Abkürzungen

ACT

Assertive Community Treatment

APK

Aktion Psychisch Kranke e.V.

ALG II

Arbeitslosengeld II

ARPP

Ambulante Rehabilitation bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen

BApK

Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e. V.

BMGS

Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung

BPE

Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e. V.

BSHG

Bundessozialhilfegesetz

CHNP

Centre Hospitalier Neuropsychiatrique

CMHT

Community Mental Health Team

CPA

Care Programme Approach

CPS

Community Psychiatric Service

DALY

disability adjusted life years

DGPPN

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde

DMP

Disease Management Programme

DRG

Diagnosis Related Groups

EBM

Einheitlicher Bewertungsmaßstab

EU

Europäische Union

GBA

Gemeinsamer Bundesausschuss

GEF

Gesundheits- und Fürsorgedirektion Kanton Bern, Schweiz

GKV

Gesetzliche Krankenversicherung

GOÄ

Gebührenordnung der Ärzte

GP

General Practioner

GPV

Gemeindepsychiatrischer Verbund

GVeN

Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (von 1933)

HT

Home Treatment

IBRP

Integrierter Behandlungs- und Rehabilitationsplan

IQWiG

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen

KBV

Kassenärztliche Bundesvereinigung

KV

Kassenärztliche Vereinigung

LIT

Local Implementation Team

LVR

Landschaftsverband Rheinland

LVWL

Landschaftsverband Westfalen-Lippe

MHT

Mental Health Trusts

NGD

Nationaler Gesundheitsdienst

NHS

National Health Service

ÖBIG

Österreichischen Bundesinstitut für Gesundheitswesen

PAAK

Psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern

PIA

Psychiatrische Institutsambulanz

PKH

Psychiatrisches Krankenhaus

PKV

Private Krankenversicherung

PSAG

Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften

PsychPV

Psychiatrie-Personalverordnung

QSP

Qualitätssicherungsprozess

RPK

Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke

SDM

Shared Decision Making

SGB

Sozialgesetzbuch

SpDi

Sozialpsychiatrischer Dienst

TCL

Training in Community Living

WfbM

Werkstatt für behinderte Menschen

WHO

World Health Organisation

WIdO

Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen

WSG

GKV-Wettbewerbstärkungsgesetz

Autorenadressen

Prof. Dr. med. Thomas Becker,
Dr. phil. Bernd Puschner, Silvia Krumm MA soz.


Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II
der Universität Ulm

Bezirkskrankenhaus Günzburg

Ludwig-Heilmeyer-Str. 2

D-89312 Günzburg

 

 

PD Dr. med. Holger Hoffmann


Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD)

Murtenstrasse 46

Postfach 52

CH-3000 Bern 10

 

 

PD Dr. phil. Florian Steger


Institut für Geschichte und Ethik der Medizin

Friedrich-Alexander-Universität

Erlangen-Nürnberg

Glückstraße 10

D-91054 Erlangen

 

 

Dr. med. Dr. P. H. Stefan Weinmann


Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und
Gesundheitsökonomie Charité – Universitätsmedizin Berlin

Luisenstraße 57

D-10117 Berlin

1 Einleitung und Kontext

1.1 Einführung

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit Modellen psychiatrischer Versorgung. Bei diesem Unterfangen war es wichtig, die Grenzen der Themenstellung im Blick zu haben. Die Art und der Ort der Erbringung psychiatrisch-psychotherapeutischer Hilfeleistungen sind nicht die Hilfe selbst, sondern stellen den Rahmen dar, in dem Hilfeleistungen wirksam werden. Die Person oder (in der Regel) die Personen, welche die Hilfen erbringen, sind eng mit Erfolg oder Misserfolg der Behandlung verbunden. Die Güte ihrer Ausbildung, ihre klinische Erfahrung, Fertigkeiten in der Beziehungsaufnahme, die psychotherapeutische Kompetenz und Teamfähigkeit sind für den Behandlungserfolg wesentlich. Die in der Psychiatrie tätigen Berufsgruppen blicken jeweils auf eine lange Tradition ihrer klinischen Arbeit zurück. Diese hat zum einen berufsgebundene Aspekte. So ist die ärztlich-therapeutische Tradition mit der Geschichte des medizinischen Faches Psychiatrie, für die Pflegeberufe mit der Entwicklung der psychiatrischen Krankenpflege als Subdisziplin verbunden. Zum anderen ist die therapeutische Grundorientierung (das therapeutische Paradigma) in der Psychiatrie immer auch ein fachübergreifendes Phänomen, das Berufsgruppen-Grenzen überschreitet und die gemeinsamen Grundvorstellungen einer therapeutischen Kultur reflektiert. Die klinische Psychiatrie, klinische Psychologie und psychiatrische Pflege sowie die Ergotherapie und Sozialpädagogik bzw. psychiatrische Sozialarbeit haben eigene Methoden und Ansätze in der therapeutischen Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen entwickelt. Das therapeutische Milieu, das Setting, in dem Hilfeleistungen erbracht werden, ist aber auch berufsgruppenübergreifend für die psychiatrische Behandlung wichtig. Das Setting besteht aus den in der Psychiatrie Tätigen, den Räumen, in denen sie arbeiten, der Organisationsform, die sie ihrer Arbeit geben, den Orten und der Frequenz, an denen bzw. mit der sie Termine vereinbaren, Diagnosen stellen, psychosoziale Problemstellungen erkennen und Hilfsangebote machen. Die Eigenschaften des therapeutischen Settings umfassen die Formen des Dialogs sowie die klinischen, pharmakologischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Konzepte, die den Gesprächen, der Beziehungsgestaltung und den Interventionen im psychiatrischen Alltag zugrunde liegen.

