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Brennpunkt Schule

Herausgegeben von

Norbert Grewe

Herbert Scheithauer

Wilfried Schubarth

Heidrun Bründel

Notfall Schülersuizid

Risikofaktoren, Prävention, Intervention

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-025886-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-025887-7

epub:    ISBN 978-3-17-025888-4

mobi:    ISBN 978-3-17-025889-1

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Inhalt

 

 

  1. Vorwort
  2. I Suizid von Kindern und Jugendlichen
  3. 1 Suizidalität
  4. 2 Epidemiologie
  5. 2.1 Suizidhäufigkeit
  6. 2.2 Geschlechtsspezifische Unterschiede
  7. 2.3 Methodenwahl
  8. 3 Risikofaktoren
  9. 3.1 Depression
  10. 3.2 Belastende Lebensbereiche
  11. II Angloamerikanische Suizidpräventionsprogramme
  12. 1 Programmentwicklung in den 1980er und 1990er Jahren
  13. 2 Einsetzende Kritik an den Programmen
  14. 3 Einteilung in Programmkategorien und ihre kritische Wertung
  15. 3.1 Psychoedukative Präventionsprogramme
  16. 3.2 Screeningverfahren
  17. 3.3 Gatekeeper-Programme
  18. 3.4 Postventive Interventionen
  19. III Deutschsprachige Maßnahmen zur Suizidprävention in Schulen
  20. 1 Notfallpläne
  21. 2 Richtlinien für das Verhalten nach einem Suizid
  22. 3 Fortbildungsveranstaltungen
  23. 4 Unterrichtseinheiten
  24. IV Gesundheitsförderung
  25. 1 Studien zur Gesundheit von Jugendlichen
  26. 2 Die Bedeutung der Schule für die Gesundheitsförderung
  27. 3 Förderung der positiven Entwicklung von Schülerinnen und Schülern
  28. 4 MindMatters – Förderung der psychischen Gesundheit in und mit Schule
  29. V Wenn das Unvorstellbare passiert – Suizid eines Schülers
  30. 1 Eine Schule im Schock
  31. 2 Krisenteam und Krisenmanagement
  32. 3 Überbringung der Nachricht an die Schülerschaft
  33. 4 Trauerverarbeitung
  34. 5 Nachsorge
  35. 6 Umgang mit suizidgefährdeten Schülerinnen und Schülern
  36. VI Zusammenfassung
  37. Literatur
  38. Klinische Verfahren für Kinder und Jugendliche zur Abklärung depressiver Symptome
  39. Krisen- und Notfallordner

Zusatzmaterial

Als Kopiervorlagen gibt es einen PowerPoint-Foliensatz, der kostenfrei im Internet heruntergeladen werden kann (weitere Informationen finden Sie in Kapitel III, 3), sowie Literaturempfehlungen.

Vorwort

 

 

Der Gesundheitszustand von Jugendlichen wird im Allgemeinen als gut bezeichnet. Jedoch gibt es viele Jugendliche, die sich in ihrem subjektiven Wohlgefühl gestört und damit krank fühlen, auch wenn sie gesund und frei von organischen Krankheiten sind. Gesundheit wird »mehrdimensional als physisches, psychisches, soziales und ökologisches sich wechselseitiges beeinflussendes Wohlbefinden verstanden« (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) 2013, S. 17). Im Unterschied zur physischen Gesundheit wird die psychische Gesundheit oftmals unterschätzt. Sie trägt jedoch in entscheidendem Maße zum Wohlbefinden bei. Dies hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2005 mit dem Slogan »There is no Health without Mental Health« ausgedrückt.

Der Begriff der psychischen Gesundheit orientiert sich am salutogenetischen Modell von Antonovsky (1997). Es besagt, dass psychische Gesundheit nicht mit bloßer Abwesenheit von psychischen Störungen gleichgesetzt werden kann, sondern an die Fähigkeit gekoppelt ist, sich flexibel und angemessen auf externe und interne Lebensbedingungen einzustellen. Das wiederum erfordert, eigene Potentiale zu verwirklichen und Freude am Dasein zu empfinden. Letzteres ist besonders für Jugendliche wichtig, denn was für sie zählt, ist die augenblickliche Daseins- und Lebensfreude, die sie allerdings in ihren Lebensbereichen Familie, Schule, Peers nicht immer empfinden. Häufig erleben sie dort Kränkungen und Frustrationen, die zu Niedergeschlagenheit, Ängsten und Depressionen führen.

