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Für Mama

Noch elf Tage

Ich bin zu spät. Wie immer. Er sagt, weil ich damit nachdrücklich darauf hinweisen will, dass es mich gibt. Ich sag, weil ich noch eine rauchen wollte. Er schaut über die Brille. Auch das wie immer. Nur die Haare sind anders. Stehen nicht starr um ihn herum wie ein grauer Heiligenschein, sondern bewegen sich im Wind des Ventilators. Ich setze mich, er auch, schlägt die dünnen Beine übereinander, sinkt zusammen in Schildkrötenposition, nimmt den Füller, das Klemmbrett, auf dem schon ein stattlicher Packen liegt. Alles, was er über mich aufgeschrieben hat. Auch jetzt schreibt er, obwohl ich noch nichts gesagt habe. Vielleicht hält er fest, wie ich aussehe, was ich anhabe, ob ich böse gucke oder nett. Vielleicht schreibt er auch nur eine Einkaufsliste. Tofu. Sojamilch. Glutenfreies Müsli. Was so einer eben isst.

»Heiß draußen«, sagt er.

»Und es stinkt«, sage ich.

Koch sagt, nur eine kleine Delle in der Umlaufbahn, nur ein Stück näher dran, und die Sonne würde uns alle grillen – ein großes Feuerwerk aus versengten Haaren und verkohlter Haut, Fleisch und Knochen. Wie das erst stinken würde. Wie wenn Haare in die Kerzenflamme geraten. Nur eben multipliziert mit knapp sieben Milliarden. Das ganze Universum würde damit eingenebelt. Es kommt aber nicht dazu. Der Kosmos rührt sich nicht. Wir schrammen wie eh und je haarscharf an der Katastrophe vorbei.

»Da hat sich die Müllabfuhr aber genau den richtigen Zeitpunkt ausgesucht für ihren Streik, was?«, sagt er.

»Ich schätze, das ist kein Zufall.«

»Das schätze ich auch. Die Leute sollen vermissen, was sie sonst nie beachten.«

»Geschickt.«

»Die Müllabfuhr?«

»Sie.«

»Ich?«

»Wir sprechen doch schon nicht mehr von der Müllabfuhr, oder?«

Er grinst. »Johanna, immer auf Zack.«

Ich sage nichts mehr, also schweigen wir. So läuft das hier. Er versucht es mit Gestichel, und wenn nichts zurückkommt, dann warten wir, bis ich doch noch etwas sage. Wenn ich die ganze Stunde nichts sage, bekommt er seine Kohle trotzdem. Und nützen tut es auch, sagt er. Weil, wer sich nicht ablenken kann, der denkt über etwas Bedeutendes nach, auch wenn er nichts darüber sagt. Heute stimmt das. Ich denke an Koch.

Er räuspert sich. Er hat immer einen Frosch im Hals. Als würde er selbst gern einmal etwas sagen. So was wie: Was hab ich eigentlich mit deinem Irrsinn zu tun, ich geh jetzt ins Freibad. Stattdessen sieht er mich an, mit dem immer gleichen eingemeißelten Halblächeln. Ich gucke irgendwohin, um ihn nicht ansehen zu müssen. Zu den Taschentüchern neben der Duftkerze, die nie an ist. Auf den Teppich, zerschlissen, wo seine Füße sind. Tagein, tagaus. Den Sessel, abgewetzt, aus Prinzip, wegen der intellektuellen Aura. Die Bücher über Irre. Dann auf die Wand, auf dieses Bild, das einzige im ganzen Raum. Ich sage mitten in die Stille: »Was soll das eigentlich sein? Eine Landschaft auf dem Kopf?«

Er erschrickt, verrenkt den Kopf, als habe er das Bild noch nie gesehen. »So sehen Sie das?«

Ich zucke die Schultern. Und er schreibt, viel, weil das sicher so eine Nummer ist bei Irren, dass sie Landschaften auf dem Kopf stehen sehen. Verqueres Weltbild eben. Er ist jetzt bestimmt ganz stolz, dass er das aus mir herausgelockt hat. Und mich in eine seiner Schubladen stopfen und ein Etikett draufkleben kann.

