligen Brief, der alles entdeckte, in den Händen. Sie, die er für die ewig sorgende, ewig sich mühende, allgegenwärtige Dolly gehalten, sie saß jetzt regungslos, den Brief in der Hand, mit dem Ausdruck des Entsetzens, der Verzweiflung und der Wut ihm entgegenblickend.

»Was ist das?« frug sie ihn, auf das Schreiben weisend, und in der Erinnerung hieran quälte ihn, wie das oft zu geschehen pflegt, nicht sowohl der Vorfall selbst, als die Art, wie er ihr auf diese Worte geantwortet hatte.

Es ging ihm in diesem Augenblick, wie den meisten Menschen, wenn sie unerwartet eines zu schmählichen Vergehens überführt werden. Er verstand nicht, sein Gesicht der Situation anzupassen, in welche er nach der Entdeckung seiner Schuld geraten war, und anstatt den Gekränkten zu spielen, sich zu verteidigen, sich zu rechtfertigen und um Verzeihung zu bitten oder wenigstens gleichmütig zu bleiben – alles dies wäre noch besser gewesen als das, was er wirklich that – verzogen sich seine Mienen (»Gehirnreflexe« dachte Stefan Arkadjewitsch, als Liebhaber von Physiologie) unwillkürlich und plötzlich zu seinem gewohnten, gutmütigen und daher ziemlich einfältigen Lächeln.

Dieses dumme Lächeln konnte er sich selbst nicht vergeben. Als Dolly es gewahrt hatte, erbebte sie, wie von einem physischen Schmerz, und erging sich dann mit der ihr eigenen Leidenschaftlichkeit in einem Strom bitterer Worte, worauf sie das Gemach verließ. Von dieser Zeit an wollte sie ihren Gatten nicht mehr sehen.

»An allem ist das dumme Lächeln schuld,« dachte Stefan Arkadjewitsch. »Aber was soll ich thun, was soll ich thun?« frug er voll Verzweiflung sich selbst, ohne eine Antwort zu finden.

7.

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In Moskau mit dem Morgenzug angekommen, blieb Lewin bei seinem ältesten Bruder Koznyscheff. Nachdem er sich umgekleidet, begab er sich zu diesem ins Kabinett, entschlossen, ihm unverweilt zu berichten, zu welchem Zwecke er angekommen sei und seinen Rat zu erbitten.

Aber sein Bruder war nicht allein. Bei ihm befand sich ein berühmter Professor der Philosophie, der aus Charkoff eigens deshalb gekommen war, um Zweifel, die beiden über eine sehr wichtige philosophische Frage aufgetaucht waren, aufzuklären.

Der Professor führte eine sehr scharfe Polemik gegen die Materialisten und Sergey Koznyscheff war mit Interesse dieser Polemik gefolgt. Nachdem er den letzten Artikel des Professors gelesen hatte, teilte er demselben brieflich seine Einwendungen mit und machte ihm Vorwürfe, daß er den Materialisten viel zu große Konzessionen gemacht habe. Der Professor war nun sogleich selbst erschienen, um sich mit dem Briefschreiber auszusprechen.

Das Thema drehte sich um eine moderne Frage: Giebt es eine Grenze zwischen den psychologischen und physiologischen Offenbarungen in der Thätigkeit des Menschen, und wo liegt sie?

Sergey Iwanowitsch begrüßte seinen Bruder mit dem ihm eigenen vor jedermann angenommenen kaltfreundlichen Lächeln und fuhr, nachdem er denselben mit dem Professor bekannt gemacht hatte, in seinem Gespräch fort.

Der kleine Herr in der Brille mit der schmalen Stirn ließ einen Augenblick das Gespräch fallen, um den Angekommenen zu begrüßen und setzte dann das Gespräch fort, ohne Lewin weitere Aufmerksamkeit zu widmen. Lewin saß erfüllt von der Erwartung, daß der Professor sich entfernen möchte, aber bald begann er sich selbst für den Gegenstand der Unterhaltung zu interessieren.

Lewin hatte in den Journalen die Artikel gefunden, um die es sich hier handelte und sie gelesen, von ihnen angezogen als von einer Entwickelung ihm bekannter Dinge. Er hatte auf der Universität die Fundamente der Naturwissenschaften studiert, sich aber nie mit diesen wissenschaftlichen Ausführungen über die Entstehung des Menschen als eines lebenden Wesens, über die Reflexe, über Biologie und Sociologie näher beschäftigt, mit jenen Fragen über die Bedeutung des Lebens und des Todes für ihn selbst, die ihm in der jüngsten Zeit öfters in den Sinn gekommen waren.

Beim Anhören der Unterredung des Bruders mit dem Professor bemerkte er, daß sie wissenschaftliche Fragen mit subjektiven verbanden. Mehrmals näherten sie sich jenen Fragen, aber jedes Mal, wenn sie nahe an den Hauptpunkte waren, wie ihm schien, entfernten sie sich sogleich wieder davon und versenkten sich wieder in das Gebiet feinster Unterscheidungen, Verteidigungen, Citate, Fingerzeige und Verweise auf Autoritäten, und nur schwer vermochte er noch zu erkennen, wovon eigentlich die Rede war.

»Ich kann nicht zugeben,« sagte Sergey Iwanowitsch mit seiner gewöhnlichen Klarheit und Präzision des Ausdruckes und Eleganz der Diktion, »ich kann keinenfalls mit Keis darin übereinstimmen, daß meine gesamte Vorstellung von der äußeren Welt aus den Eindrücken hervorgehen sollte. Die elementarste Vorstellung vom Sein wird von mir nicht durch die Empfindung erworben, denn es ist gar kein besonderes Organ für die Wiedergabe dieser Vorstellung vorhanden.«

»Ja wohl, aber Wurst und Knaust und Pripasoff würden dem entgegenhalten, daß Euer Daseinsbewußtsein aus der Vereinigung aller Empfindungen hervorgeht, daß dieses Existenzbewußtsein das Resultat der Gefühle ist. Wurst spricht sogar unverhohlen aus, daß wo nicht Gefühl vorhanden sei, auch das Verständnis für das Sein fehle.«

»Ich würde dem gegenüber behaupten« – begann Sergey Iwanowitsch.

Hier schien es Lewin wiederum, als ob sie, der Hauptfrage nahe gekommen, sich von neuem von ihr entfernten, und so entschloß er sich, dem Professor eine Frage vorzulegen.

»Es könnte demzufolge, wenn mein Gefühl vernichtet ist, wenn mein Körper stirbt, keine Existenz mehr geben?« warf er ein.