Die psychische Gesundheit ist – wie auch die physische Gesundheit – ein momentaner Balanceakt, der ständig neu austariert werden muss. Schon das nächste stressende Ereignis kann die Balance wieder aus dem Gleichgewicht bringen. Die Jugendphase ist eine Entwicklungsphase mit hohen Anforderungen, an denen nicht wenige Jugendliche scheitern. Fehlen Ressourcen und Schutzfaktoren in Familie, Schule und im Freizeitbereich, stellen sich Einsamkeitsgefühle, Hoffnungs- und Hilflosigkeit ein, die langfristig zu suizidalen Gedanken führen können. Die tragische Folge psychischer Erkrankungen, insbesondere der Depression, ist der Suizid, der bei Jugendlichen zur zweithäufigsten Todesursache zählt. Allein im Jahr 2012 starben in Deutschland insgesamt 580 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 10–25 Jahren durch Suizid, davon 450 männliche und 130 weibliche (www.gbe-bund.de: Statistisches Bundesamt, Suizidtabellen; Stand: 3.9.2014).

Unter Suiziden von Kindern und Jugendlichen leiden nicht nur Eltern, Geschwisterkinder, Großeltern und alle Anverwandten, sondern auch Klassenkameraden, Mitschüler und Lehrkräfte. Jeder Suizid eines Schülers oder einer Schülerin löst Entsetzen, Schock, unendliche Trauer, aber auch Gefühle wie Scham, Schuld und Wut aus. Fragen und Selbstvorwürfe tauchen auf, warum niemand die Suizidgefährdung des betreffenden Schülers oder der Schülerin erkannt habe.

Im vorliegenden Buch werden Lehrkräfte, Sozialpädagogen, Schulpsychologen und alle an der Thematik Interessierten in stringenter Form über die Suizidproblematik junger Menschen – insbesondere den Schülersuizid – informiert. Es wird gezeigt, wie Suizidgefährdung von Schülerinnen und Schülern erkannt werden kann und wie damit in der Schule umgegangen werden sollte.

Ausführlich werden sowohl angloamerikanische als auch deutschsprachige Suizidprogramme und Unterrichtseinheiten dargestellt. Neu in diesem Buch ist, Hintergrund- und Handlungswissen mit den Erfahrungen zu verknüpfen, die überwiegend in angloamerikanischen Ländern gemacht worden sind. Es werden besonders Euphorie, Skepsis und Irrtümer bei der Entwicklung jener Programme herausgearbeitet. Bemerkenswert ist, dass qualifizierte, systematische Studien zur Wirksamkeit bei der Mehrzahl der angloamerikanischen Programme fehlen, so dass von einer Evidenzbasierung zur Suizidprävention und -intervention nicht die Rede sein kann. Daher sind die bisherigen internationalen, aber auch nationalen Maßnahmen kritisch zu bewerten.

Trotz des Fehlens evidenzbasierter Qualifikationsmaßnahmen und methodischer Schwächen vieler Studien zur Suizidprävention und -intervention an Schulen bleibt es dennoch sinnvoll und wichtig, Schulleitungen, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern darin zu unterstützen, professionell und einfühlsam auf den Notfall Schülersuizid zu reagieren. Im vorliegenden Buch werden konkrete Handlungsmöglichkeiten nach einem Suizid sowie Vorgehensweisen bei Suizidverdacht dargestellt.

In der Früherkennung von Suizid und Suizidalität im Unterricht geht es darum, sich nicht zu einseitig auf Themen wie Suizid und Suizidalität festzulegen, sondern ressourcenorientiert im Sinne einer ganzheitlichen Gesundheitsförderung vorzugehen. Dies wird u. a. exemplarisch an einem Programm zur Gesundheitsförderung dargestellt.