Koch sagt, die Menschen sehen immer nur die Hülle, sie sind zu faul, das Geschenk auszupacken. Noch elf Tage, dann kann Doc die Schublade ein für alle Mal schließen, dann sieht er mich nie wieder.

»Wissen Sie, was für ein Tag ist?« Hört, hört. Heute wartet er nicht wie sonst, bis die Stunde rum ist. Heute spricht er.

»Freitag.«

»Heute ist es zehn Monate her, dass Sie das erste Mal hier waren.« Er blättert den Papierstapel auf seinem Klemmbrett ganz um, als wollte er sich selbst vergewissern, dass er keinen Mist erzählt. »Wir sind schon eine lange Wegstrecke zusammen gegangen, Johanna.«

Ich warte auf Konfetti oder knallende Sektkorken. Aber Fehlanzeige. »Eher gesessen als gegangen«, sage ich, und weil er nicht reagiert: »Kommt mir gar nicht so lang vor.«

»Nein?« Er stürzt sich auf meinen mageren Kommentar. Hinter seiner hohen Stirn arbeitet es auf Hochtouren. Seine Schläfen zucken: Da muss doch was reinzuinterpretieren sein! Psychiater heißt auf Griechisch ψυχίατρος. Überflüssig περιττός.

»Andererseits«, sage ich. »Irgendwie fühlt es sich an, als kenne ich Sie schon ewig.«

Jetzt ist er enttäuscht von meiner Uneindeutigkeit. Seine Mundwinkel hängen. Selbst das Halblächeln will ihm nicht mehr gelingen. Er malt Kringel auf das Papier. Das macht er immer, wenn er nicht zufrieden ist. Er nimmt wieder Fahrt auf, strafft den Schildkrötenrücken und sagt: »Was fühlen Sie, wenn Sie zehn Monate zurückdenken?«

»Dass die Zeit vergeht?«

»Versetzen Sie sich in die Johanna von damals zurück. Was hat sie gefühlt?«

Die kannte Koch noch nicht. Ich zucke mit den Schultern.

Er blättert an den Anfang. »Damals haben Sie zu mir gesagt: Stellen Sie sich einfach vor, Sie haben mich nie kennengelernt. Würde es Sie dann jucken, ob ich da bin oder nicht?« Er schaut über seine Brille. »Damals haben Sie keinen Sinn in Ihrem Leben gesehen.« Er wartet auf eine Reaktion von mir, hakt nach: »Sie wollten nicht da sein. Erinnern Sie sich?«

Koch sagt, was interessiert mich mein Geschwätz von gestern, heute ist heute, und gestern ist verdampft wie ein Furz. Das ist doch mal ein Satz. Den sage ich.

Er zuckt nicht mal mit der Wimper. »Haben Sie Mitleid mit der Johanna von vor einem Jahr?« Er hat sich wirklich was vorgenommen für heute. Ein Highlight. Für seine Akten. Für sein Ego. Für meine Eltern, die ihn bezahlen.

»Oh, ja«, sage ich also und setze noch einen drauf, um die Sache abzukürzen. »Sie haben mir da echt geholfen.« Soll er doch denken, dass es sein Verdienst ist. Dass ich hier so sitze, wie ich hier sitze. Immer noch. Seinetwegen. Wegen des Schweigens, bei dem ich so viel Bedeutendes gedacht habe. Wegen dem, was er so sagt, wenn er was sagt. Johanna, das Wichtigste im Leben ist die Liebe, und die tragen auch Sie in sich. Oder: Johanna, Sie leben, auch wenn er tot ist. Solche Sprüche lässt er raus.