Die Beschäftigung mit diesen wichtigen Wirkkomponenten des Psychiatrie-Alltags deckt sich jedoch nur in Teilen mit der Beschreibung von „Versorgungsmodellen“ in Psychiatrie und Psychotherapie. Mit den Versorgungsmodellen ist die Form angesprochen, in der ambulante, stationäre oder gemeindepsychiatrische Leistungen erbracht werden. Diese kann sich in vieler Hinsicht unterscheiden, z. B. nach dem Ort des Geschehens, der Patienten-Mitarbeiter-Relation, der Häufigkeit der Kontakte, der Indikations- und Aufgabenstellung des therapeutischen Teams sowie nach der Gestaltung der Schnittstellen zu anderen Angeboten oder Komponenten im Hilfesystem. Die Begrenztheit solcher „Modelle“ hat Thornicroft (2000) deutlich gemacht, indem er ausführt, dass gemeindepsychiatrische Behandlung („community care“) ...

„... is a service delivery vehicle. It can allow treatment to be offered to a patient, but is not the treatment itself. This distinction is important, as the actual ingredients of treatment have been insufficiently emphasized.“

1.2 Aufbau des Buches

Schwerpunkt des vorliegenden Buchs ist die Darstellung konzeptueller Grundlagen des psychiatrischen Versorgungssystems. Hierbei kann keine lückenlose Beschreibung psychiatrischer Versorgung geleistet werden. So wurde auf eine Darstellung essentieller Bereiche wie z. B. die Versorgung von Menschen mit Suchterkrankungen verzichtet.

Auf das Thema hinleitend werden im dritten Teil dieses Kapitels Hintergrund-Variablen geschildert, die für die Gestaltung psychiatrischer Versorgungssysteme bedeutsam sind. Dies sind Befunde zur Epidemiologie psychischer Erkrankungen, internationale Empfehlungen zur Behandlung psychischer Erkrankungen, sowie Gesundheitsziele. Die verfügbare Versorgung geht nicht bruchlos aus Konzepten, Büchern, Artikeln oder Leitlinien hervor. Vielmehr sind die Institutionen der Psychiatrie in der Geschichte entstanden, gewachsen, in Krisen geraten – und Teilsysteme können durchaus auch verschwinden. Sie haben sich historisch aus Vorbestehendem entwickelt oder sind an dessen Stelle getreten – und nur in dieser Perspektive können sie verstanden werden. So widmet sich Kapitel 2 des Buches der Darstellung der historischen Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in europäischen Ländern mit dem Schwerpunkt Deutschland.

Das Gespräch über Versorgungsmodelle ist immer auch mit der Frage nach „Indices“, z. B. „Bettenmessziffern“ oder anderen Anhaltszahlen für eine angemessene psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung verknüpft. Daher werden in Kapitel 3 aktuelle Befunde zur Planung von Behandlungssystemen und Planungs-Indikatoren zusammengefasst und diskutiert. Kapitel 4 wirft einen „systemischen“ Blick auf das psychiatrische Versorgungssystem in Deutschland sowie auf seine Steuerung. Es versucht, Steuerungsmechanismen zu identifizieren, die berücksichtigt werden müssen, wenn die internationalen Befunde und Evidenzen zu Versorgungsmodellen in Diskussionen über die Psychiatrie-Versorgung in Deutschland herangezogen werden. Kapitel 5 beschreibt und diskutiert Formen und Bedeutung der Nutzerbeteiligung in der psychiatrischen Versorgung und in der Gestaltung psychiatrischer Versorgungsangebote. Eine Reihe methodischer Grenzen internationaler Forschung wird schließlich in Kapitel 6 bei der Zusammenfassung der Studienergebnisse zu viel diskutierten Versorgungsbestandteilen wie „Assertive Community Treatment“ oder „Home Treatment“ deutlich. Die Thematik ist wichtig für das Verständnis der Diskrepanz zwischen Wissenserwerb (Studien) und Anwendung (Praxis) (Girolamo und Neri 2007). In Kapitel 7 werden internationale Trends der psychiatrischen Versorgung mit Schwerpunkt Europa berichtet. Dieses Thema wird in Kapitel 8 weiter vertieft, indem die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in Italien und England ausführlicher geschildert wird. Abschließend werden in Kapitel 9 wichtige Themen und Probleme in der Weiterentwicklung psychiatrischer Versorgungsmodelle diskutiert.