Gütersloh, im Juni 2014

Heidrun Bründel

I

Suizid von Kindern und Jugendlichen

 

 

In der älteren deutschen Literatur – vom Anfang des vorigen Jahrhunderts bis in die 1990er Jahre – wurde überwiegend der Begriff ›Selbstmord‹ für alle Handlungen benutzt, die das Ziel hatten, das eigene Leben zu beenden (Gaupp 1905; Budde 1908; Gurlitt 1908; Farberow & Shneidman 1961; Stengel 1969; Feuerlein 1973; Ringel 1953; 1986; 1989). In der jüngeren Literatur dagegen hat sich der Begriff ›Suizid‹ durchgesetzt. Während ›Selbstmord‹ stark wertend ist, leitet sich ›Suizid‹ aus dem Lateinischen ab und enthält sich jeglicher Wertung. Farberow und Shneidman (1961) halten den Begriff ›Selbstmord‹ aus zweierlei Gründen für einen ›psychosemantischen Irrtum‹: Erstens will derjenige, der seinem Leben ein Ende setzt, häufig nicht wirklich sterben, sondern im Grunde ein anderes Leben führen. Das wird durch die beiden Sätzen, ›sich das Leben nehmen‹ und ›sich das Leben nehmen‹, deutlich, wenn sie mit unterschiedlicher Betonung gelesen werden. Malchau (1987) bezeichnet die suizidale Handlung als ›Überlebensoption‹, als einen verzweifelten Versuch, dem eigenen Leben eine Kehrtwendung zu geben. Zweitens bringt sich niemand aus niederen Beweggründen um, wie es die Bezeichnung ›Mord‹ nahelegt, sondern in vielen Fällen aus reiflicher Überlegung und nach anhaltender Verzweiflung, weil kein anderer Ausweg mehr gesehen wird.

Weitere Begriffe sind die der Selbstverletzung, Selbstschädigung und Selbstaggression. Sie können nur bedingt mit suizidalen Handlungen in Verbindung gebracht werden, weil ihnen sehr oft andere Intentionen zugrunde liegen, wie Spannungsabfuhr und Identitätssicherung (Kaess 2012), und ihnen die Selbsttötungsabsicht fehlt. Aber es gibt fließende Übergänge zwischen selbstverletzenden und suizidalen Tendenzen.

1

Suizidalität

 

 

Unter Suizidalität werden »sämtliche Gedanken und Handlungen« verstanden, »die mit der Absicht verbunden sind, das eigene Leben zu beenden« (Chehil & Kutcher 2013, S. 33). Suizidalität umfasst Suizidgedanken, Suizidabsichten, Suizidpläne, Suizidversuche und Suizide.

Suizidgedanken können punktuell und fluktuierend sein, sie stellen erst dann ein höheres Risiko dar, wenn sie hartnäckig und intensiv, unkontrollierbar und anhaltend auftreten. Suizidgedanken können plötzlich einsetzen oder latent über einen längeren Zeitraum vorhanden sein. Es gibt fließende Übergänge zwischen beherrschbaren und unkontrollierbaren Gedanken. Aktive Suizidgedanken sind gefährlicher als passive, sie drängen sich auf und führen zu einem großen Handlungsdruck, den Wunsch zu sterben in die Tat umzusetzen.

Suizidabsichten sind Vorüberlegungen des geplanten Handelns und – soweit sie geäußert werden – Vorankündigungen. Sie drücken den Wunsch zu sterben aus und manchmal auch schon die Art und Weise, wie der Betreffende seine Absicht in die Tat umzusetzen gedenkt.

Suizidpläne beinhalten die Methode der suizidalen Handlung, den Zeitpunkt und den Ort der Ausführung. Je gründlicher und konkreter diese sind, desto größer ist die Gefährdung des Betreffenden.

»Suizidal ist, wer von Selbstmord spricht« (Rupp 2010). Diese Aussage weist auf die zunehmende Konkretion hin, die sich in der Entwicklung von Suizidgedanken über Suizidabsichten und Suizidplänen bis zur suizidalen Handlung zeigt. Suizidalität ist ein Prozess, der sich über mehrere Stadien erstreckt und für Jugendliche wie auch für Erwachsene zutrifft (Images Abb. 1).