Er schreibt wieder. Er ist wirklich alt. Mindestens sechzig. Vielleicht geht er bald in Rente. Sollte er. Er sieht krank aus. Dünn wie ein Bleistift. Diese ganze vegane Nummer scheint eher ungesund zu sein. Oder die ganzen Probleme, die er sich Tag für Tag reinzieht. Ich geb ihm noch was, damit es sich für ihn gelohnt hat heute, das Aufopfern. »Ich fühle mich richtig geheilt.«

Er hebt die Augenbrauen. »Das freut mich.« Er sieht aber gar nicht erfreut aus. Viel mehr besorgt. Er beugt sich vor, schaut mir in die Augen, als wollte er mir ein Geheimnis verraten. »Und was ist es, was das Leben jetzt für Sie lebenswert macht?«

Die drei K.

Koch.

Kreta.

Keine nervigen Therapeuten mehr in baldigster Bälde.

»Die Fahrstunden. Die sind wirklich sinnstiftend. Ich hatte letzte Woche eine Autobahnfahrt. Mein Fahrlehrer sagt, die Prüfung schaffe ich mit links.«

Er erschlafft, legt Klemmbrett und Füller neben Duftkerze und Taschentücher und saugt die Luft durch die Nase, als wäre es sein letzter Atemzug. »Wollen wir wirklich wieder über die Fahrschule reden?«

»Ich kann doch reden über was ich will hier, oder?«

»Und die Fahrschule beschäftigt Sie?«

»Ungemein!«

Er weiß, dass ich lüge; ich weiß, dass er weiß, dass ich lüge; er weiß, dass ich weiß, dass er weiß, dass ich lüge. Schau nicht so betrübt, Doc, halte durch. Ich tu es auch. Bald bist du mich los. Leb wohl heißt auf Griechisch αντίο.

Ich bin zu spät. Wie immer. Eine Dreiviertelstunde. El Cheffe denkt, dass ich zu spät komme, um ihm das Leben schwer zu machen. Koch sagt, Hauptsache, du kommst und alle anderen bleiben mir vom Hals. Der Laden ist voll. Das bedeutet, dass im Biergarten die Hölle los ist. Die jetzt noch im stickigen Inneren warten, fahren, sobald draußen ein Platz frei wird, die Ellbogen aus. Sie bringen alles durcheinander. Die Tischnummern und Kasseneinträge passen nicht mehr zusammen. Dauernd kommt es zu Fehlbeträgen beim Abkassieren. Wenn nicht Koch in der Küche warten würde, ich würde rückwärts wieder rausgehen.

El Cheffe grüßt wie immer. Nicht. Oder auf seine Weise. »Kommst du auch schon?«

»Wieso, ist doch bereits Viertel nach sieben.« Er versteht es nicht. Und ich verstehe nicht, wie Ironie um manche Menschen einen so weiten Bogen machen kann.

»Du hast Tisch zehn bis zwanzig. Und drinnen.«

»Das ist alles?«

Wieder nur ein tumbes Gesicht.

Während ich die Schürze um die Taille zurre und das Portemonnaie, schwer vom Wechselgeld, wie einen Colt in die Seite schiebe, wankt das Gespann, das sich heute meine Kollegen schimpft, durch den elend langen Gang, der Biergarten mit Kneipe verbindet, auf die Theke zu. Vorweg Bambi. Das T-Shirt über die Schulter gerutscht, um das asiatische Schriftzeichen zu entblößen, das wahrscheinlich Liebe heißen soll, aber in Wirklichkeit – weil der Tätowierer eine gefakte Website aufgerufen und irgendein tibetanischer Mönch sich deswegen den Arsch abfreut – Dumpfbacke bedeutet. Hinter ihr der Schlafwandler. Er zittert jetzt noch. Weil Koch ihn gestern zusammengefaltet hat. Wie nur Koch es kann. Schwing deinen dürren Hintern gefälligst aus meiner Küche oder ich stopf dir eine Peperoni rein!!!!