Der Professor blickte verdrießlich und gewissermaßen mit einem geistigen Schmerzgefühl über die Unterbrechung auf nach dem seltsamen Frager hinüber, der eher einem Riesen ähnlich sah, als einem Philosophen, und richtete dann das Auge auf Sergey Iwanowitsch als wolle er fragen, was man eigentlich hierauf antworten könne.

Sergey Iwanowitsch, der bei weitem nicht mit der nämlichen Anstrengung und Einseitigkeit sprach, wie der Professor, und in dessen Kopfe noch Spielraum genug übrig war, dem Professor mit Erwiderungen zu dienen, und zugleich auf diesen einfachen und natürlichen Gesichtspunkt einzugehen, von welchem aus diese Frage gestellt war, lächelte und sagte:

»Diese Frage zu entscheiden besitzen wir kein Recht« –

»Wir haben keine Unterlagen dafür,« bestätigte der Professor, und setzte seine Ausführungen fort.

»Nein,« sagte er, »ich verweise darauf, daß, wenn, wie Pripasoff offen sagt, die Empfindung zu ihrem Fundamente den Eindruck hat, wir diese beiden Begriffe auch streng voneinander scheiden müssen.«

Lewin hörte nun nicht weiter zu, sondern wartete nur noch, bis der Professor sich verabschieden würde.

12.

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Die junge Fürstin Kity Schtscherbazkaja zählte achtzehn Sommer. Im vergangenen Winter war sie zum erstenmal in der Öffentlichkeit erschienen und ihre Erfolge in der großen Welt waren größer, als diejenigen ihrer beiden älteren Schwestern, größer als die Fürstin selbst erwartet hatte.

Wenn schon die jungen Männer, die auf den Moskauer Bällen tanzten, fast sämtlich in Kity verliebt waren, hatten sich dieser bereits im Lauf der ersten Saison auch zwei ernste Partieen eröffnet, Lewin, und sogleich nach dessen Abreise der Graf Wronskiy.

Das Erscheinen Lewins zu Beginn des Winters, seine häufigen Besuche und seine offenbare Liebe zu Kity waren der Anlaß zu den ersten ernsten Auseinandersetzungen der Eltern Kitys über deren Zukunft, und zu Streitigkeiten zwischen dem Fürsten und der Fürstin.

Der Fürst war auf seiten Lewins; er sagte, daß er für Kity keine bessere Partie wünschen könne; die Fürstin aber, mit der den Frauen eigenen Gewohnheit, die Hauptfrage zu umgehen, war der Ansicht, daß Kity noch viel zu jung sei, Lewin noch in keiner Hinsicht bewiesen habe, daß er ernste Absicht hege, daß Kity keine Neigung zu ihm empfinde c.; die Hauptsache aber sagte sie nicht, nämlich; daß sie auf eine noch bessere Partie für die Tochter warte, und daß Lewin ihr nicht sympathisch war, daß sie ihn nicht verstehe. Als Lewin unerwartet abgereist war, freute sich die Fürstin und sagte triumphierend zu ihrem Gemahl: »Siehst du, ich hatte recht.«

Nachdem Wronskiy erschienen war, geriet sie noch mehr in Freude, in ihrer Meinung bestärkt, Kity müsse nicht einfach nur eine gute Partie machen, sondern eine glänzende.

Für die Mutter gab es gar keine Möglichkeit einer Parallele zwischen Lewin und Wronskiy. Der Mutter gefielen an Lewin dessen seltsame, entschiedene Urteile nicht, seine Plumpheit in der vornehmen Welt, die sich, wie sie annahm, auf Stolz gründete und sein nach ihren Begriffen gleichsam wildes Leben auf dem Dorfe mit seinen Beschäftigungen in der Viehzucht, seinem Verkehr mit den Bauern. Auch dies gefiel ihr nicht sehr, daß er, obwohl in ihre Tochter verliebt, anderthalben Monat hindurch ihr Haus besuchte, als erwarte er etwas; ausschaute, als fürchte er, eine zu große Ehre zu erweisen, wenn er mit einem Antrag käme und nicht begriff, daß man sich erklären müsse, wenn man ein Haus besuche, dessen Tochter heiratsfähig war. Plötzlich, ohne sich zu erklären, war er abgereist.

»Nur gut, daß er nicht zu sehr anziehend gewesen ist, daß Kity sich nicht in ihn verliebt hat,« dachte die Mutter.

Wronskiy hingegen entsprach allen Wünschen derselben. Er war sehr reich, klug, wissend, im Begriff, eine glänzende militärische Hofcarriere zu machen, ein verführerischer Mann. Man konnte keine bessere Partie wünschen.

Auf den Bällen bewarb sich Wronskiy offen um Kith; tanzte mit ihr, besuchte das Elternhaus und es schien wohl kaum an dem Ernste seiner Absichten ein Zweifel obzuwalten. Aber nichtsdestoweniger hatte sich die Mutter den ganzen Winter hindurch in einem Zustande seltsamer Unruhe und Erregung befunden.

Die Fürstin selbst war vor dreißig Jahren, auf die Werbung einer Tante hin in den Stand der Ehe getreten. Ihr Bräutigam, den man schon von vornherein recht wohl kannte, hatte die Braut erblickt, man hatte auch ihn gesehen, die Tante hatte alles erkannt und die wechselseitigen Eindrücke mitgeteilt; diese lauteten günstig und an einem vorherbestimmten Tage wurde den Eltern die erwartete Erklärung gemacht und von ihnen acceptiert. Das alles war äußerst leicht und einfach vor sich gegangen; wenigstens schien es der Fürstin so. Aber an ihren Töchtern hatte sie erfahren, daß es gar nicht so leicht und einfach sei, was so gewöhnlich schien, das Unternehmen, Töchter zu verheiraten. Wie viel Befürchtungen wurden da nicht durchlebt, wie viel Gedanken durchdacht, wie viel Geld verloren, wie viel Zusammenstöße gab es mit ihrem Manne betreffs der Aussteuer der beiden ältesten Töchter, Darjas und Natalys. Jetzt, bei dem ersten Auftreten der jüngsten, durchlebte man die nämlichen Befürchtungen, die nämlichen Zweifel, den nämlichen Streit, diesen aber nur noch größer, als er es bei den älteren Töchtern gewesen war.

Der alte Fürst war, wie alle Väter, besonders feinfühlig in Bezug auf die Ehre und Makellosigkeit seiner Töchter; er war rücksichtslos eifersüchtig auf diese und namentlich auf Kity, die sein Liebling war. Auf jeden Schritt hin verursachte er der Fürstin Scenen, weil sie die Tochter kompromittiert haben sollte. Die Fürstin hatte sich daran gewöhnt, schon von ihren älteren Töchtern her, jetzt aber fühlte sie, daß die Empfindlichkeit des Fürsten eine tiefere Berechtigung besaß.