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Abb. 1: Stadien der suizidalen Entwicklung (nach Pöldinger 1968)

Suizidversuche sind nichttödlich verlaufende suizidale Handlungen, die jedoch »mit einem gewissen Maß an Absicht zu sterben« ausgeführt wurden (Teismann & Dorrmann 2014, S. 3). Sie sind sehr viel häufiger als vollendete Suizide und werden vor allem von weiblichen Jugendlichen unternommen. Da Suizidversuche in der Statistik nicht erfasst werden, ist mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen. Schließt man Erwachsene mit ein, kann man sagen, dass ein Fünftel aller Menschen nach einem ersten Suizidversuch einen zweiten begeht, wobei die dann gewählte Methode gefährlicher und die Möglichkeit, gefunden zu werden, geringer ist sowie erste Folgeschäden wahrscheinlicher sind (Chehil & Kutcher 2013).

Wolfersdorf (2011, S. 30) unterscheidet zwischen zwei Subformen der Suizidalität. In der einen Subform stehen appellative und manchmal auch intentional-manipulative Kommunikationselemente im Vordergrund. Diese drücken häufig die Enttäuschung und Kränkung des Betroffenen darüber aus, dass er verlassen, enttäuscht oder auch gekränkt worden und es ihm daher unmöglich ist, mit diesem Schmerz weiterzuleben. Bei Jugendlichen ist das oftmals der Freund oder die Freundin. Vorrangig dabei ist nicht so sehr der Wunsch zu sterben, sondern der Apell an die »signifikant Anderen«, Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Von einigen Autoren wird auf das geringere aggressive Potential verwiesen, das sich in der Wahl einer ›weichen‹ Methode und eines Ortes in der Nähe des Elternhauses sowie in der Art von Ankündigungen zeigt, wie versteckte und offene Botschaften, Tagebucheintragungen, Briefe an die Eltern etc. (Farberow & Shneidman 1961; Stengel 1969; Feuerlein 1973; Rausch 1985).

Die andere Subform steht für diejenigen Suizidversuche, die zwar mit einem hohen Todeswunsch einhergehen, jedoch durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren nicht letal enden. Gerade bei Kindern unter zehn Jahren und bei jüngeren Jugendlichen kann – in Verkennung der Wirksamkeit der Mittel – aus einem eventuell angedachten Suizidversuch ein Suizid werden.

Die Frage, ob es qualitative oder nur quantitative Unterschiede zwischen Suizidversuchen und Suiziden gibt, ob die Motivation, zu sterben bzw. zu überleben, dieselbe ist, wird bis heute unterschiedlich beantwortet. Aber Einigkeit besteht darin, dass es eine Bewertung in ernsthaft und weniger ernsthaft, in erpresserisch und demonstrativ nicht geben darf, eben weil der Ausgang einer Suizidhandlung unabhängig von der Motivation auch vom reinen Zufall abhängen kann. Vorangegangene Suizidversuche erhöhen die Gefahr eines nachfolgenden Suizids (Brunstein Klomek, Krispin & Apter 2009; Miller & Eckert 2009).

Kind (2005, S. 13) unterscheidet zwischen basaler und aktueller Suizidalität. Erstere ist dann gegeben, wenn Risikofaktoren wie Isolation, Lebenskrisen, psychiatrische Grunderkrankungen und vorangegangene Suizidversuche vorhanden sind. Die basale Suizidalität kann jedoch in eine aktuelle übergehen, wenn auslösende Faktoren hinzukommen. Bei Jugendlichen sind das häufig Trennungserlebnisse und Liebesabbrüche, Kränkungen und Bloßstellungen, Ausgrenzungen und Ablehnungen sowie Misserfolge im schulischen Bereich. Die aktuelle Suizidalität manifestiert sich fast immer innerhalb einer Beziehung und richtet sich auf oder gegen eine Zielperson (Freundin/Freund, Eltern, Lehrkraft).

2

Epidemiologie

Suizide von Kindern und Jugendlichen sind im Vergleich zu Suiziden Erwachsener seltene Ereignisse. Kinder und Jugendliche gehören im Allgemeinen einer Altersgruppe an, die physisch gesund ist. Dennoch sind Suizide unter jungen Menschen ein großes, globales Problem (Apter, Bursztein, Bertolote et al. 2009). Suizide von Jugendlichen kommen in allen Ländern der Welt vor.