Weil der Schlafwandler das dreckige Geschirr statt in die Kiste vor der Küchentür in die Spüle gestapelt hatte. Unwissenheit schützt vor Anschiss nicht. Nicht bei Koch.

»Hallo, Jo.« Sie sagen es wie aus einem Mund.

Ich hab keine Lust zu antworten. Am Ende wollen sie noch, dass wir das Trinkgeld in einen Topf werfen, die Schichten demokratisch aufteilen, zusammen eine rauchen. Ich schnappe mir ein Tablett und zieh los. Ignoriere das Winken vom Stehtisch rechts und das »Hallo, Bedienung!« vom Nischenplatz, entere den Gang und lasse mich auf halber Strecke in die Küche saugen.

Es dampft. Es zischt. Es riecht. Und mitten drin, die volltätowierten Arme glänzend vor Schweiß, Meerjungfrau in ihrem Element, Land unter für den Drachen und den Totenkopf, das Unterhemd verfleckt nach Speisekarte und zum Wringen durchfeuchtet, steht Koch, im klebrigen Siff seiner Werkstatt, wie eine Erscheinung. Der Tag ist trotz allem, was so ein Tag mit sich bringt, gerettet.

»Hallo, Koch.«

»Hallo, Jo.«

Der neue Spüler sagt auch was. Ohne sich umzudrehen. Irgendwas, das kein Mensch verstehen kann. Ist auch egal. Ich lehne mich an die Arbeitsplatte und sehe Koch dabei zu, wie er eine Gurke zerhackt. Ich bin sicher, dass er nur deswegen Koch geworden ist, weil er so dauernd etwas zerhacken kann. Er zerhackt formvollendet. Zerhacken heißt auf Griechisch τεμαχίσουν.

»Draußen stinkt es«, sagt Koch.

»Und trotzdem wollen alle an der Luft sitzen, die Idioten«, sage ich.

In der Küche ist es so heiß wie in einer finnischen Sauna. Knoblauchaufguss inklusive. Koch schwitzt springbrunnenmäßig. Auf alles. Die Tropfen sammeln sich auf der Stirn, nehmen den direkten Weg über die Nasenspitze oder orientieren sich an den scharfen Falten, die von den Wangen, an den Mundwinkeln vorbei, bis zum Kinn verlaufen. Koch ist voller Falten. Wenn es nach den Falten ginge, müsste er achtzig sein. Aber der Rest an ihm lässt eher auf fünfzig schließen. Vielleicht sogar jünger. Ich hab ihn nie gefragt.

»Noch nichts gegessen?« Er fragt, obwohl er die Antwort kennt. Er schiebt mir Gurkenscheiben hin. »Du musst essen.«

»Essen wird überschätzt.«

»Es ist nützlich zum Überleben.«

»Sag ja, wird überschätzt.«

Er versteht so was. Er ist so einer. Später wird er mir was kochen. Wenn die Küche offiziell geschlossen ist, wenn die Gäste, El Cheffe und der Rest der Belegschaft verschwunden sind, dann haben wir den Laden für uns. Dann brutzelt Koch nur für mich. So raffiniertes Zeug, dass ich in Versuchung komme, ein paar Bissen lang gute Laune zu bekommen. Und er, wenn ich alles aufesse, auch.

Ich bekomme eine Scheibe Baguette in die Hand gedrückt. »Du musst Essen. Für Kreta. Die Gäste denken doch, ich kann nichts, wenn du nur Haut und Knochen bist.«

Das Argument zieht. Ich beiße ab. Für Kreta. Willkommen in unserem Restaurant heißt auf Griechisch Καλώς ήρθατε στο εστιατόριο μας.

»Hast du Tisch dreizehn?«, fragt er.

Ich nicke.