Sie bemerkte recht wohl, daß sich in den letzten Zeiten vieles in den Manieren der Gesellschaft verändert hatte, daß die Pflichten einer Mutter schwierigere geworden waren. Sie sah, daß die Altersgenossinnen Kitys Cirkel hielten, sich an Kursen beteiligten, freier mit der Männerwelt verkehrten, allein ausfuhren, vielfach nicht mehr knicksten, und, was die Hauptsache war, die feste Überzeugung besaßen, daß die Wahl eines Zukünftigen nur ihre Sache sei, nicht diejenige der Eltern.

»Man giebt uns heutzutage nicht mehr den Männern in die Ehe, wie ehemals,« dachten und sagten alle diese Mädchen und selbst auch alle älteren Leute. Aber wie verheiratet man sie denn dann heutzutage? Die Fürstin fand bei niemand Aufschluß darüber. Die französische Sitte, den Eltern das Geschick der Kinder in die Hände zu legen, war nicht üblich, sie wurde verurteilt. Die englische Sitte, der Tochter völlige Freiheit zu lassen, war ebenfalls nicht in Aufnahme und in der russischen Gesellschaft überhaupt undenkbar. Die russische Sitte der Freiwerbung wurde als unfein betrachtet, jedermann lachte jetzt über sie, die Fürstin selbst sogar; aber gleichwohl wußte niemand, auf welche Weise eine Tochter heiraten könne, und alle, mit denen die Fürstin über dieses Thema ins Gespräch kam, sagten ihr das Eine, man müsse eben in der gegenwärtigen Zeit Abstand nehmen vom Althergebrachten.

Daher müsse man die Jugend allein in die Ehe treten lassen, ohne der Eltern Geleit; vielleicht selbst die jungen Leute sich einrichten lassen, wie sie es verständen. Indessen so gut reden hatten nur diejenigen, welche keine Töchter besaßen, und die Fürstin wußte recht wohl, daß bei einer Annäherung ihre Tochter sich verlieben könne, in jemand verlieben, der sie gar nicht heiraten wollte, oder in jemand, der nicht zu ihrem Gatten taugte. So viel man denn daher der Fürstin zuredete, man müsse jetzt die Jugend sich selbst überlassen, vermochte diese doch nicht, dem Gehör zu schenken, ebenso wie sie nie geglaubt haben würde, daß zu irgend einer Zeit für fünfjährige Kinder geladene Pistolen als bestes Spielzeug gedient hätten. Aus diesem Grunde hegte die Fürstin um Kity mehr Besorgnisse, als dies bei ihren älteren Töchtern der Fall gewesen war.

Sie fürchtete jetzt, Wronskiy könnte sich vielleicht nicht nur damit begnügen, ihrer Tochter den Hof zu machen. Sie gewahrte, daß diese sich in den jungen Mann schon verliebt hatte, aber sie beruhigte sich damit, daß er doch ein Ehrenmann sei und deshalb das Befürchtete nicht thun werde.

Zu gleicher Zeit aber wußte sie auch, wie leicht es in der herrschenden Freiheit des Verkehrs sei, einem jungen Mädchen den Kopf zu verdrehen, und wie leicht die Männerwelt im allgemeinen auf ein solches Vergehen zu blicken pflege.

In der vergangenen Woche hatte Kity der Mutter ein Gespräch erzählt, welches sie mit Wronskiy während einer Mazurka gehabt hatte. Dieses Gespräch beruhigte die Fürstin zum Teil, aber vollständig nicht» Wronskiy hatte zu Kity gesagt, daß er und sein Bruder so gewöhnt wären, in allem ihrer Mutter sich unterzuordnen, daß sie niemals einen wichtigen Schritt zu unternehmen pflegten, ohne sie um Rat dabei gefragt zu haben.

»Auch jetzt warte ich, wie auf ein besonderes glückliches Ereignis, auf die Ankunft meiner Mutter aus Petersburg,« hatte er gesagt.

Kity erzählte dies, ohne den Worten eine Bedeutung beizulegen, aber die Mutter nahm das Gehörte anders auf. Sie wußte, daß man auf die alte Dame von Tag zu Tag warte, wußte, daß diese erfreut sein werde über die Wahl des Sohnes und es erschien ihr seltsam, daß er, in der Besorgnis vor seiner Mutter, nicht doch eine Erklärung machte. Gleichwohl aber wünschte sie den Ehebund sehr, und vor allem eine Beruhigung in ihren Besorgnissen, so daß sie dem Bericht Vertrauen schenkte.

So bitter wie es ihr auch jetzt war, das Unglück ihrer ältesten Tochter Dolly mit ansehen zu müssen, die sich vorbereitete, den Gatten zu verlassen, so erstickte jetzt doch die Erregung über das sich entscheidende Schicksal ihrer jüngsten Tochter alle anderen Gefühle.

Der heutige Tag hatte nun mit dem Erscheinen Lewins eine neue Sorge gebracht. Sie fürchtete, daß die Tochter, welche wie ihr schien, einmal für Lewin ein Ohr gehabt hatte, aus überspanntem Ehrgefühl Wronskiy abweisen, und daß überhaupt die Ankunft Lewins die Dinge, die so nahe der Entscheidung waren, verwickeln und aufhalten werde.

»Was will er, ist er schon seit Längerem hier angekommen?« frug die Fürstin bezüglich Lewins, als man nach Haus zurückkehrte.

»Heute, maman

»Ich möchte nur das Eine sagen,« begann die Fürstin, und an ihrem ernsten, erregten Gesicht erriet Kity, wovon die Rede sein werde.

»Mama,« begann sie, auffahrend und sich schnell nach der Mutter umwendend, »sprecht, ich bitte um alles, nicht davon: ich weiß, ich weiß alles!«

Sie wünschte dasselbe, was die Mutter wünschte, aber die Motive des Wunsches bei ihrer Mutter beleidigten sie.

»Ich will nur sagen, daß wenn du Einem Hoffnung gegeben hast« –

»Mama, meine Liebe, um Gottes willen, sprecht nicht. Es ist mir so entsetzlich, hiervon zu reden!«

»Ich werde nichts mehr sagen,« antwortete die Mutter, Thränen in den Augen ihrer Tochter bemerkend, »aber eins noch, mein Herzchen: du hast mir versprochen, vor mir kein Geheimnis haben zu wollen. Nicht so?«

»Niemals, Mama, ich werde nie eins haben,« antwortete Kity, errötend und offen ins Antlitz der Mutter blickend. »Aber ich habe jetzt nichts zu sagen – ich – wenn ich auch wollte – ich weiß nichts – was ich sagen sollte – ich weiß nichts.«

»Nein; mit diesen Augen kann man nicht die Unwahrheit sprechen,« dachte die Mutter, lächelnd auf ihres Kindes Erregung und Glück blickend. Die Fürstin lächelte darüber, daß ihm, dem armen Kinde alles das so ungeheuerlich und bedeutungsvoll erscheine, was jetzt in dessen Seele vor sich ging.