1.3 Kontext für Versorgungsmodelle in Psychiatrie und Psychotherapie

1.3.1 Häufigkeit psychischer Erkrankungen in Europa

Es wird geschätzt, dass über 80 Millionen Menschen in der Europäischen Union (EU) im Verlauf eines Jahres an Erkrankungen aus der breiten Kategorie von „Hirnerkrankungen“ oder neuropsychiatrischen Erkrankungen leiden (Wittchen und Jacobi 2005). Bei den Prävalenzraten führen Angststörungen, depressive Erkrankungen, somatoforme Störungen und Substanzabhängigkeiten. Die Inanspruchnahmerate professioneller Hilfesysteme liegt bei ca. 26 %, was auf einen erheblichen ungedeckten Behandlungsbedarf hinweist. Wird das Lebenszeitrisiko für mindestens eine psychische Störung zugrunde gelegt, so gibt es Hinweise, dass ca. 50 % der EU-Bevölkerung betroffen sind. Von der Gesamtlast der mit Behinderung gelebten Lebensjahre (sog. „disability adjusted life years“ – DALYs), die mit allen medizinischen Erkrankungen assoziiert sind, sind mehr als 25 % durch eine kleine Anzahl von psychischen Störungen begründet. Wegen hoher Komorbiditätsraten, erheblicher soziodemographischer und sozioökonomischer Unterschiede und aufgrund begrenzter Rückschlussmöglichkeit von DALYs auf konkrete Behandlungskosten sind die Generalisierbarkeit und der praktische Planungsnutzen solcher Daten begrenzt. Ein Großteil der geschätzten jährlichen Ausgaben von 290 Milliarden Euro Jahres-Kosten für psychische Störungen ist nicht auf Gesundheits(leistungs-)kosten, sondern auf indirekte Kosten (wie z. B. Produktivitätsverluste) zurückzuführen. Die größten ungedeckten Hilfebedarfe sind in den neuen EU-Mitgliedsstaaten, bei Heranwachsenden und bei älteren Menschen zu finden (Wittchen und Jacobi 2005).

Es gibt Hinweise darauf, dass psychische Erkrankungen zunehmen. Inzwischen sind sie der häufigste Grund für Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrenten und eine im Anstieg begriffene Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage (Bührig 2005). Der Anteil psychischer Erkrankungen an den Frühberentungen hat sich seit 1995 auf 29,2 % nahezu verdreifacht (Verband deutscher Rentenversicherungsträger 2002). Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Krankheiten hat zwischen 1997 und 2001 um über 50 % zugenommen (Deutsche Angestelltenkrankenkasse 2002). Nach mehreren Jahrzehnten der Psychiatriereform ist die soziale Situation von arbeitsfähigen Menschen mit psychischen Erkrankungen von Arbeitslosigkeit, finanzieller Überschuldung und sozialer Isolation gekennzeichnet (Eikelmann und Harter 2006).

1.3.2 Politisches Gewicht und europäische Perspektive: Grünbuch, europäische Erklärung und Aktionsplan

Unter der Überschrift „Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern – Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union“ (Europäische Kommission. Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz 2005) hat die Europäische Kommission im Oktober 2005 ein „Grünbuch“ veröffentlicht.

Darin wird die psychische Gesundheit als wichtiger Faktor bei der Realisierung strategischer EU-Ziele betrachtet, z. B. um Europa auf den Weg zu langfristigem Wohlstand zu bringen, das europäische Engagement für Solidarität und soziale Gerechtigkeit zu stärken und die Lebensqualität der Bürger Europas spürbar anzuheben. Das Grünbuch stellt fest, dass psychische Erkrankungen jeden vierten Bürger betreffen, erhebliche Kosten verursachen und das Wirtschafts-, Sozial- und Bildungssystem sowie das Strafverfolgungs- und Justizsystem belasten. Schließlich stellen Stigmatisierung, Diskriminierung und Missachtung der Menschenrechte und der Menschenwürde bei von psychischen Erkrankungen Betroffenen und geistig behinderten Menschen europäische Grundwerte in Frage. Das Grünbuch schlägt eine EU-Strategie für die Förderung psychischer Gesundheit vor, die einen Rahmen für die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten schaffen, die Kohärenz von Initiativen im und außerhalb des Gesundheitssektors steigern und viele sog. „Stakeholder“ in die Lösungsfindung einbeziehen soll. Einschlägige Initiativen in verschiedenen Politikbereichen werden eingeleitet, z. B. das Aktionsprogramm der EU zur öffentlichen Gesundheit („public health“) 2003–2008, sozial- und beschäftigungspolitische Initiativen der EU zur Nichtdiskriminierung von Menschen mit psychischen Störungen, zur sozialen Integration von Menschen mit geistigen Behinderungen und zur Verhütung von Stress am Arbeitsplatz. Das Forschungsrahmenprogramm der EU, die EU-Politik im Bereich „Informationsgesellschaft und Medien“, Regional-, Bildungspolitik und die Gemeinschaftspolitik für Freiheit, Justiz und Sicherheit (Programme zur Verhinderung von Gewalt gegen Kinder, junge Menschen und Frauen) werden genannt. Eine EU-Strategie sollte folgende Schwerpunkte haben:

Das „Grünbuch“ der EU – wesentliche Aussagen zusammengefasst:

  1. Einführung (insgesamt 8 Kapitel)
    Psychische Gesundheit der EU-Bevölkerung verbesserungsbedürftig (jeder vierte Bürger betroffen; Suizide; Kosten, Belastung des Wirtschafts-, Sozial- und Bildungssystem; Stigmatisierung, Diskriminierung, Menschenrechte)
    • Ziele
      • EU-Strategie zur Förderung psychischer Gesundheit
      • Debatte zur psychischen Gesundheit in Europäischen Institutionen, Regierungen, Gesundheitsberufen, bei Stakeholdern, in anderen Sektoren
  2. Psychische Gesundheit – wichtig für den Einzelnen, für die Gesellschaft und für die Politik
    • Keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit
      • Einzelne Bürger: Voraussetzung für Verwirklichung ihrer Potenziale
      • Gesamtgesellschaftlich: Beitrag zu Wohlstand, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit
    • Psychische Erkrankungen
      • Vielfältige Kosten und finanzielle Verluste
      • Belastung für Bürger und Gesellschaftssysteme
  3. Gegenwärtige Situation: Psychische Erkrankungen
    • zunehmende Belastung für die EU
    • Mehr als 27 % erwachsener Europäer leiden mindestens 1x im Leben unter psychischen Störungen
    • Angst und Depression häufigste psychische Störungen
    • In Industriestaaten bis 2020 Depressionen zweithäufigste Erkrankung
    • In EU jährlich 58.000 Todesfälle durch Suizid
    • Kosten psychischer Erkrankungen ca. 3–4 % des Bruttoinlandprodukts
    • Soziale Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung
  4. Antwort der Politik:
    Initiativen zur Förderung psychischer Gesundheit
    • Europäische ministerielle WHO-Konferenz Psychische Gesundheit, Helsinki, Januar 2005
    • Umfassender Ansatz mit
      1. Behandlung und Pflege von Einzelpersonen
      2. Förderung psychischer Gesundheit in der Gesamtbevölkerung
      4.1 Rolle, Mandat und Aktivitäten der EU im Bereich psychische Gesundheit (EU Aktionsprogramm Public Health 2003–2008, Nichtdiskriminierungsrichtlinien, Forschungsrahmen-Programme usw.)
      4.2 Psychische Gesundheit in Mitgliedstaaten (erhebliche Varianz zwischen den Mitgliedstaaten, z. B. Suizidrate, Austausch und Kooperation zwischen Mitgliedstaaten)
  5. Nutzen einer EU-Strategie für psychische Gesundheit:

(1) Rahmen für Austausch und Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten

(2) Steigerung der Kohärenz von Maßnahmen in verschiedenen Politikbereichen

(3) Plattform für Einbindung von Stakeholdern, einschließlich Patienten- und Zivilgesellschaftsorganisationen

Schwerpunkte der EU-Strategie:

(1) Generelle Förderung psychischer Gesundheit

(2) Prävention psychischer Erkrankungen

(3) Verbesserung der Lebensqualität psychisch Kranker

(4) Entwicklung eines einschlägigen Informations-, Forschungs- und Wissenssystems

6. Lösungsfindung – Handlungsoptionen, z. B. Implementing Mental Health Promotion Action (IMPHA)
6.1 Förderung psychischer Gesundheit und Prävention

  • Stärkung von Schutzfaktoren
  • Abbau von Risikofaktoren (Schule und Arbeitsplatz)
  • Förderung psychischer Gesundheit in der Bevölkerung (Erziehung, Schule, Arbeitsplatz)
  • Maßnahmen für ältere Menschen und vulnerable Gesellschaftsgruppen
  • Prävention (u. a. Depressions- und Suizidprävention als Schwerpunkt, EAAD)

    → Empfehlungen aus Konsultationsprozess zum Grünbuch

    → Vorschlag der Kommission für Empfehlungen des Rates zur Bekämpfung von Depression und suizidalem Verhalten (Fortsetzung „Lösungsfindung“)

6.2 Förderung sozialer Integration, Schutz von Grundrechten und Menschenwürde

6.3 Verbesserung des Informations- und Wissenstandes über psychische Gesundheit in der EU (Indikatoren, Daten, Schnittstelle zwischen Politik und Forschung)

7. Konsultationsprozess zur Entwicklung einer EU-Strategie
Förderung der psychischen Gesundheit:

  • Dialog mit Mitgliedstaaten über psychische Gesundheit
  • Einrichtung einer EU-Plattform für psychische Gesundheit
  • Einrichtung einer Schnittstelle zwischen Politik und Forschung im Bereich psychische Gesundheit

8. Die nächsten Schritte

  • Mehr Aufmerksamkeit für psychische Gesundheit durch Politik und Öffentlichkeit
  • Wichtige Fragen:
    1. Wie wichtig ist psychische Gesundheit für die EU?
    2. Gibt es europäischen Mehrwert einer EU Strategie für seelische Gesundheit?
    3. Sind die im Grünbuch genannten Initiativen geeignet, psychische Gesundheit in Europa zu stärken?

Textbox 1.1: Europäische Kommission. Generaldirektion Gesundheit & Verbraucherschutz (2005) Grünbuch. Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern – Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union.

Aus dem Konsultationsprozess zum Grünbuch abgeleitete Empfehlungen könnten in einen Vorschlag der Kommission für eine Rats-Empfehlung zur Förderung der psychischen Gesundheit eingehen, z. B. zur Bekämpfung von Depressionen und suizidalem Verhalten. Die Förderung der sozialen Integration von Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistiger Behinderung sowie der Schutz ihrer Grundrechte und Menschenwürde sollen eine zentrale Stellung einnehmen.