»Graues Hemd, fette Goldkette, Geheimratsecken.«

Ich werfe einen Blick in den Spiegel, den Koch so an der Dunstabzugshaube angebracht hat, dass er die Sicht durch das unerreichbare Oberlicht zum Biergarten möglich macht. Koch will wissen, für wen er kocht. Und wenn er schon nicht am Schopf packen und rauswerfen kann, kocht er wenigstens nicht für jeden gleich.

»Sehe ihn.«

»Der bekommt die Extrasoße.« Er hält mir ein Schüsselchen mit Salatdressing hin. »Bitte recht üppig.«

Ich greife in die Schublade unter der Arbeitsplatte und hole das Spezialgewürz hervor. Keine Ahnung, wo Koch das herhat. Es riecht nach Kräutern. Ganz harmlos. Und es hat die Wirkung von Rizinusöl.

»Was hat er verbrochen?«

»Er mochte letzte Woche meine Rippchen nicht. Er hat gesagt, sie sind laff.«

»Laff?«

»Laff!«

»Er ist ein Arschloch.«

»Ein Arschloch.«

Arschloch heißt auf Griechisch καθίκι.

»Zwei Weizen. Eins mit Bananensaft. Drei Bier. Zwei Alster. Einmal Kölsch-Cola. Cola. Cola light. Apfelschorle ohne Eis.« Ich warte, bis El Cheffe alles gezapft und auf mein Tablett gepackt hat. Wie umständlich er ist. Wie unfähig. Dass der Laden trotzdem läuft, verdankt er nur Koch. Das Tier in der Küche ist legendär. Sagenumwoben. Geh mal ins Paradies und bestell die Pasta à la Jo (nach mir benannt), die zieht dir die Schluppen aus. Mund-zu-Mund-Propaganda, im wahrsten Sinne des Wortes. Koch sagt, wenn wir in Kreta sind, säuft das Paradies ab wie ein lecker Kahn. Kapitän El Cheffe verlässt als Erster das sinkende Schiff. Bambi ertrinkt formvollendet, der Schlafwandler zappelt noch ein Weilchen und der Spüler verschwindet so geräuschlos in den Wellen, als wäre er selbst nur ein bisschen Gischt. Sage mir, wie du ertrinkst, und ich sage dir, wer du bist.

»Dass du dir das alles im Kopf merken kannst.« Bambi auf Schleimspur. Sie steht hinter mir in der Warteschleife und blättert hektisch in ihrem Notizblöckchen. »Ich kann mir nicht mal drei Sachen merken, dann hab ich schon vergessen, welcher Tisch das war.«

Ich sage nichts, was sie nicht davon abhält, weiterzureden. »Zum Glück ist es die letzte Runde. Ich kann meine Füße nicht mehr spüren. Sie fühlen sich an wie misshandelt.«

»Wenn du sie nicht spürst, wie willst du dann wissen, wie sie sich fühlen«, sage ich – jetzt doch.

Sie sieht verzweifelt aus. Sie sucht nach irgendwas Schlagfertigem. Aber da ist nichts. Also lacht sie. Wie sie es wahrscheinlich immer macht, wenn sie nicht weiterweiß. Und redet sich um Kopf um Kragen. »Wir gehen nachher noch ins Pearl. Willst du mit?«

Jetzt lache ich auch mal. Absurde Idee heißt auf Griechisch ϖαράλογη ιδέα.

Kölsch-Cola ist für die Goldkette. Dem hat unser Spezialdressing besonders gut geschmeckt. Die Cola light ist für Blondi. Die Apfelschorle ohne Eis für den bärtigen Alleinsitzenden. Der bekommt obendrein die Karte. Kochs Karte. Auf der nichts anderes als die Koordinaten einer Kreuzung stehen. Koch hat den Bärtigen per Spiegel klargemacht und der Bärtige wird kommen, weil er hofft, dass Koch so ist wie sein Essen. Als ich ihm die Karte gebe, grinst er und nickt. Koch sagt, in Kreta ticken die Uhren anders, essen die Menschen noch ohne zu quatschen und die Kerle schmecken nach Salzwasser. Das Weizen mit Bananensaft ist für den Dicken, der schon den ganzen Abend den Tisch solo unterhält. Ich merke mir die Getränke nicht, ich ordne sie zu. Es ist immer eindeutig.