18.

Inhaltsverzeichnis

Wronskiy folgte dem Beamten zu dem Waggon; er blieb an dem Eingang ins Coupé stehen, um einer heraussteigenden Dame Raum zu geben.

Mit dem gewöhnlichen Takte des Weltmannes erkannte Wronskiy auf, den ersten Blick in dem Äußern der Dame, daß diese den höchsten Ständen angehörte. Er entschuldigte sich und trat dann in den Waggon, fühlte aber eine Versuchung in sich, nochmals ihr nachzublicken, nicht etwa deshalb, weil sie sehr schön gewesen wäre, nicht wegen ihrer vorzüglichen und decenten Grazie, die über der ganzen Figur lag, sondern deshalb, weil in dem Ausdruck ihrer wohlwollenden Züge, als sie an ihm vorübergeschritten war, etwas ausnehmend Freundliches und Mildes gelegen hatte.

Als er sich umwandte, drehte auch sie das Haupt rückwärts. Ihre glänzenden grauen Augen, die dunkel unter den dichten Wimpern hervorschauten, hafteten aufmerksam auf seinem Gesicht, als habe sie ihn erkannt, dann aber schweiften ihre Augen auf den vorüberwallenden Haufen, als suche sie jemand in diesem.

An diesem kurzen Blick hatte Wronskiy die zurückgehaltene Lebhaftigkeit bemerkt, die auf ihrem Antlitz lag und aus den blitzenden Augen sprühte, aus dem leisen Lächeln sprach, das ihre roten Lippen kräuselte. Etwas gleichsam Übermütiges schien ihr Wesen so zu erfüllen, daß es sich wohl wider ihren Willen bald im Glanz ihrer Augen, bald in ihrem Lächeln ausprägte. Sie schien absichtlich das Feuer ihrer Augen zu dämpfen, aber es leuchtete ihr zum Trotz dann aus dem kaum bemerkbaren Lächeln.

Wronskiy trat in den Waggon. Seine Mutter, eine alte hagere Dame mit schwarzen Augen und Locken, kniff die Augen zusammen, als sie den Sohn erblickte und kräuselte leicht die schmalen Lippen. Sie erhob sich vom Polster, übergab ihrer Zofe ein Beutelchen und reichte dem Sohne die kleine dürre Hand, worauf sie ihn, seinen Kopf mit der Hand hebend, küßte.

»Hast du mein Telegramm erhalten? Bist du Wohl? Gott sei Dank?«

»Glücklich angekommen?« antwortete der Sohn, sich neben sie setzend und unwillkürlich einer Damenstimme vor der Thür draußen lauschend. Er wußte, daß dies die Stimme jener Dame sei, die ihm bei seinem Eintritt begegnet war.

»Ich bin aber dennoch nicht mit Euch einverstanden,« sprach die Stimme jener Dame.

»Das ist so petersburgische Ansicht, Gnädigste!«

»Nicht eine petersburgische Ansicht, sondern ein Frauenblick,« antwortete sie.

»Nun, Ihr erlaubt doch – Eurer Hand einen Kuß« –

»Auf Wiedersehen, Iwan Petrowitsch. Aber seht doch einmal zu, ob nicht mein Bruder hier ist, und sendet ihn dann zu mir,« fuhr die Dame fort, dicht an der Thür stehend und alsdann aufs neue in das Coupé tretend.

»Nun, habt Ihr Euren Bruder angetroffen?« frug die Gräfin Wronskaja, sich an die Dame wendend.

Wronskiy erkannte jetzt, daß diese die Karenina sein müsse.

»Euer Bruder ist hier,« sagte er, sich erhebend. »Entschuldigt mich, ich habe Euch nicht erkannt, denn unsere Bekanntschaft war von so kurzer Dauer,« fuhr er fort, sie begrüßend, »daß Ihr Euch meiner wahrscheinlich nicht mehr entsinnen werdet.«

»O doch;« ich würde Euch erkannt haben, da ich mit Eurer Mama wohl die ganze Route über von Euch gesprochen habe,« antwortete sie, jetzt endlich ihrer Lebhaftigkeit die sich nach außen drängte, gestattend, in einem Lächeln zu erscheinen. »Aber mein Bruder ist doch wohl nicht hier?«

»Rufe ihn, Aljoscha,« sagte die alte Gräfin.

Wronskiy trat ans den Perron hinaus und rief: »Oblonskiy, hier!«

Karenina erwartete aber ihren Bruder nicht erst, sondern eilte, sobald sie seiner ansichtig geworden, mit schnellen leichten Schritten aus dem Waggon. Kaum war der Bruder an sie herangetreten, so umfing sie voll Gewandtheit und Grazie die Wronskiy frappierte, mit dem linken Arm seinen Hals, zog ihn schnell an sich und küßte ihn herzlich.

Wronskiy musterte sie, ohne den Blick von ihr wegzuwenden und lächelte, ohne zu wissen, weshalb. Doch, sich erinnernd, daß die Mutter ihn erwarte, trat er wieder in den Waggon.

»Nicht wahr, sie ist reizend?« frug ihn dieselbe. »Ihr Gatte hat sie in meine Gesellschaft gegeben und ich habe mich darüber sehr gefreut. Ich habe mich während der ganzen Fahrt mit ihr unterhalten. Du aber – sagt man nicht – vous filez le parfait amour. Tant mieux, mon cheri, tant mieux

»Ich weiß nicht, worauf Ihr hinzielt, maman,« antwortete der Sohn kühl. »Aber wollen wir jetzt gehen, maman

Die Karenina trat in diesem Augenblick nochmals in das Coupé, um sich von der Gräfin zu verabschieden.

»Nun Gräfin, Ihr habt den Sohn gefunden, ich den Bruder,« scherzte sie heiter, »meine Erzählungen wären nunmehr alle erschöpft, und weiter hatte ich nichts mehr zu berichten.«

»O nein,« versetzte die Gräfin, sie an der Hand nehmend, »mit Euch möchte ich rund um die Erde reisen und ich könnte mich nicht langweilen. Ihr seid eine von jenen lieben Frauen mit denen man gern spricht und gern schweigt. Aber an Euern Sohn denkt nicht, Ihr müßt Euch von ihm doch einmal trennen.« –

Karenina stand unbeweglich, sie hielt sich außerordentlich steif aufgerichtet und ihre Äugen lächelten.