2.1        Suizidhäufigkeit

Die Datenbasis der Weltgesundheitsorganisation (WHO), aus der die Höhe der jeweiligen Suizidraten hervorgeht, ist nicht vollständig, da noch nicht alle Jahre erfasst sind. Leider werden die Altersgruppierungen in den Länderstatistiken unterschiedlich gehandhabt, so dass die Vergleichbarkeit erschwert wird. Dennoch kann für diejenigen Länder und Staaten, die Mitglied der WHO sind und Statistiken führen, gesagt werden, dass die Suizidrate für 15- bis 19-jährige Jugendliche in Ländern wie Sri Lanka, Russland, Litauen, Finnland und Neuseeland im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch ist (Wasserman, Cheng & Jiang 2006). Gemeinsam ist allerdings der Mehrzahl der Länder der Welt, dass männliche Jugendliche weit häufiger Suizid begehen als weibliche (a. a. O.). Das gilt jedoch nicht für China, Cuba, Ecuador, El Salvador und Sri Lanka. In diesen Ländern übersteigt die Anzahl der Suizide weiblicher Jugendlicher die der männlichen (a. a. O.).

Im Kindesalter ist die Suizidhäufigkeit gering. Das hängt mit dem Todesverständnis von Kindern zusammen, das noch nicht von den Kennzeichen des Todesbegriffs geprägt ist wie Universalität, Irreversibilität und Erlöschen aller Lebensfunktionen (Bründel 2004). Weiterhin können folgende Faktoren auf die geringe Anzahl kindlicher Suizide zurückzuführen sein (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2007):

Images  engere Beziehung und größeres Vertrauen zu den Eltern

Images  größere emotionale Ausdrucksbereitschaft

Images  Unkenntnis darüber, dass sich der Tod willentlich herbeiführen lässt

Images  geringere Fähigkeit, langfristig zu planen

Images  Unvermögen, geplante Handlungen zielstrebig auszuführen

Images  Unsicherheit, zwischen gefährlichen und ungefährlichen Methoden zu unterscheiden

Images  geringere Kompetenz zur Ich-Reflexion

Images  geringere Neigung zur Selbstentwertung

Auch wenn Suizide von Kindern unter zehn Jahren sehr selten sind, so können Kinder doch Todeswünsche haben, vor allem dann, wenn sie schon viel Leid erfahren haben wie Trennung von der Mutter, Verlust, Krieg, Zerstörung, Krankheit.

Die Suizidhäufigkeit steigt mit dem Alter der Kinder und Jugendlichen in hohem Maße an. Besonders hoch ist sie in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen. Dieser Zeitabschnitt ist durch die Jugendphase und das Alter der jungen Erwachsenen gekennzeichnet. In ihm kommen starke Gefühle vor: Glücksgefühle, die mit den ersten sexuellen Erfahrungen und Liebeserlebnissen, aber auch mit Enttäuschungen verbunden sein können. Freundschaftsabbrüche, Trennungen, Auseinandersetzungen mit den Eltern, schulische und berufliche Misserfolge führen oftmals zu einem Gefühlschaos aus Trauer, Frustration und Wut. Junge Menschen auf der Suche nach der eigenen Identität sind leicht zu verunsichern und zu kränken. Sie neigen dazu, ›die Flinte ins Korn zu werfen‹ und vorschnelle Entscheidungen zu treffen.

Um Suizidziffern vergleichen zu können, werden zusätzlich zu den absoluten Zahlen in der Statistik des Bundesamtes auch die relativen Zahlen (pro 100.000 der entsprechenden Altersgruppe) angegeben. Das ist vor allem dann sehr wichtig, wenn man die Suizidraten der einzelnen Länder vergleichen und feststellen möchte, ob Suizide in den einzelnen Ländern im Verlauf der Jahrzehnte zu- oder abgenommen haben.

Im Folgenden werden die Suizidhäufigkeiten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen gemäß den Angaben des Statistischen Bundesamts in vier Altersgruppen (5 bis < 10; 10 bis < 15; 15 bis < 20 und 20 bis < 25 Jahren) und in jeweils 10 Jahresabschnitten angegeben (Images Tab. 1, 2 und Images Tab. 3).

Jahr m/w 5 bis < 10 J.10 bis < 15 J.15 bis < 20 J.20 bis < 25 J.Abs. Rel. Abs. Rel. Abs. Rel. Abs. Rel.