»Kann ich dann abkassieren?«

Der Alleinunterhalter schiebt so was wie ein Grinsen über die feiste Visage. »Du bist also der Geldeintreiber hier, was?« Er lacht und schaut so lange nach links und rechts, bis auch der Rest des Tischs lacht, dann erst legt er nach. »Musst du dir aber noch ein paar Muckis mehr antrainieren, wenn du deinen Job gut machen willst, Junge.«

Junge. Er ist es. Ich hab den ganzen Abend lang überlegt. Konnte mich nicht entscheiden zwischen Salatdressing und ihm. Aber jetzt hat er eindeutig gewonnen. Koch sagt, das ist eine Bauchentscheidung, die Gedärme wissen immer, wer der größte Arsch ist, weil sie auf den scheißen wollen.

»Alles zusammen?«

»Nee, getrennt.« Nicht mal bezahlen will er dafür, dass die Statisten am Tisch den ganzen Abend sein Gelaber angehört haben. Er ist es so was von.

»Neunundzwanzig dreißig.«

Er kramt in seinem Portemonnaie. »Stimmt so«, sagt er und gibt mir dreißig.

Siebzig Cent. Letzte Chance verspielt. Das Portemonnaie steckt wieder in der Innentasche seiner Weste. Die Weste legt er über die Bierbank. Ich verliere einen Zehner, bücke mich, werfe die Weste runter, hantiere, verheddere mich, tu und tu, bis er einen Spruch für mich parat hat, an dem er sich erfreuen kann. Da hab ich es längst. Es steckt in meiner Hosentasche und wartet darauf, von ihm vermisst und mir ausgeweidet zu werden. Danke heißt auf Griechisch σας ευχαριστώ.

Ausweis. In die Biotonne. Kreditkarten. Ins Altpapier. Kondom. Aufgeblasen und fliegen gelassen. Geld. Schnell gezählt und zusammengerollt. Ich ziehe an der Leiste, die Arbeitsplatte und Wandkacheln verbindet. Sie gibt nach, lässt sich hochklappen. Ich will die Geldrolle in den dahinterliegenden Hohlraum stopfen, zu allen anderen, aber Koch macht eine winzige Bewegung mit dem Kopf Richtung Spüle. »Wir dritteln heute.«

»Wieso das denn?«

»Komm schon.«

»Aber das ist doch für …«

»Jetzt mach schon.«

Und ich mach. Weil Koch es schon wissen wird. Weil ich mache, was Koch sagt. Weil er Koch ist.

»He, du.«

Zum ersten Mal sehe ich ihn von vorne, steht er nicht über das Becken gebeugt, nicht mit dem Rücken zu mir an der Spülmaschine. Zum ersten Mal wird mir klar, dass er außer schwarzen Locken auch noch ein Gesicht hat. Einen Mund, irgendwie schief, vielleicht wegen der Narbe. Sie zieht sich von der Wange bis zum Kinn. Seine viel zu große Nase steht seltsam aus dem Gesicht heraus, scheint geradewegs als Pfeil auf das zu deuten, was ihn irritiert. Das Geld in meiner Hand. Er rührt sich nicht. Starrt mich an mit Augen, die keine Farbe haben, nur schwarz sind. Ich muss reingucken, ob ich will oder nicht.

»Nimm das Geld«, sagt Koch.

Er rührt sich nicht. Sieht aus wie ein Reptil, fast wie plötzlich tot.

»Wird das bald«, sagt Koch.

Er nimmt es.

»Sag danke«, sagt Koch.

Er sagt: »Danke.«

»Sag Jo deinen Namen«, sagt Koch.

»Amar«, sagte er.