»Anna Karenina,« begann die Gräfin, ihrem Sohne eine Erklärung gebend, »hat ein Söhnchen, von acht Jahren wohl, und sie möchte sich niemals von ihm trennen; es schmerzt sie nun, daß sie es hat verlassen müssen.«

»Ja, wir haben die ganze Zeit über nur von unseren Söhnen gesprochen,« sagte die Karenina, »die Gräfin von dem ihren, und ich von dem meinen,« und wieder spielte hell ein Lächeln über ihr Antlitz, ein schmeichelndes Lächeln, das ihm galt.

»Wahrscheinlich wird Euch dies sehr schmerzlich gewesen sein,« sagte er, im Fluge den koketten Blick auffangend, den sie ihm zuwarf. Sie schien indessen nicht gewillt zu sein, das Gespräch in dieser Weise weiterzuführen und wandte sich an die alte Gräfin:

»Ich danke Euch herzlich; ich selbst weiß nicht recht, wie mir der gestrige Tag verflogen ist; auf Wiedersehen denn, Gräfin.«

»Adieu, liebste Freundin,« versetzte die Gräfin, »laßt mich Euer liebes Gesichtchen küssen. Ich bin eine offenherzige alte Frau und sage es gerade heraus, daß ich Euch lieb gewonnen habe.«

So gedrechselt dieser Satz auch sein mochte, die Karenina glaubte diesen Worten offenbar und freute sich über sie. Sie errötete, verbeugte sich leicht und bot ihr Antlitz den Lippen der Gräfin, dann richtete sie sich wieder auf und gab mit jenem Lächeln, welches zwischen Augen und Lippen zu wechseln schien, Wronskiy die Hand. Er drückte das kleine ihm gebotene Händchen und freute sich, wie über etwas ganz Besonderes, über den energischen Gegendruck mit dem sie fest und unverhohlen antwortete.

Schnell schritt sie hierauf hinaus mit seltsamer Leichtigkeit die ziemlich volle Gestalt bewegend.

»Sehr lieb,« sagte die alte Gräfin.

Das Nämliche dachte ihr Sohn. Er begleitete sie mit seinen Augen so lange, wie ihre graziöse Figur sichtbar blieb, und ein Lächeln lag auf seinen Zügen.

Durch das Fenster sah er, wie sie sich zu ihrem Bruder begab, ihren Arm in den seinen legte und lebhaft mit ihm zu sprechen begann, augenscheinlich von einem Thema, das ihn selbst, Wronskiy, herzlich wenig betreffen mochte; dies aber war ihm fast ärgerlich.

»Nun, Mama, seid Ihr denn bei recht guter Gesundheit?« wiederholte er seine frühere Frage, sich wieder an die Mutter wendend.

»Es geht recht wohl, ausgezeichnet. Alexander war äußerst lieb und Marie ist sehr hübsch geworden; sehr interessant.«

Sie begann von neuem davon zu erzählen, daß sie vor allem in Anspruch genommen worden sei von der Taufe eines Enkels, zu welcher sie nach Petersburg zu dem ältesten ihrer Söhne gereist war.

»Da ist ja Laurenz,« sagte Wronskiy, durch das Fenster schauend, »jetzt können wir gehen, wenn du willst.«

Ein alter Diener, welcher mit der Gräfin gereist war, erschien im Coupé, um zu melden, daß alles bereit sei, und die Gräfin erhob sich, um zu gehen.

»Komm; jetzt sind nur noch wenig Personen auf dem Perron,« sagte Wronskiy.

Die Zofe ergriff das Arbeitsbeutelchen und den Schoßhund, der Diener und ein Träger das übrige Gepäck, und Wronskiy nahm seine Mutter am Arme; als sie bereits den Waggon verlassen hatten, kamen plötzlich einige Leute mit erschreckten Gesichtern an ihnen vorübergelaufen; auch der Stationschef erschien in seiner Mütze von auffallender Farbe. Augenscheinlich war etwas Ungewöhnliches vorgefallen; das Volk von dem Train kam zurück.

»Was giebt es denn! Was ist! – Es ist jemand unter den Zug geraten! – Er ist zerquetscht!« hörte man verschiedene Stimmen unter den Vorübereilenden.

Stefan Arkadjewitsch, die Schwester am Arme, und beide ebenfalls mit erschreckten Gesichtern, waren stehen geblieben und hatten sich das Volk vermeidend, nach dem Coupé zurückgewandt.

Die Damen traten wieder hinein, Wronskiy aber und Stefan Arkadjewitsch mischten sich unter die Menge, um Näheres über den Unglücksfall zu erfahren.

Ein Weichenwärter – mochte er berauscht oder vor der starken Kälte zu sehr vermummt gewesen sein – hatte den rückwärts sich bewegenden Zug nicht wahrgenommen, und war überfahren worden.

Noch bevor Wronskiy und Oblonskiy zurückgekehrt waren, hatten die Damen diese Einzelheiten schon von dem Diener erfahren.

Oblonskiy und Wronskiy sahen beide den unförmlich gewordenen Leichnam und der Erstere war augenscheinlich hiervon tief ergriffen. Er wurde traurig und schien fast in der Stimmung zu sein, Thränen zu vergießen.

»O, welches Entsetzen! Ach, Anna, hättest du das gesehen, o welch ein Unglück!« rief er aus.

Wronskiy schwieg; sein hübsches Gesicht war nur ernst, aber es blieb vollkommen ruhig.

»Hättet Ihr das gesehen, Gräfin,« fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, »auch sein Weib war dabei. Es war ein furchtbarer Anblick, dieses zu sehen. Es warf sich über den Toten; man sagt, er allein habe seine sehr zahlreiche Familie erhalten. Dies ist das Unglück!« –

»Kann man denn nicht etwas thun für die Frau?« frug die Karenina in aufgeregt flüsterndem Tone.

Wronskiy blickte sie an und verließ sogleich den Waggon.

»Ich werde sofort wiederkommen, maman,« sagte er, sich an der Thür nochmals umwendend.

Als er nach Verlauf mehrerer Minuten zurückkam; hatte sich Stefan Arkadjewitsch bereits mit der Gräfin über die neue Sängerin unterhalten, während diese gespannt nach der Waggonthür schaute, den Sohn erwartend.

»Jetzt wollen wir gehen,« sagte Wronskiy, hereintretend.

Sie gingen alle zusammen hinaus. Wronskiy ging voran mit seiner Mutter; hinter dieser Karenina mit ihrem Bruder. Am Eingang trat der Stationsvorsteher an Wronskiy heran? der von ihm eingeholt worden war.

»Ihr habt meinem Vertreter zweihundert Rubel eingehändigt. Wollt doch die Güte haben zu bestimmen, für wen das Geld ausgesetzt sein soll?«

»Der Witwe,« antwortete Wronskiy, die Achsel ziehend, »ich begreife nicht, wie darnach noch gefragt werden kann.«

»Ihr habt gegeben?« rief Oblonskiy hinten aus und fügte hinzu, die Hand der Schwester drückend: »Das ist doch charmant, charmant; er ist doch ein herrlicher Mensch, habe ich nicht recht? Meine Hochachtung, Gräfin!«

Er blieb mit der Schwester stehen, um deren Zofe ausfindig zu machen. Als sie hinaustraten, war der Wagen der Wronskiy schon abgefahren, die Leute unterhielten sich noch immer über den Unglücksfall, der sich soeben ereignet hatte.

»Es ist ein entsetzlicher Tod,« sagte ein vorübergehender Herr, »man sagt, er sei in zwei Stücke zerfahren gewesen.«

»Aber ich glaube, im Gegenteil, der leichteste war es, da er augenblicklich tot gewesen ist,« meinte ein anderer.

»Daß man sich solches nicht zur Warnung dienen läßt,« ein dritter.

Die Karenina setzte sich in den Wagen und Stefan Arkadjewitsch gewahrte mit Verwunderung, daß ihre Lippen bebten und sie nur mit Mühe die Thränen unterdrückte.

»Was ist dir, Anna?« frug er.

»Ein böses Anzeichen.«

»Thorheiten, du bist glücklich angekommen, das ist die Hauptsache. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir von dir verspreche.«

»Kennst du Wronskiy schon lange?« frug sie.

»Ja. Du weißt, daß wir hoffen, er möchte Kity heiraten.«

»Ja wohl,« versetzte Anna leise. »Aber jetzt wollen wir einmal von deinen Angelegenheiten reden,« fügte sie hinzu, den Kopf schüttelnd, gleichsam als wollte sie etwas Äußerliches abschütteln, was sie bedrückte und störte. »Laß uns jetzt von deinen Angelegenheiten sprechen; ich habe dein Schreiben erhalten und bin daraufhin gekommen.«

»Ganz recht. Meine ganze Hoffnung bist du,« sagte Stefan Arkadjewitsch.

»Nun, so erzähle mir denn alles.«

Stefan Arkadjewitsch begann zu erzählen.

Nachdem man daheim angelangt war, hob Oblonskiy die Schwester aus den Wagen, seufzte, drückte ihr die Hand und begab sich ins Amt.

23.

Inhaltsverzeichnis

Wronskiy tanzte mit Kity mehrere Touren. Nach Beendigung des Walzers ging diese zu ihrer Mutter und kaum hatte sie einige Worte mit der Gräfin Nordstone gewechselt, als Wronskiy ihr schon folgte, um für die erste Quadrille zu bitten.

Während der Dauer dieses Tanzes wurde kein Gespräch von Bedeutung gepflogen, die Unterhaltung drehte sich fast ununterbrochen bald um die Korsunskiy, Mann und Frau, die er sehr ergötzlich zu schildern wußte, als gutmütige vierzigjährige Kinder, bald um ein projektiertes Gesellschaftstheater und nur einmal wurde ihr die Unterhaltung empfindlich, als er bezüglich Lewins frug, ob dieser noch anwesend sei und hinzufügte, derselbe habe ihm sehr gefallen.

Kity hatte sich indessen auch nicht viel von der Quadrille versprochen; sie sehnte sich vielmehr mit ganzem Herzen nach der Mazurka und in dieser, meinte sie, müsse sich alles entscheiden.

Daß er sie während der Quadrille nicht für die Mazurka engagiert hatte, beunruhigte sie nicht, denn sie war überzeugt, sie würde dieselbe ebenso mit ihm tanzen, wie auf den früheren Bällen, und schlug mindestens fünf Herren den Tanz aus unter dem Vorgeben, sie tanze ihn schon.

Der ganze Ball bis zu der letzten Quadrille war für Kity ein zauberhaftes Traumgesicht anmutiger Farben, Töne und Bewegungen. Sie tanzte nur dann nicht, wenn sie zu sehr ermüdet war, und um Erholung bat. Als sie jedoch die letzte Quadrille mit einem langweiligen jungen Manne tanzte, dem sie nicht hatte absagen können, bildete ihr vis-a-vis Wronskiy mit Anna Karenina.

Sie hatte Anna nicht wiedergesehen seit deren Erscheinen hier und jetzt zeigte sich diese wieder völlig anders und unerwartet. Sie entdeckte in ihr, die ihr selbst so gut bekannt war, den Zug der Eitelkeit auf Erfolge. Sie sah, wie Anna trunken war von dem Wein des durch sie erweckten Festrausches.

Sie kannte dieses Gefühl und kannte seine Merkmale; sie gewahrte diese Merkmale an Anna; sie sah den bebenden, lohenden Glanz in deren Augen, das Lächeln der Seligkeit und Verzückung, das unwillkürlich ihre Lippen kräuselte, die sichere Grazie, Wahrheit und Eleganz ihrer Bewegungen.

»Wer lebt in ihr?« frug sie sich selbst. »Sind es alle, oder ist es einer?« Und ohne ihrem jungen Tänzer beizustehen, der sich abquälte in der Unterhaltung während des Tanzes, den Faden, den er verloren, wiederzufinden, sich äußerlich aber den lustig schallenden Kommandos Korsunskiys unterordnend, der bald alles in grand rond, oder in chaine verwandeln ließ, beobachtete sie, und ihr Herz wurde ihr schwerer und schwerer. »Nein, das ist nicht die Verehrung des Haufens, welche sie trunken gemacht hat, das ist die Verzückung über einen Einzelnen. Und dieser Eine, wer war es? Sollte Er selbst es sein?«

Jedesmal, wenn er mit ihr sprach, glänzte ein freudiges Funkeln auf in ihren Augen, kräuselte ein Lächeln des Glückes ihre roten Lippen.

Sie schien sich zu bemühen, ihrerseits diese Kennzeichen der Freude nicht hervortreten zu lassen, aber sie erschienen von selbst auf ihrem Gesicht. Und wie verhielt er sich dazu?