Im Rahmen des WHO-Netzes gesundheitsfördernder Krankenhäuser hat eine Arbeitsgruppe zu gesundheitsfördernden psychiatrischen Diensten („Task Force on Health Promoting Psychiatric Services“) Modelle guter Praxis für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Psychiatrie erarbeitet. Der Europarat hat die Entwicklung einer Maßnahme zur Verbesserung von Ethik und Menschenrechten in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen („European Reference Tool for Ethics and Human Rights in Mental Health“) in Angriff genommen. Ein Projekt zu Zwangsmaßnahmen in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen („Compulsory Admission and Involuntary Treatment of Mentally Ill Patients – Legislation and Practice in EU Member States“) zeigte, dass einschlägige gesetzliche Bestimmungen in den Ländern der EU recht heterogen sind. Als Schwerpunkte werden die Förderung sozialer Integration, der Schutz der Rechte von Menschen mit psychischer Erkrankung und geistiger Behinderung sowie die Verbesserung des Informations- und Wissensstands über psychische Gesundheit, insbesondere die Entwicklung von Indikatoren für psychische Gesundheit (und geistige Behinderungen) in der Bevölkerung genannt. Auf die Grundrechteagentur der EU, die im Januar 2007 ihre Arbeit begonnen hat, wird verwiesen. Schließlich wird ein Konsultationsprozess zur Entwicklung einer EU-Gesamtstrategie für die Förderung der psychischen Gesundheit angekündigt. Geplante Aktivitäten sind der Dialog mit den Mitgliedstaaten über psychische Gesundheit, die Einrichtung einer EU-Plattform für psychische Gesundheit mit Politikern, Experten und Stakeholdern aus dem Gesundheitsbereich und aus anderen relevanten Sektoren sowie mit Vertretern der Zivilgesellschaft.

Das EU-Grünbuch ist eine wichtige Grundlage für eine zukünftige europäische Gesundheitspolitik, in der die Förderung der psychischen Gesundheit eine zentralere Rolle einnimmt als bisher. Deutlich wird ein psychosoziales Krankheitsmodell, innerhalb dessen vor allem psychologische und soziale Faktoren für die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen bedeutsam sind. Bei den Maßnahmen zur Prävention werden dementsprechend psychosoziale Interventionsstrategien berücksichtigt, während z. B. Ansätze zur Vermeidung biologischer Beeinträchtigung oder zur medikamentösen Frühintervention keine Berücksichtigung finden. Da der Wissenschaft ein Krankheitsmodell zugrunde legt, bei dem genetische, biologische und psychosoziale Faktoren von Bedeutung sind, ist es naheliegend, dass das Grünbuch um ein biopsychosoziales Modell ergänzt und der Maßnahmenkatalog um Ziele und Maßnahmen zur Prävention erweitert wird.

Das EU Grünbuch bleibt sehr im Allgemeinen. Neben der generellen Förderung der psychischen Gesundheit, der Prävention psychischer Erkrankungen und der Entwicklung einschlägiger Informations-, Forschungs- und Wissenssysteme wird die allgemeine Verbesserung der Lebensqualität psychisch kranker Menschen als ein Schwerpunkt der EU-Strategie angesehen. Es fehlen jedoch Hinweise auf die Notwendigkeit angemessener medizinischer und psychotherapeutischer Behandlung. Im Rahmen der Förderung der sozialen Integration von Menschen mit psychischen Erkrankungen Menschen wird zwar die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Therapiemöglichkeiten gefordert, auf eine nähere Spezifizierung wirksamer Therapiemöglichkeiten wird hingegen verzichtet.

Konkreter als das EU-Grünbuch gehen die Europäische Erklärung zur psychischen Gesundheit (Europäische Ministerielle WHO-Konferenz Psychische Gesundheit 2005a) und vor allem der Europäische Aktionsplan für psychische Gesundheit (Europäische Ministerielle WHO-Konferenz Psychische Gesundheit 2005b) auf Fragen der Behandlung und Versorgung ein. So werden im Aktionsplan unter dem Gliederungspunkt 6 („gute Primärversorgung für psychische Gesundheitsprobleme sichern“) u. a. folgende Maßnahmen vorgeschlagen:

Unter dem Gliederungspunkt 7 („Menschen mit schweren psychischen Gesundheitsproblemen durch gemeindenahe Dienste wirksam versorgen“) werden u. a. folgende Ziele und Maßnahmen formuliert:

Der WHO-Aktionsplan wird damit im Hinblick auf konkrete Präventions- und Behandlungsstrategien deutlicher als das EU-Grünbuch. Dies hängt mit den unterschiedlichen Aufgaben von WHO (Gesundheitsversorgung explizit im Auftrag eingeschlossen) und EU (Auftrag Gesundheit und Verbraucherschutz, nicht jedoch Krankenversorgung) zusammen. Weitere Forderungen des WHO-Aktionsplans betreffen die Koordination und Vernetzung von Versorgungsangeboten, die Ausbildung und Fortbildung von Fachkräften der psychiatrischen Versorgung und die Entwicklung von Indikatoren psychischer Krankheit und deren Prävention und Behandlung.

Mit diesem Katalog von Maßnahmen und Zielsetzungen bietet der Europäische Aktionsplan der WHO eine wichtige Ergänzung zum Grünbuch.

1.3.3 Politisch-planerische Rahmenüberlegungen – gibt es Zielformulierungen?

Versorgungsmodelle werden zunehmend an der Erreichung von Zielkriterien gemessen. Die Bundesregierung hat das Projekt der nationalen Gesundheitsziele initiiert: die ersten fünf Gesundheitsziele galten den gesundheitspolitischen Themen Diabetes mellitus, Brustkrebs, Tabakkonsum, gesund Aufwachsen und Patientensouveränität. Zum 6. Nationalen Gesundheitsziel – Depression – wurde der Bericht „Depressive Erkrankungen: Verhindern, früh erkennen, nachhaltig behandeln“ veröffentlicht (gesundheitsziele.de – Bundesministerium für Gesundheit 2006). Drei weitere Gesundheitsziele werden zu einem späteren Zeitpunkt entwickelt (chronischer Rückenschmerz, Herzinfarkt und Impfungen). Die Gesundheitsziele werden in einem konsensorientierten Prozess unter Beteiligung der relevanten Organisationen des Gesundheitswesens erarbeitet.