Damit ist die Sache gegessen. Amar verschwindet hinter seiner eigenen Rückseite und verschmilzt wie gehabt mit Kacheln, Spüle und heißem Dampf. Koch wirft den Herd an, gießt Öl in die Pfanne. Es zischt, als das Rinderfilet hineingleitet. »Rindfleisch heißt auf Griechisch βοδινό κρέας

»Wie gut, dass wenigstens einer von uns die Sprache schon kann.«

Ich gucke zu, wie er hantiert. Wie alles Gestalt annimmt und am Ende als kleines Kunstwerk auf dem Teller zusammenkommt. Heute auf zwei Tellern.

»Essen!« Koch hält Amar einen Teller hin.

Amar nimmt den Teller, verdrückt sich in die Ecke, setzt sich auf den versifften Hocker und schaufelt in sich rein, als habe er seit Tagen nichts mehr gegessen. Mit den Fingern.

»Wir setzen uns an den Tisch, draußen«, sagt Koch.

Amar will nicht mit in den Garten kommen, schüttelt den Kopf, beugt sich über den Teller, sagt etwas, das kein Mensch verstehen kann, isst um sein Leben oder was er sonst gewinnen will mit dem Gestopfe.

Ich habe jetzt schlechte Laune. Draußen ist es still. Wir setzen uns an den Tisch, an dem eben noch der Alleinunterhalter gesessen hat.

»Iss«, sagt Koch.

Ich esse. Es fühlt sich an, als würde etwas sehr Schweres in ein tiefes, leeres Loch fallen.

»Schmeckt es?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Was jetzt?«

»Das frage ich dich.«

»Was?«

»Der Typ? Wieso isst der mein Essen?«

»Er hat Hunger, haste doch gesehen.«

»Wieso ist der überhaupt da?«

»Iss!«

»Schmeckt scheiße.«

Er grinst. Weil er genau weiß, dass ich dann auch grinsen muss. Weil sein Grinsen so selten vorkommt, dass sein Gesicht jedes Mal völlig unvorbereitet darauf reagiert und richtig was zu tun bekommt. Rechter Mundwinkel geht hoch. Nase wird krausgezogen. Rechte Wangenfurche vertieft sich. Rechtes Schlupflid zerknittert. Ich muss einfach grinsen, wenn er grinst.

»Alles aufessen«, sagt er.

»Mach ich doch«, sage ich.

Er kontrolliert jeden Abend jeden Bissen und isst nie mit. Er isst nur, was andere kochen. Auch Fertigzeug. Pommesbudenkram. Koch sagt, ein Künstler, der sich seine eigenen Bilder aufhängt, ist ein impotenter Schwanz. Das ist seine Marotte. So ist er eben. Probiert nicht mal. Weiß auch so, was noch fehlt, sieht es an der Farbe, riecht es. Lieber trinkt er. Irgendwas aus dem Kühlschrank, dessen Schlüssel er sich nachgemacht hat. Einen teuren Tropfen, den er durch einen billigen ersetzt. El Cheffe merkt so was nicht. In Kreta koche ich für Koch. Er weiß das nur noch nicht. Geheimnis heißt auf Griechisch μυστικό.

Koch füllt zwei Gläser, eins gibt er mir, das andere hält er hoch, wartet, bis ich angestoßen und in einem Zug geleert habe, um dann einen richtigen Monolog vom Stapel zu lassen. »Mein Freund Dimitrios hat den Preis drücken können. Weil die Bude so marode ist, zahlen wir quasi nur das Grundstück. Bleibt Renovierung und Ausstattung, Startkohle, Karre. Die besorg ich noch.« Er packt mit der rechten ein Lenkrad, legt die linke am heruntergekurbelten Fenster ab, steuert los. »Elf Tage noch, Jo. Verabredete Ecke. Verabredeter Zeitpunkt. Ich hupe wild. Ich singe dir ein Ständchen. Und dann ab.« »Du singst niemals!«

»Stimmt. Ich könnte dir aber Happy Birthday furzen.«

»Ich verzichte.«

»Wenn du was aus deinen Eltern rausleiern könntest, ist noch eine Überdachung für die Terrasse drin. Ein paar anständige Töpfe. Oder ein Satz neuer Messer. Schalentiere knacken sich nicht so leicht.« Er schüttet wieder ein.