Kity blickte nach ihm hin und erschrak. Das, was ihr so klar auf dem Spiegel des Gesichts Annas erschienen war, das gewahrte sie jetzt auch auf seinen Zügen. Wohin war seine stets ruhige, feste Haltung, der unbewegt stoische Ausdruck seines Gesichts gelangt? Nein, jetzt, jedesmal, wenn er mit ihr sprach, nickte ihr sein Haupt leise zu, als wünsche es zu fallen vor ihr, und in seinem Blick lag ein Ausdruck der Ergebenheit und zugleich der Besorgnis »ich will dich nicht kränken«, es war, als spräche sein Blick stets »aber retten möchte ich mich vor dir, ohne daß ich weiß, wie«.

Auf seinen Zügen lag ein Ausdruck, wie sie ihn noch niemals zuvor an ihm wahrgenommen hatte.

Sie sprachen beide von gemeinsamen Bekannten, führten die denkbar langweiligste Unterhaltung, und dennoch schien es Kity, als wenn jedes Wort, das von ihnen gesprochen wurde, nicht nur ihr Schicksal besiegelte, sondern auch das jener beiden.

Seltsam, daß, obwohl sie in der That nur davon sprachen, wie lächerlich Iwan Iwanowitsch mit seinem Französischen sei, oder daß man für die kleine Helene eine bessere Partie suchen müsse, ihre Worte dennoch für sie selbst eine gewisse Bedeutung hatten, und sie dies ganz ebenso fühlten wie Kity.

Der ganze Ball, die ganze Umgebung, alles hüllte sich in Nebel in der Seele Kitys, und nur die strenge Schule der Erziehung die sie durchlaufen hatte, erhielt sie aufrecht und lieh sie das thun, was man von ihr forderte, das heißt, tanzen, auf Fragen antworten, reden, ja selbst lächeln.

Vor dem Beginn der Mazurka indessen, als man schon anfing die Stühle zu stellen und einige Paare sich aus den kleinen Räumen nach dem großen Saale bewegten, überkam Kity ein Augenblick der Verzweiflung und des Schreckens.

Sie hatte fünf Tänzern abgesagt und sollte jetzt die Mazurka gar nicht tanzen. Es war auch keine Hoffnung mehr, daß man sie noch engagierte, weil sie einen allzugroßen Erfolg in der Gesellschaft davongetragen hatte, und deshalb niemand in den Kopf kommen konnte, daß sie bis jetzt noch nicht engagiert sei. Man mußte also Mama sagen, daß man sich unwohl fühle und nach Haus fahren, dazu aber mangelte ihr die Kraft, sie fühlte sich gebrochen.

Sie begab sich nach der Stille eines kleinen Nebenraumes und sank hier in einen Lehnsessel. Der luftige Rock des Kleides hob sich wie eine Wolke um ihre zarte Taille; die eine unbekleidete, schmächtige und zarte Mädchenhand kraftlos herabgesunken, verschwand in den Falten der rosenfarbenen Tunika, in der anderen Hand hielt sie den Fächer und fächelte sich mit schnellen heftigen Bewegungen das glühende Antlitz.

Aber mochte sie auch dem Schmetterling gleichen, der sich soeben im Grase niederließ und im Begriff ist, die Flügel wieder zu recken und weiterzuflattern – eine furchtbare Verzweiflung lastete ihr auf dem Herzen.

»Aber vielleicht kann ich mich noch irren, vielleicht verhält es sich gar nicht so,« dachte sie und stellte sich nochmals alles im Geiste vor, was sie gesehen hatte.

»Aber Kity, was ist denn das?« frug die Gräfin Nordstone, die unhörbar auf dem Teppich zu ihr herangetreten war. »Ich verstehe das nicht!«

Kitys Unterlippe begann zu zucken; das Mädchen erhob sich schnell.

»Kity, tanzest du die Mazurka nicht?«

»Nein, nein,« antwortete Kity mit einer Stimme, in welcher Thränen zitterten.

»Er hatte sie in meiner Gegenwart um die Mazurka gebeten,« sagte die Gräfin Nordstone, in der Annahme, Kity werde wohl verstehen, wer Er und Sie sei. »Sie hat aber geantwortet, ob er denn nicht mit der jungen Fürstin Schtscherbazkaja die Mazurka tanzte!«

»O, mir ist alles gleichgültig,« versetzte Kity.

Niemand als sie selbst verstand ihre Lage, niemand wußte, daß sie gestern einen Mann den sie vielleicht liebte, von sich gewiesen, weil sie einem anderen vertraut hatte.

Die Gräfin Nordstone fand Korsunskiy mit dem sie eine Mazurka getanzt hatte und befahl ihm Kity zu engagieren.

Kity tanzte im ersten Paar und zu ihrem Glück brauchte sie hier nicht zu reden, da Korsunskiy die ganze Zeit über Hin-und herlief und von seiner Eigenschaft als Herr des Balles Gebrauch machte. Wronskiy und Anna befanden sich ihr ziemlich gegenüber.

Sie beobachtete beide mit ihren scharfen Augen, sah sie nahe zusammen als sie Paare bildeten und je langer sie sie beobachtete, umsomehr überzeugte sie sich, daß ihr Unglück vollkommen sei.

Sie sah, wie jene beiden sich völlig allein fühlten inmitten des überfüllten Saales und auf dem Gesicht Wronskiys, welches stets so fest und unabhängig erschien, gewahrte sie jenen sie verwirrenden Ausdruck der Selbstverlorenheit und Ergebung, welcher eher dem Gesichtsausdruck eines klugen Hundes ähnlich war, der sich einer bösen That bewußt ist.

Anna lächelte und ihr Lächeln pflanzte sich auf ihn über. Sie wurde nachdenklich, da wurde er ernst. Eine fast übernatürliche Kraft hielt Kitys Augen auf das Gesicht Annas gerichtet.

Diese war verführerisch in ihrem einfachen, schwarzen Kleid: verführerisch waren ihre vollen Arme mit den Bracelets, reizend der kräftige Hals mit der Perlenschnur, reizend die sich ringelnden Locken der locker gewordenen Frisur, reizend die graziösen, leichten Bewegungen der kleinen Füße und Hände, reizend dieses schöne Gesicht mit seiner Lebhaftigkeit – aber es lag etwas Furchtbares und Hartes in ihrem Reiz. –

Kity beobachtete sie noch mehr als vorher, und im selben Maße stieg ihr Leid. Sie fühlte sich zerschmettert und ihr Gesicht verlieh dem Ausdruck. Als Wronskiy ihrer ansichtig wurde, während der Mazurka mit ihr zusammentreffend, erkannte er sie nicht sogleich – so sehr hatte sie sich verändert.

»Ein reizender Ball!« sagte er zu ihr, um doch etwas zu sagen.

»Ja,« versetzte Kity.