Um den Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten im deutschen Gesundheitswesen Rechnung zu tragen, kann und soll die Umsetzung nicht zentral gesteuert werden. Sie erfolgt vielmehr in Selbstverpflichtung der verantwortlichen Akteure, also durch Bund, Länder, Kommunen, Kostenträger, Leistungserbringer sowie Patienten und Betroffene (s. Kapitel 4). Es wurden sechs Aktionsfelder definiert, in denen Verbesserungspotenziale mobilisiert werden können: Aufklärung, Prävention, Diagnostik, Indikationsstellung und Therapie, Stärkung der Patienten und Betroffenen, Rehabilitation und Versorgungsstrukturen sowie ein Aktionsfeld mit Zielen, Teilzielen und Maßnahmen. Weiterhin wurden sog. „Startermaßnahmen“ empfohlen. Gesundheitsziele.de bezieht sich auf die Initiative der Europäischen Ministeriellen WHO-Konferenz Psychische Gesundheit, ihren Europäischen Aktionsplan für psychische Gesundheit 2005 sowie das im Oktober 2005 vorgelegte EU Grünbuch zur psychischen Gesundheit der Europäischen Kommission (s. 1.3.2). Die Arbeitsgruppe benannte folgende Aktionsfelder: Aufklärung, Prävention, Diagnostik, Indikationsstellung und Therapie, Stärkung der Patienten und Betroffenen, Rehabilitation sowie Versorgungsstruktur.

Im Aktionsfeld Versorgungsstruktur wird die Rolle der Hausärzte betont. Es gibt Hinweise für regionale Überversorgung in städtischen Ballungsgebieten. In strukturschwachen, vor allem ländlichen Gebieten wird hingegen eine Unterversorgung berichtet. So waren 1997 über die Hälfte aller psychotherapieberechtigten Ärzte in Bayern, Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg zugelassen. In den fünf neuen Bundesländern fanden sich dagegen nur 3,7 % der psychotherapieberechtigten zugelassenen Ärzte. Von den nicht-ärztlichen Psychotherapeuten waren in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg insgesamt ca. 52 %, in allen neuen Bundesländern dagegen nur 8,2 % zugelassen. Ähnliche Ungleichgewichte gelten für die komplementären Dienste (Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2003).

Im Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2003) werden neue Versorgungsformen mit höherer Durchlässigkeit und integrierter Zusammenführung gefordert. Erforderlich seien Interventionsansätze, die mehrere Ebenen mit einbeziehen: Akut-, Erhaltungstherapie, Rückfallprophylaxe, Nachsorge, effektive Patientenbegleitung und Rehabilitation. Es müsse eine sektorübergreifende, integrierte Versorgung erreicht werden, deren Organisation die Fragmentierung der sozialrechtlichen, finanziellen und administrativ-organisatorischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen habe. Personelle Kontinuität sei anzustreben. Tabelle 1.1 nennt die Gesundheitsziele zur Depression.

Im Aktionsfeld Versorgungsstruktur für Menschen mit Depression werden folgende Gesundheitsziele formuliert: (a) Bedarfsgerechtigkeit; (b) niedrigschwelliger Zugang; (c) Anpassung an die Versorgungserfordernisse; (d) angemessene Ausstattung; sowie (e) die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse depressiv Erkrankter in der Arbeitswelt. Tabelle 1.2 führt Maßnahmen zur Umsetzung dieser Gesundheitsziele im Einzelnen auf.

Würden die dort aufgeführten Maßnahmen wirksam, so wären Konsequenzen wahrscheinlich. Wenn die Bedarfsplanung für die ambulante und stationäre Versorgung, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, überprüft und evidenzbasiert gestaltet würde, so hätte dies Auswirkungen in einigen Versorgungsregionen, z. B. in den neuen Bundesländern. Auch die Versorgung mit gemeindenahen Institutsambulanzen, Beratungsstellen und Angeboten ambulanter psychiatrischer Pflege würde homogener. Unter den Maßnahmen werden explizit Verträge im Rahmen der Integrierten Versorgung (§ 140ff. SGB V), der Hausarztzentrierten Versorgung (§ 73b SGB V), sowie im Rahmen der Förderung der Qualität in der vertragsärztlichen Versorgung (§ 73c SGB V) genannt. Bei den stationären Maßnahmen wird eine engere Integration von Angeboten der Behandlung und Rehabilitation gefordert, speziell auf depressive Patienten abgestimmte Stationen und/oder Behandlungsmodule werden gefordert. Ebenso wird eine aktive Beteiligung von Betriebsärzten bei der Prävention, Behandlung und Rehabilitation depressiver Erkrankungen in der Arbeitswelt gefordert. Schließlich wird eine Reihe von sog. „Startermaßnahmen“ vorgeschlagen. Diese gelten: (a) der Verbreitung und Weiterentwicklung von evidenzbasierten, allgemeinverständlichen Informationen über das Krankheitsbild Depression und dessen Behandlungsmöglichkeiten, (b) regionalen Bündnissen gegen Depression, (c) der flächendeckenden Unterstützung von Kindern psychisch kranker Eltern, (d) dem bundesweiten Einsatz von evaluierten Fortbildungsprogrammen zur „partizipativen Entscheidungsfindung“ für die Depressionsbehandlung, (e) weitgefächerten Aus-, Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen zur Verbesserung kommunikativer Kompetenzen für die Depressionsbehandlung, (f) der Erweiterung des betrieblichen Arbeitsschutzes, (g) der Verhinderung von Nachahmungssuiziden, (h) der Erweiterung des betrieblichen Eingliederungsmanagement um die Komponente „Psychische Belastungen am Arbeitsplatz“, (i) der Weiterentwicklung von Indikationskriterien für die Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen, (j) der Implementierung der evidenzbasierten Leitlinie Depression sowie (k) der Fachgruppen- und sektorenübergreifenden Zusammenarbeit in vernetzten Versorgungsstrukturen, z. B. durch Integrationsverträge nach § 140 SGB V.