Tab. 1: Anzahl der Suizide in Deutschland in den Jahren 1980–1989 in absoluten und relativen Zahlen (pro 100.000 der jeweiligen Altersgruppe)

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Tabelle 1 wie auch die folgenden Tabellen 2 und 3 zeigen, dass die Suizidrate der Unter-10-Jährigen sehr niedrig ist. Das hängt mit entwicklungspsychologischen Gegebenheiten und mit ihrem kindlichen kognitiv-emotionalen Todesverständnis zusammen. Aus Tabelle 1 wird deutlich, dass die Anzahl der Suizide über alle Altersbereiche – mit Ausnahme der Unter-10-Jährigen – vom Anfang bis Mitte der 1980er Jahre sehr hoch ist und bis 1989 allmählich abnimmt. Dieser Abwärtstrend setzt sich in den folgenden Jahren von 1990–1999 und 2000–2012 mit geringfügigen Schwankungen fort (Images Tab. 2 und Images Tab. 3):

Jahr m/w 5 bis < 10 J.10 bis < 15 J.15 bis < 20 J.20 bis < 25 J.Abs. Rel. Abs. Rel. Abs. Rel. Abs. Rel.

Tab. 2: Anzahl der Suizide in den Jahren 1990–1999 in absoluten und relativen Zahlen (pro 100.000 der jeweiligen Altersgruppe)

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Jahr m/w < 10 J.10 bis < 15 J.15 bis < 20 J.20 bis < 25 J.Abs. Rel. Abs. Rel. Abs. Rel. Abs. Rel.

Tab. 3: Anzahl der Suizide in den Jahren 2000–2012 in absoluten und relativen Zahlen (pro 100.000 der jeweiligen Altersgruppe)

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Worauf die allmähliche Abnahme der Suizidhäufigkeiten in allen Altersbereichen von 1980–2012 zurückzuführen ist, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Viele Faktoren, wie z. B. Änderung der Erziehungsstile und des familiären Klimas, erhöhte Sensibilität für Suizidgefährdung, verbesserte Präventionsmaßnahmen etc., könnten dafür verantwortlich sein.

2.2        Geschlechtsspezifische Unterschiede

Aus den drei Tabellen wird ebenfalls deutlich, dass es in allen Altersbereichen große Unterschiede in der Anzahl der Suizide von Mädchen und Jungen gibt. Schon in der Altersgruppe der 10- bis 15-Jährigen ist die Anzahl der Suizide von Jungen weit höher als die der Mädchen, bei den 15- bis 20-Jährigen bringen sich dreimal so viele männliche Jugendliche im Vergleich zu weiblichen um, und bei der nächsthöheren Altersgruppe, die der 20- bis 25-Jährigen, sind es fast viermal so viele. Die Gründe dafür liegen u. a. auch in geschlechtsspezifischen Sozialisationseinflüssen, wie unterschiedliches Erziehungsverhalten der Eltern und damit zusammenhängenden zugeschriebenen Rollenverhaltensweisen. Männliche Jugendliche und junge Erwachsene bevorzugen externalisierende Formen der Konfliktbearbeitung, sind eher bereit, körperliche Gewalt gegen sich und andere anzuwenden, und gehen Handlungsimpulsen mit größerer Intensität und Kompromisslosigkeit nach. Ihr Lebensstil ist wesentlich riskanter als der von weiblichen Jugendlichen und Erwachsenen.

2.3        Methodenwahl

Für den großen Unterschied in der Anzahl der Suizide männlicher und weiblicher Jugendlicher ist auch die Wahl der Suizidmethode verantwortlich. Es handelt sich um die sog. ›harten‹ Methoden, die ein Überleben mit großer Wahrscheinlichkeit unmöglich sein lassen.

In den Jahren 1980, 1990 und 1997 haben sich männliche und weibliche Jugendliche weitaus häufiger für die sog. weichen Methoden, wie z. B. die Selbstvergiftung und die Selbsttötung durch Ertrinken, als in den späten 2000er Jahren entschieden. Eine Erklärung dafür lässt sich nur schwer finden. In den Jahren ab 2008 dagegen haben beide Geschlechter auch die ›harten‹ Suizidmethoden wie Erhängen, Strangulieren oder Ersticken, den Sturz in die Tiefe oder das Sich-vor-bewegende-Objekte-Werfen angewendet; die männlichen Jugendlichen allerdings in einem weitaus höheren Ausmaß als die weiblichen.

3

Risikofaktoren

3.1        Depression