»Der Hahn ist echt zugedreht.« Ich stecke mir eine Zigarette zwischen die Lippen. »Die bunkern alles im Tresor, sogar das Kleingeld. Und alles, was zu Geld zu machen war, hab ich schon vertickt.«

»Und zu deinem achtzehnten auch nichts?«

»Es gibt nur Naturalien. Und die auch erst am Tag selbst.«

Er nickt. »Dann eben keine Überdachung.«

Ich lasse den Rauch lange in der Lunge. Es kommt kaum mehr was raus, als ich ausatme. »Vielleicht sollten wir die letzten Kröten, die wir noch reinkriegen, nicht dritteln.«

Koch macht eine Handbewegung, sagen tut er nichts, schneidet nur mit der Handkante durch die Schwüle. Also doch dritteln. »Wo hast du den denn her?« Koch teilt seine Küche nicht. Spült lieber alleine, auch wenn die Hütte brennt. Wenn El Cheffe eine Küchenhilfe anschleppt, wird die innerhalb von einem Abend dermaßen zusammengestaucht, dass sie von selbst die Flucht ergreift. Da kennt Koch nichts. Seine Küche ist Sperrzone, nicht mal El Cheffe darf rein. Nur ich, und jetzt offensichtlich auch Amar.

»Ist ein armes Schwein«, sagt Koch. Und dann, weil das Thema vom Tisch soll: »Trink.«

Ich rauche. »Oder ich mach mehr freundliche Helfer klar am Abend.«

»Nix da. Einen am Abend. Und nur den, der es verdient hat. Das ist die Regel.« Koch trinkt das Glas leer, schüttet nach, trinkt noch einmal, sagt: »Wann hast du wieder Schicht?«

»Erst übermorgen.«

Er sagt etwas, das er sonst nie sagt, nicht mal etwas in der Art. »Ohne dich hier, das wird hart.«

Wir beide gegen den Rest der Welt heißt auf Griechisch Και οι δύο ενάντια στον υπόλοιπο κόσμο.

Die Hitze steht zwischen den Häuserfronten. Die Stadt ist zu eng gebaut, um Wind reinzulassen. Es gibt auch keinen. Nur Mief, der viel zu oft geatmet wurde. Jeder inhaliert denselben Dreck. Jeder muss mit jedem teilen. Die Mülltonnen stehen vor den Häusern, mit aufgeklappten Deckeln, überquellend. Neben ihnen liegen blaue Säcke. Erst als die Bahn mich hinter dem Grüngürtel ausspuckt, wo der Schatten der uralten Bäume auch noch bei Dunkelheit Kühle spendet, ist wieder Sauerstoff in der Luft enthalten. Es stinkt auch nicht so sehr. Weniger Häuser, weniger Menschen, weniger Müll. Koch sagt, in der Stadt stapeln sich die Menschen wie Sardinen in der Büchse, in Kreta sind wir die einzigen, weit und breit. Ich rauche. Hier sieht die Stadt wie keine aus. Die Häuser verstecken sich hinter Hecken, Mauern, schweren Toren. Schmiedeeiserne Straßenlaternen, die roten Blinklichter der Alarmanlagen. Kein Mensch ist mehr unterwegs um diese Zeit. Nur ab und zu der Typ vom privaten Sicherheitsdienst – ein mageres Bürschchen mit abfallenden Schultern. Geld stinkt heißt auf Griechisch βρομάει χρήματα.

der Mensch braucht diesen ganzen Scheiß nicht, alles, was er anhäuft, ist nur ein Bollwerk gegen den Tod, dem eh keiner entkommen kann