Tab. 1.1: Gesundheitsziele zur Depression. Ziele und Teilziele im Überblick (modifiziert nach dem Bericht des Bundesministeriums für Gesundheit (2006) Depressive Erkrankungen: verhindern, früh erkennen, nachhaltig behandeln. gesundheitsziele.de. Forum zur Entwicklung und Umsetzung von Gesundheitszielen in Deutschland, S. 19 ff.)

Aktionsfeld Aufklärung

Ziel 1

Die Bevölkerung verfügt über einen ausreichenden Wissensstand über das Krankheitsbild der Depression und seine Folgen, um mit der Erkrankung und den Erkrankten angemessen umgehen zu können.

Teilziel 1.1

Allgemein verfügbares Wissen über depressive Erkrankungen und Suizidalität, Rezidivgefahr und Chronifizierung sowie über Behandlungsmöglichkeiten und Hilfsangebote ist vorhanden.

Teilziel 1.2

Eine unterstützende, verständnisvolle Haltung gegenüber Betroffenen und ihren Angehörigen ist vorhanden.

Aktionsfeld Prävention

Ziel 2

Auftreten und Krankheitslast schwerer und chronischer depressiver Erkrankungen sind reduziert. Maßnahmen zu universeller, selektiver und indizierter Prävention sind etabliert.

Teilziel 2.1

Die Risikofaktoren für depressive Erkrankungen sind reduziert.

Teilziel 2.2

Die Rate an Suiziden und Suizidversuchen ist gesenkt.

Teilziel 2.3

Unnötige Frühverrentung, Erwerbsunfähigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und allgemeine Partizipationsprobleme als Risikofaktor für Chronifizierung aufgrund von depressiven Erkrankungen sind reduziert.

Teilziel 2.4

Die protektiven, gesundheitsfördernden (salutogenen) und kompensatorischen Faktoren für depressive Erkrankungen sind gestärkt: z. B. das Vorhandensein von Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit), sozialer Kompetenz, Problemfähigkeiten und sozialer Unterstützung.

Aktionsfeld Diagnostik, Indikationsstellung und Therapie

Ziel 3

Patienten mit depressiven Erkrankungen unterschiedlicher Schweregrade und unterschiedlicher Chronizität werden frühzeitig erkannt und mit wissenschaftlich anerkannten und klinisch wirksamen Verfahren umfassend und schnell behandelt mit dem Ziel, Suizide zu verhindern, Krankheitsphasen zu verkürzen und die Gesundheit möglichst schnell wiederherzustellen bzw. Funktionseinschränkungen zu vermindern.

Teilziel 3.1

Bei den Primärversorgern, in der Pflege und in den Beratungsstellen ist die Kompetenz, depressive Erkrankungen zu erkennen und mit ihnen umzugehen, vorhanden. Risikogruppen sind bekannt.

Teilziel 3.2

Bei Bedarf findet die Überweisung zu einer fachärztlichen/psychotherapeutischen Diagnostik und Behandlung im Rahmen fachübergreifender Kooperationsformen zeitnah, barrierefrei und unter Berücksichtigung differentieller Indikationsstellung statt.

Teilziel 3.3

Die Qualität einer umfassenden, evidenzbasierten, medikamentösen, psychotherapeutischen und ergänzenden Therapie ist gesichert.

Teilziel 3.4

Wissenschaftlich anerkannte und klinisch wirksame Behandlungsverfahren im ambulanten und stationären Bereich werden angewendet.

Teilziel 3.5

Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen mit depressiven Erkrankungen erhalten eine umfassende und angemessene Versorgung.

Aktionsfeld Stärkung der Patienten und Betroffenen

Ziel 4

Die Position der Patienten mit depressiven Erkrankungen und ihrer Angehörigen ist gestärkt.

Teilziel 4.1

Die Kommunikation zwischen Patienten und Behandelnden ist verbessert.

Teilziel 4.2

Partizipative Entscheidungsfindung (PEF, shared decision making) bei depressiven Erkrankungen findet flächendeckend, fach- und sektorenübergreifend statt.

Teilziel 4.3

Partner, Familie und soziales Umfeld des Patienten sind in die Behandlung einbezogen.

Teilziel 4.4

Organisationen der Patienten- und Angehörigen-Selbsthilfe sind an Entscheidungen zu Fragen der Versorgung von depressiv Erkrankten beteiligt.