Inmitten der Mazurka, bei der Wiederholung einer Figur, die Korsunskiy ganz neu ausgedacht hatte, trat Anna in die Mitte eines Kreises, nahm zwei Kavaliere und rief eine Dame und Kity zu sich.

Kity blickte erschrocken auf sie, und näherte sich. Anna schaute sie mit den Augen blinzelnd an und lächelte, ihr die Hand drückend. Als sie aber bemerkte, daß Kitys Züge ihr nur mit dem Ausdruck der Verzweiflung und des Staunens antworteten, wandte sie sich ab von ihr und unterhielt sich heiter mit der anderen Dame.

»Ja, etwas Fremdes, Dämonisches und zugleich Verführerisches liegt in ihr,« sagte Kity zu sich selbst.

Anna wollte nicht zum Essen bleiben, allein der Hausherr begann sie zu bitten.

»Genug nun, Anna Arkadjewna,« sagte Korsunskiy, und nahm ihren entblößten Arm unter den Ärmel seines Frackes; »o welche Idee habe ich für den Cotillon! Un bijou!« –

Er bewegte sich ein Stück weiter in dem Bestreben, sie mit sich zu ziehen. Der Hausherr lächelte billigend dazu.

»Nein; ich werde nicht bleiben,« antwortete Anna lächelnd, aber trotz des Lächelns erkannten Korsunskiy wie der Hausherr an dem entschiedenen Tone, mit welchem sie antwortete, daß sie nicht bleiben werde.

»Nein, nein; ich habe in Moskau auf Eurem einen Balle schon mehr getanzt, als ich in Petersburg deu ganzen Winter hindurch tanze,« sagte Anna, auf den neben ihr stehenden Wronskiy blickend. »Ich muß mich vor der Rückreise noch erholen.«

»Fahrt Ihr entschieden morgen schon wieder weg?« frug Wronskiy.

»Ja, ich denke,« versetzte Anna, gleichsam wie in Verwunderung über die Verwegenheit seiner Frage; aber der nicht zu dämpfende, bebende Glanz ihrer Augen und ihres Lächelns versengten ihn, als sie dies sprach.

Anna Arkadjewna blieb nicht zum Essen da, sondern fuhr weg.

29.

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»Nun ist alles vorbei, Gott sei gedankt!« das war der erste Gedanke, der Anna Arkadjewna kam, nachdem sie sich zum letztenmal von ihrem Bruder verabschiedet hatte, der bis zum dritten Läuten mit seiner Person den Zutritt zum Waggon versperrt hatte.

Sie saß auf ihrem Sammetpolster und schaute in dem Zwielicht des Schlafwaggons um sich.

»Gott sei gedankt; morgen sehe ich meinen kleinen Sergey und Aleksey Aleksandrowitsch wieder; dann kommt wieder mein altes, liebes gewohntes Dasein.«

Noch immer in dem nämlichen Zustande der Aufgeregtheit befindlich, welcher sie den ganzen Tag hindurch verfolgt hatte, trat Anna mit einem gewissen Gefühl der Freude und Genugthuung die Rückreise an.

Mit ihren kleinen, gewandten Fingern öffnete sie einen roten Reisesack, langte ein Kissen daraus hervor, legte dasselbe über ihre Kniee und setzte sich dann, nachdem sie ihre Füße sorgfältig eingehüllt hatte, zurecht. Eine kranke Dame hatte sich bereits schlafen gelegt, zwei andere Damen unterhielten sich mit Anna und eine dicke Alte umhüllte ihre Beine und ließ Bemerkungen über die Heizung fallen.

Anna antwortete den Damen einige Worte, wandte sich aber dann, in der Voraussicht, daß die Unterhaltung wenig Interesse bieten werde, an ihre Zofe Annuschka mit der Bitte, ihr eine Laterne zu reichen. Sie befestigte dieselbe an der Armlehne des Sitzpolsters und nahm dann aus ihrem Koffer ein Aufschneidemesserchen und einen englischen Roman heraus.

Anfangs las sie nicht: das Gehen und Fahren störte sie; dann aber, nachdem der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, war es nicht mehr möglich, auf dies Geräusch zu hören, dann kam der Schnee, der zur linken Seite des Wagens an das Fenster schlug und auf dem Glas haften blieb, die Erscheinung des dichtverpackten, draußen vorbeisteigenden Schaffners, der auf einer Seite von Schnee überweht war, und die Gespräche, welch ein entsetzliches Schneegestöber draußen tobe, und dies alles zerstreute ihre Aufmerksamkeit. Im weiteren Fortgang der Fahrt blieb alles ein und dasselbe; das monotone Stoßen und Rütteln, der monotone Schnee am Fenster, der nämliche schnelle Übergang von der Dampfhitze zur Kälte und dann wieder zur Hitze, dasselbe Erscheinen von Männern im Halbdunkel und die nämlichen Stimmen.

Anna begann daher zu lesen und dem Gelesenen mit Aufmerksamkeit zu folgen. Annuschka war schon eingeschlummert; sie hielt den roten Reisesack auf ihren Knieen mit den großen Händen in den Handschuhen fest, von denen der eine zerrissen war.

Anna Karenina las, aber das Lesen machte ihr kein Vergnügen, da sie in ihm ja nur der Wiedergabe des Lebens anderer Menschen folgen konnte.

Sie wollte vor allem ja selbst leben.

Las sie, wie die Heldin des Romans einen Kranken pflegte, so wollte sie mit unhörbaren Schritten durch das Krankenzimmer eilen; las sie davon, wie ein Parlamentsmitglied eine Rede hielt, so wollte auch sie diese Rede halten; las sie, wie Lady Mary zu Pferde ein Hühnervolk verfolgte, ihre Schwägerin neckte und alle mit ihrer Verwegenheit in Erstaunen setzte,, so war ihr als müsse sie selbst das Nämliche thun.

Aber freilich vermochte sie nichts von alledem, und so bewegte sie denn nur mit ihren kleinen Händchen fleißig das Aufschneidemesser, sich eifrig ihrer Lektüre widmend.

Der Held des Romans hatte bereits begonnen, sein Glück nach englischen Begriffen gemacht zu haben, das heißt Baronet und Gutsherr zu werden, und Anna wünschte soeben, ihm auf sein Gut folgen zu können, als sie plötzlich fühlte, daß dies für ihn kompromittierend, und für sie schimpflich gewesen wäre.

»Was wäre für ihn kompromittierend? Was ist für mich schimpflich?« frug sie sich selbst, verwundert und gekränkt.

Sie ließ ihr Buch liegen und warf sich in die Rücklehne ihres Armsessels zurück, das Messerchen zwischen ihren Fingern fest zusammenpressend. Aber etwas Schmachvolles war doch nicht vorhanden.