Teilziel 4.5

Selbsthilfegruppen und deren Aktivitäten werden von den Behandelnden aktiv unterstützt.

Teilziel 4.6

Organisationen der Selbsthilfe schaffen Transparenz hinsichtlich ihrer Struktur und Angebote.

Aktionsfeld Rehabilitation

Ziel 5

Die Führung und Langzeitbehandlung depressiv kranker Menschen einschließlich der Hilfen zur Bewältigung der Krankheit und ihrer Auswirkungen auf den Langzeitverlauf, die Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben und die Lebensqualität werden bedarfs- und fachgerecht verbessert bzw. weiterentwickelt.

Teilziel 5.1

Regulative Voraussetzungen für Rehabilitation bei Langzeiterkrankungen sind gegeben.

Teilziel 5.2

Eine koordinierte, differenzierte und kontinuierliche Langzeitbehandlung ist gesichert.

Teilziel 5.3

Depressiv Kranken ist es möglich, entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit am Erwerbsleben teilzunehmen.

Aktionsfeld Versorgungsstruktur

Ziel 6

Die Versorgungsstrukturen (ambulante und stationäre Einrichtungen, Rehabilitationskliniken etc.) sind jedem depressiv Erkrankten bedarfsgerecht zugänglich.

Teilziel 6.1

Depressive Patienten haben einen niedrigschwelligen Zugang zu Versorgungseinrichtungen.

Teilziel 6.2

Die ambulante Versorgung wird den tatsächlichen Versorgungserfordernissen angepasst.

Teilziel 6.3

Stationäre Versorgungseinrichtungen in der Akutversorgung wie Rehabilitation sind in ihrer Ausstattung für depressive Patienten angemessen.

Teilziel 6.4

Strukturen der Arbeitswelt nehmen Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse depressiv Erkrankter.

Tab. 1.2: Maßnahmen des Aktionsfeldes Versorgungsstruktur. (modifiziert nach dem Bericht des Bundesministeriums für Gesundheit (2006) Depressive Erkrankungen: verhindern, früh erkennen, nachhaltig behandeln. gesundheitsziele.de. Forum zur Entwicklung und Umsetzung von Gesundheitszielen in Deutschland, S. 33–34)

Aktionsfeld Versorgungsstruktur

Die Versorgungsstrukturen (ambulante und stationäre Einrichtungen, Rehabilitationskliniken etc.) sind jedem depressiv Erkrankten bedarfsgerecht zugänglich.

Teilziele

Maßnahmen

Teilziel 6.1

Depressive Patienten haben einen niedrigschwelligen Zugang zu Versorgungseinrichtungen

  • Verbesserte Koordination des Zugangs zu den vorhandenen Versorgungseinrichtungen
  • Schaffung von Strukturen, die eine sprechende Medizin fördern

Teilziel 6.2

Die ambulante Versorgung wird den tatsächlichen Versorgungserfordernissen angepasst.

  • Überprüfung der Bedarfsplanung für die ambulante und stationäre Versorgung und des Verfahrens der Bedarfsplanung unter Berücksichtigung der Prävalenzen depressiver Störungen, insbesondere für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen
  • Erfassung des regionalen Versorgungsbedarfs und entsprechende Festlegung des regional benötigten spezifischen Versorgungsangebotes (z. B. gemeindenahe Institutsambulanzen, Beratungsstellen, ambulante psychiatrische Pflege)
  • Überprüfung der Leistungskataloge in den Gebührenordnungen und entsprechend der sich verändernden Prävalenz aller Erkrankungen
  • Schaffung von zielgruppenorientierten und koordinierten Versorgungsangeboten, z. B. durch Verträge im Rahmen der Integrierten Versorgung nach § 140 ff SGB V, der Hausarztzentrierten Versorgung nach § 73 b SGB V, der Förderung der Qualität in der vertragsärztlichen Versorgung nach § 73 c SGB V (siehe Punkt 3.4)

Teilziel 6.3

Stationäre Versorgungseinrichtungen in der Akutversorgung wie Rehabilitation sind in ihrer Ausstattung für depressive Patienten angemessen.

  • Indikations- und zeitgerechter Zugang depressiver Patienten zu Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation; Rehabilitationskliniken sind besser in die regionalen Versorgungsstrukturen für depressive Patienten zu integrieren
  • Entbürokratisierung bei planbaren Behandlungsmaßnahmen (ambulant, stationär, Rehabilitation)
  • Stationäre Behandlungseinrichtungen halten speziell auf depressive Patienten abgestimmte Stationen und/oder Behandlungsmodule vor

Teilziel 6.4

Strukturen der Arbeitswelt nehmen Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse depressiv Erkrankter.

  • Betriebsärzte und betriebliches Gesundheitsmanagement integrieren Maßnahmen zur Prävention depressiver Erkrankungen ebenso wie die Fürsorge für depressive Mitarbeiter
  • Aufbau von Abstimmungsverfahren zwischen Betrieben, Arbeitsagentur, Krankenkassen oder Rentenversicherungsträger, um bei irreversiblen Fähigkeitseinschränkungen depressiver Patienten Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation einleiten zu können

Eine weitere Zielformulierung legt die Stellungnahme des Arbeitskreises zur Weiterentwicklung der Psychiatrischen Versorgung im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) vom Dezember 2005 vor. Der Arbeitskreis hat seinen Bericht in folgende Abschnitte eingeteilt: