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Michael Dieterich

Einführung in die Allgemeine

Psychotherapie und Seelsorge

Michael Dieterich

Einführung

in die Allgemeine

Psychotherapie und Seelsorge

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2. Auflage 2009

© 2001 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH Co. KG, Witten

Umschlag: Krausswerbeagentur.de, Herrenberg

Satz: QuadroMedienService, Bergisch Gladbach-Bensberg

Druck: Jesusbooks, Großburgwedel

ISBN 978-3-417-21945-6 (E-Book)

ISBN 978-3-417-24702-2 (lieferbare Buchausgabe)

Bestell-Nr. 224.702

Datenkonvertierung E-Book:

Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH, 80801 München

VORWORT

Einige Zeit ist schon vergangen, seit ich mit den ersten Zeilen zu diesem Buch begonnen habe, mit der Absicht, die Erfahrungen der letzten 20 Jahre meiner Tätigkeit als Seelsorger und Psychotherapeut zusammenzutragen. Die Inspiration hierzu gab der von mir sehr geschätzte Seelsorger Prof. Werner Jentsch. Kurz vor seinem Tode sagte er bei einem Gespräch in München: »Schreiben Sie doch nicht nur ab, wie das so viele Hochschullehrer tun, sondern veröffentlichen Sie auch mal ein Buch, das von Ihnen selbst stammt …«

Leichter gesagt als getan, dachte ich, denn wie kann man im akademischen Betrieb überleben, wenn man nicht vorab in einem historischen Rückblick möglichst umfassend zusammenträgt, was es auf dem Fachgebiet schon gegeben hat. Und: Sollte es bei einer doch schon so etablierten Disziplin wie der Psychotherapie bzw. der Seelsorge überhaupt noch Neuigkeiten geben?

Ich habe für dieses Buch einen Kompromiss geschlossen: Es sollen sowohl die bekannten Schulen beschrieben als auch versucht werden, Innovationen zu liefern. Solche Neuigkeiten habe ich allerdings weniger durch das Literatur-Studium, sondern während der praktischen Erfahrung gefunden. Wesentlich dazu beigetragen haben die unzähligen Diskussionen mit und die Ausbildung von so genannten. »Laienseelsorgern«, also Männern und Frauen, die in der täglichen Praxis stehen, eine relativ kurze Ausbildung (ca. 500 Stunden) erworben haben – und die mit dieser für Fachleute unzureichenden Theoriebildung trotzdem zu ganz erstaunlichen Erfolgen gekommen sind. Sie waren meine Lehrmeister und haben manche akademische Diskussion deutlich relativiert.

Danken möchte ich aber auch meinen Studierenden. Es war eine Freude, mit ihnen zusammen Seminare zu gestalten und die Grundannahmen von Theologen und Psychotherapeuten kritisch zu hinterfragen. Einige meiner ehemaligen Mitarbeiter haben bei Recherchen zur Psychotherapie und zur Seelsorge mitgeholfen, ihnen danke ich auf diesem Wege recht herzlich.

Wichtig war es für mich, dass ich alle Gedanken zu diesem Buch mit meiner Frau besprechen konnte – dies war eine unbezahlbare Hilfestellung. Sie hat auch die Unterlagen für den Praxisfall bereitgestellt.

Ganz wesentlich aber – und dies soll nicht verschwiegen werden – waren es die vielen Kämpfe auf unterschiedlichsten Ebenen in den vergangenen Jahren, die dazu beigetragen haben, dass dieses Buch entstehen konnte. Der fränkische Theologe Hermann Bezzel (1861-1917) sagte einstens dazu (1914, 461):

»Nicht Satte können andere trösten, sondern Gespeiste, nicht Sichere können anderen die Not ihres Lebens sagen, sondern Gewisse, nicht Fertige können dem Volk sein tiefstes Elend recht schildern, sondern Gereifte …«

Freudenstadt, im Sommer 2001                              Michael Dieterich

1 Einleitung

1.1 Zur Zielsetzung dieses Buches

In der Zusammenfassung zu ihrem Buch »Psychotherapie im Wandel« formulieren die Autoren mit bisher selten gehörtem Mut (vgl. Grawe, Donati, Bernauer 1994,1): »Über Jahrzehnte hin herrschten in der Psychotherapie gleichsam mittelalterliche vorwissenschaftliche Verhältnisse. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten hat so etwas wie eine Aufklärung begonnen, eine im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Psychotherapie. Glauben wird allmählich durch Wissen ersetzt, abergläubische Rituale durch professionelles Handeln. Die Aufklärung ist aber noch nicht weit in das öffentliche Bewusstsein vorgedrungen, auch nicht in das der Fachöffentlichkeit, und die psychotherapeutische Praxis hinkt den wissenschaftlichen Erkenntnissen nur widerstrebend hinterher. Glaubens- und Interessengemeinschaften, die an der Erhaltung der bestehenden Verhältnisse interessiert sind, sperren sich gegen den Einzug aufgeklärter Vernunft und Professionalität in ihrer Bastion sorgsam gehüteter geheimnisvoller Undurchsichtigkeit und verschleierter Ineffizienz.«

Die hier vorliegende Publikation möchte dazu beitragen, im Sinne der genannten Autoren der Psychotherapie zu einem wissenschaftlichen Verständnis zu verhelfen.

Bedingt durch meine langjährigen Theorie- und Praxiserfahrungen bin ich allerdings zu der festen Überzeugung gelangt, dass es nicht ausschließlich empirisch überprüfbare Ergebnisse sein können, die zur Heilung von seelischen Leiden beitragen – hier ist m.E. eine gewisse Einseitigkeit bei Grawe et al. festzustellen, die dann von ihren Kritikern auch entsprechend aufgenommen wurde (vgl. u.a. Mertens 1994).

Im Unterschied zu den Arbeiten von Grawe et al. soll deshalb mit meinem Beitrag versucht werden, Wissenschaftlichkeit nicht ausschließlich auf Empirie zu beschränken. Damit kann dieses Buch für jeden professionell »an der Seele« Arbeitenden – ob es sich um den Arzt, Psychotherapeuten, Theologen, Seelsorger, Lehrer usw. handelt – Hilfestellungen anbieten.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass es ganz verschiedene Zugangsweisen gibt, mit denen das Ziel dieses Buches – Hilfestellung für Psychotherapie und Seelsorge zu geben – erreicht werden kann, und will deshalb vorab die von mir gebrauchte Epistemologie darstellen – denn jede wissenschaftliche Publikation ist anfechtbar, wenn sie nicht ihre anthropologischen Hintergründe bzw. Zielsetzungen offen legt. Deshalb soll dem Leser die Konsequenz meiner Gedankengänge bereits auf den ersten Seiten dargestellt und die Einzelheiten dann in den nachfolgenden Kapiteln aufgefächert werden.

–  Ich gehe davon aus, dass zwischen Anthropologie, Psychopathologie und Psychotherapie ein eindeutiger Zusammenhang besteht. Das heißt die jeweilige Sicht, mit der der Mensch (bzw. seine »Seele«) beschrieben wird (Anthropologie), führt konsequenterweise zu einer Erklärung von seelischen Störungen (Psychopathologie), und darauf baut sich dann eine entsprechende Therapie auf, die den Weg zur Gesundung bzw. Heilung führt.

–  Damit ergibt sich für die wissenschaftliche Psychotherapie die Notwendigkeit, das Stammwort »Psyche« so eindeutig wie möglich zu beschreiben. Dabei kommt man mit der in der Psychologie üblichen empirisch orientierten Definition, die vom »Verhalten und Erleben« ausgeht, nicht mehr aus und wird zwingend auf die Fragestellungen zum »Leib-Seele-Problem« verwiesen. Ich werde weiter unten zeigen, dass der kartesische »Leib-Seele-Dualismus« nicht – wie einige philosophische Schulen dies anstreben - in die Richtung des Monismus hin zu entwickeln wäre, sondern eher ein Trialismus für ganzheitliche psychotherapeutische Überlegungen hilfreich sein kann. Dabei ergibt sich dann konsequenterweise, dass psychotherapeutische Ansätze somatische, mentale und religiöse (»pneumatische«) Aspekte enthalten müssen, wenn sie einer ganzheitlichen Sichtweise entsprechen wollen.

Aus diesem Trialismus folgernd wird hier schon angedeutet, dass nur drei prinzipielle Möglichkeiten der Veränderung psychischer Störungen (die ggf. miteinander interagieren) möglich sind:

1.  Durch medizinische Hilfestellungen (derzeitig überwiegend durch Psychopharmaka).

2.  Durch psychologische Strategien im Sinne von Lernprozessen (u.a. Lernen durch Konditionierung, Imitation und durch Einsicht).

3.  Durch religiöse Hilfestellungen (die deutlich von den beiden anderen Veränderungsmöglichkeiten abgegrenzt sein sollen; z.B. Gebet, Glaube usw.).

Ich gehe für die Psychotherapie bzw. Seelsorge davon aus, dass die Wirkmechanismen aller bekannten Methoden durch eine oder mehrere der drei genannten Veränderungsmöglichkeiten, bzw. auch ihrer Interdependenz, erklärbar sind.

–  Schwerpunkt dieses Buches wird es sein – bedingt durch die wissenschaftliche Herkunft des Verfassers –, diejenigen Aspekte genauer zu untersuchen, die im psychisch-mentalen Bereich der Veränderungsmöglichkeiten liegen. Dabei zeigt sich, sofern man bereit ist, die verschiedenen psychotherapeutischen Methoden mit genügend Abstand zu betrachten sowie auf die »abergläubischen Rituale« (vgl. Grawe et al. 1994, 1) zu verzichten, eine deutliche Reduktion. Aufgabe der hier vorliegenden Publikation wird es sein, zu zeigen, dass es sich bei den Wirkmechanismen der allermeisten psychotherapeutischen Schulen im Grunde genommen nur um didaktische Varianten eines Lernprozesses handelt.

–  Wenn man die Ergebnisse zur Wirksamkeit der verschiedenen Psychotherapien untersucht, wird immer wieder deutlich, dass (insbesondere unter psychologischem Blickwinkel) die Erfolge bei verschiedenen methodischen Schritten von drei Parametern abhängig sind: von der Persönlichkeit des Therapeuten/Seelsorgers, von der Persönlichkeitsstruktur des Ratsuchenden/Klienten/Patienten und von der Art der spezifischen Störung. Schon im Rahmen meiner ersten Veröffentlichungen zur Seelsorge und Psychotherapie (vgl. Dieterich 1987, 51) habe ich versucht, dies in Kurzform formelhaft in einer Gleichung mit drei Unbekannten darzustellen: M = f ( S, R, U).1 Zur Verbesserung der Wirksamkeit kommt dann natürlich noch die Motivation – sowohl des Therapeuten als auch des Ratsuchenden hinzu.

–  Ich gehe davon aus, dass die Entstehungsgeschichte der verschiedenen therapeutischen Schulen weit weniger systematisch und überlegt vonstatten gegangen ist, als man dies oftmals annimmt. Im Gegenteil: Ich vermute, dass es sich dabei um subjektive Erkenntnisse der jeweiligen Gründer gehandelt hat – die sicherlich nicht falsch waren – jedoch vor dem Hintergrund der individuellen Lebensgeschichte der jeweiligen Begründer (d.h. ihrer spezifischen Personalisation, Enkulturation und Sozialisation), der jeweils herrschenden Weltsicht (d.h. des »common sense«) und durch die Auseinandersetzungen mit den vorangegangenen bzw. nachfolgenden therapeutischen Schulen entstanden sind. Bei einer historischen Betrachtung im Sinne einer Retrospektive zeigt sich deutlich, dass solch subjektive methodische Erkenntnisse nicht selten paradigmatisch generalisiert und als allgemeingültig betrachtet werden. Eine Reduktion auf die Ebene von didaktischen Variablen hilft dann, die Ergebnisse gelassener zu sehen.

–  In dieser Publikation wird bewusst auf die Begegnung zwischen Psychotherapie und Seelsorge eingegangen. In der Praxis findet diese Begegnung nicht selten im Sinne einer Pastoralpsychologie statt. Es ist zu vermuten, dass diese Disziplin in vielen Fällen über zwei Hauptprobleme stolpert:

Zum einen wird versucht, die Grenze zwischen Psychotherapie und Seelsorge sehr scharf zu ziehen und dabei von der Möglichkeit einer eindeutigen Trennung auszugehen.

Zum andern aber werden die pneumatischen Dimensionen der »Seele« entmythologisiert, was zu einer »Psychotherapie im christlichen Kontext« führt, die dann häufig durch die mit der theologischen Arbeit affinen Vorgehensweisen aus den Tiefenpsychologien bestimmt wird.

Deutlich wird in jedem Falle, dass es notwendig sein wird, zu semantischen Abklärungen des Begriffs »Seele« zu kommen – oder einfacher ausgedrückt: zu klären, was unter Psychotherapie bzw. Seelsorge verstanden werden kann. Auch hier will ich schon frühzeitig bemerken – und weiter hinten dann erläutern –, dass entsprechend meiner Epistemologie Seelsorge der Überbegriff und Psychotherapie eine Teilmenge dieser ganzheitlichen Aufgabe ist.

–  Mit diesem Buch sollen nicht nur Theoretiker angesprochen werden. Ich habe deshalb die in langjähriger Erfahrung entwickelten Therapiepläne zusammengestellt und in einem abschließenden Kapitel auch eine Fallgeschichte aufgerollt, an der gezeigt werden soll, wie eine »Allgemeine Psychotherapie und Seelsorge« praktisch ablaufen kann. Dass dabei eine Laien-Seelsorgerin »Hauptakteurin« ist, zeigt, in welchem bedeutenden Umfang die so genannte »Laienarbeit« hilfreich sein kann.

1.2 Über den Rabbi

»… Tag und Nacht liest der Rabbi in heiligen Büchern. Er kann viele schon auswendig, so oft hat er sie gelesen. Aber jedes Wort, ja jeder Buchstabe hat Millionen Seiten, und jede Seite kündet von der Größe Gottes, von der man niemals genug lernen kann.

Tag für Tag kommen die Menschen, denen ein treuer Freund erkrankt ist, eine Mutter stirbt, denen Gefängnis droht, die von der Behörde verfolgt werden, denen der Sohn eingezogen wird, damit er für Fremde exerziere und für Fremde in einem törichten Krieg falle. Oder solche, deren Frauen unfruchtbar sind und die einen Sohn haben wollen. Oder Menschen, die vor einer großen Entscheidung stehen und nicht wissen, was sie zu tun haben.

Der Rabbi hilft und vermittelt nicht nur zwischen Mensch und Gott, sondern, was noch schwieriger ist, zwischen Mensch und Mensch.

Aus weiten Gegenden kommen sie zu ihm. Er hört in einem Jahr die merkwürdigsten Schicksale, und kein Fall ist so verwickelt, dass er nicht einen noch komplizierteren schon gehört hätte. Der Rabbi hat ebenso viel Weisheit wie Erfahrung und ebenso viel praktische Klugheit wie Glauben an sich selbst und sein Auserwähltsein. Er hilft mit einem Rat ebenso wie mit einem Gebet. Er hat gelernt, die Sprüche der Schriften und die Gebote Gottes so auszulegen, dass sie den Gesetzen des Lebens nicht widersprechen und dass nirgends eine Lücke bleibt, durch die der Lügner schlüpfen könnte. Seit dem ersten Tag der Schöpfung hat sich vieles geändert, nicht aber Gottes Wille, der sich in den Grundgesetzen der Welt ausdrückt. Man bedarf keiner Kompromisse, um das zu beweisen. Alles ist nur Sache des Begreifens.

Wer so viel erlebt hat wie der Rabbi, kommt bereits über den Zweifel hinaus. Das Studium des Wissens hat er schon hinter sich. Der Kreis ist geschlossen. Der Mensch ist wieder gläubig. Die hochmütige Wissenschaft des Chirurgen bringt dem Patienten den Tod und die schale Weisheit des Physikers dem Jünger den Irrtum. Man glaubt nicht mehr dem Wissenden, man glaubt dem Glaubenden.

Viele glauben ihm. Er selbst, der Rabbi, macht keinen Unterschied zwischen den treuesten Erfüllern der geschriebenen Gebote und den weniger treuen, ja nicht einmal zwischen Jude und Nichtjude, nicht zwischen Mensch und Tier. Wer zu ihm kommt, ist seiner Hilfe gewiss.

Der Rabbi weiß mehr, als er sagen darf. Er weiß, dass über dieser Welt noch eine andere ist, mit anderen Gesetzen, und vielleicht ahnt er sogar, dass Verbote und Gebote in dieser Welt von Sinn, in einer anderen aber ohne Bedeutung sind. Es kommt ihm auf die Befolgung des ungeschriebenen, aber desto gültigeren Gesetzes an …« (Roth, J. 1976, 26)

2  Abgrenzung und Verhältnis von Psychologie, Psychotherapie und Seelsorge

Wie in der Einleitung angemerkt, sind es oft semantische Unklarheiten, die zu Verwirrungen und Unsicherheiten in der therapeutischen Landschaft führen. Psychologie, Psychotherapie und Seelsorge werden im Volksmund oftmals synonym gebraucht. Und in der Tat gibt es viele Gemeinsamkeiten – jedoch auch, insbesondere vor wissenschaftstheoretischem Hintergrund, gravierende Unterschiede. Unter Wissenschaftstheorie2 verstehe ich nachfolgend die Fragestellung, auf welche Art und Weise man in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen (z.B. in den Naturwissenschaften, in den Sozialwissenschaften, in den Geisteswissenschaften oder auch den theologischen Wissenschaften) zu überprüfbaren Ergebnissen kommt.

2.1  Psychologie

Schon lange vor der Etablierung des Faches »Psychologie« als eigenständige Wissenschaftsdisziplin gab es natürlich Psychologen und ein Verständnis von psychologischem Vorgehen. Damit waren z.B. sensible Beschreibungen von Persönlichkeitsstrukturen, von Gefühlen, Gruppenprozessen usw. in der Literatur oder auf der Bühne usw. gemeint. Im Unterschied zur Beschreibung von körperlichen Funktionen ging es mehr um die immateriellen Qualitäten des Menschen – und fast immer war auch das »Leib-Seele-Problem« (vgl. hierzu das folgende Kapitel) in solchen Überlegungen involviert. Philosophen, Künstler, Theologen und Schriftsteller teilten sich in der Beschreibung der Seele. Wissenschaftlich gesehen war die Psychologie bis etwa zum Jahr 1900 nicht als eigenständiges Fach an den Universitäten etabliert, sondern fand sich in den verschiedenen Disziplinen (überwiegend in den philosophischen Fakultäten) wieder.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es die ersten Versuche, Psychologie als eigenständige Wissenschaft zu begründen. Dabei kam es zu einer Ausdifferenzierung, die bis heute noch nicht überall bekannt ist, was nicht selten zu Missverständnissen führt.

Wilhelm Wundt (1832–1920), Professor für Philosophie, gründete im Jahre 1879 an der Universität Leipzig das erste Psychologielabor, um dort die »Seele« mit einer Wissenschaftsdisziplin zu untersuchen, die auch im Bereich der Medizin und den Naturwissenschaften gebraucht wurde: der empirischen Wissenschaft. Diese Grundannahme entsprach dem Weltbild des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts: Überall begannen Technik und Naturwissenschaft ihren Siegeszug. Bei den empirischen Wissenschaften (z.B. in den Natur- und Sozialwissenschaften) wird heute folgende Reihenfolge zur Erkenntnisgewinnung eingehalten:

1.  Es wird eine Hypothese aufgestellt (diese entspringt dem Forschungsinteresse bzw. der Weltsicht des Forschers, ist also in sich selbst nicht empirisch ableitbar).

2.  Die Hypothese wird so formuliert, dass sie an der Erfahrung scheitern kann.

3.  Die Hypothese wird abgelehnt (falsifiziert) oder angenommen (verifiziert).

4.  Die Ergebnisse sind auf einem bestimmten Sicherheitsniveau (Signifikanzniveau) abgesichert. Sie sind jedoch prinzipiell vorläufig.

Mit seiner Entscheidung, die Empirie als Wissenschaftsmethode für die Psychologie einzuführen, musste Wundt allerdings einige Nachteile in Kauf nehmen.3 Denn um eine Hypothese empirisch überprüfen zu können, muss man die Untersuchung so gestalten, dass die Ergebnisse ermittelt werden können (z.B. durch Zählen, Messen, Beobachten, Beantworten von Fragebogen usw.).

Will man vor einem solchen Hintergrund die »Seele« überprüfen, wird schnell deutlich, dass dies nicht ohne weiteres möglich ist, weil eine breit streuende Meinung darüber herrscht, was damit gemeint ist – und noch mehr unterschiedliche Meinungen, wie man dies wohl messen könne.

So gesehen begannen schon bei der Geburtsstunde der modernen Psychologie deren Probleme deutlich zu werden: Das hypothetische Konstrukt »Seele« war in eine operationale Definition überzuführen. Je nach Vorverständnis dessen, was man mit »Seele« beschreiben möchte, musste nun der »Psychologe« prüfen, welche Teilaspekte des Konstrukts Seele für eine empirische Untersuchung (also Messen, Zählen usw.) überhaupt geeignet sind. Sehr schnell wurde dabei deutlich, dass es kaum möglich sein wird, z.B. die Vergangenheit eines Menschen empirisch zu erfassen (hier könnte man eher mit den hermeneutisch orientierten Methoden der Geisteswissenschaft weiterkommen). Auch die transzendenten Aspekte der Seele entziehen sich einer empirischen Überprüfung. Was bleibt dann für den Psychologen, der wie seine Kollegen in Medizin und Naturwissenschaft empirisch arbeiten möchte, als Wissenschaftsgegenstand übrig? Die Antwort ist einfach: Allemal weniger als das, was das hypothetische Konstrukt »Seele« beinhaltet, nämlich nur diejenigen Anteile, die sich auf empirischem Wege erfassen lassen.

Im Bewusstsein dieser Einschränkung definiert sich die moderne empirisch arbeitende Psychologie als »Wissenschaft von den Formen und Gesetzmäßigkeiten des Erlebens und Verhaltens, bezogen auf Individuen und Gruppen« (Psychologie 1992, 594). Diese Aspekte der Seele sind beobachtbar, teilweise sogar messbar bzw. durch Fragebogen zu erheben. Eine solche Beschränkung meint jedoch keinesfalls, dass die weiteren Aspekte der Seele nicht gesehen oder gar negiert würden. Tatsache ist nur, dass sie auf empirischem Wege nicht überprüfbar sind. In der neueren Philosophie wird allerdings intensiv darauf hingearbeitet, möglicherweise auch die bisher noch nicht empirisch erfassbaren Aspekte der Seele erklärbar zu machen (vgl. u.a. Churchland 1997). Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, nachfolgend ein besonderes Kapitel dem Leib-Seele-Problem zu widmen.

Auch wenn man den Untersuchungsgegenstand der modernen Psychologie nur auf das Verhalten und Erleben beschränkt, lässt sich damit sehr viel über den Menschen sagen: Man kann z.B. seine Gefühle beschreiben (Freude, Wut oder Trauer), über die Kognitionen (Denken, Lernen, Gedächtnis, Intelligenz) forschen und die Zusammenhänge zwischen Emotionen und Kognitionen überprüfen, man kann die Entwicklung vom Kleinkind bis ins hohe Alter verfolgen, zeigen, dass sich Menschen in Gruppen ganz anders verhalten usw. Ein Teilgebiet der Psychologie beschäftigt sich konsequenterweise dann auch mit dem vom Normalzustand abweichenden Verhalten und Erleben: die so genannte »Klinische Psychologie« (vgl. Bourne; Ekstrand 1992).

Nochmals sei hier aber betont: Die Ergebnisse der empirisch arbeitenden Psychologie sind prinzipiell vorläufig (auf einem berechenbaren Signifikanzniveau) und die Deutungen der Ergebnisse (z.B. »Wie kann man mit den erforschten Methoden Menschen negativ oder positiv beeinflussen?«) gehören nicht mehr in den Bereich der empirisch-wissenschaftlichen Psychologie.4 Hier ist die Ergebnislage ähnlich den Forschungen in der Medizin zu der Wirksamkeit von schmerzlindernden Mitteln: Wenn Morphium als schmerzstillendes Medikament eingesetzt wird, kann es für den Patienten sehr hilfreich sein – als Basisstoff für Heroin jedoch lebensbedrohlich.

2.2 Psychotherapie

Wie bereits weiter vorne angemerkt, ist der Wissenschaftscharakter der Disziplin Psychotherapie (im Sinne der Überprüfbarkeit der Forschungsergebnisse) noch recht diffus. Grawe et al. haben hierzu ja eine Fülle von Befunden geliefert. So können auch heute immer noch nebeneinander Vorgehensweisen bestehen, die zum einen ihre Erkenntnisse mit moderner Kernspintomographie5 durch Untersuchungen am lebendigen Gehirn gewonnen haben, andererseits ihre therapeutischen Erkenntnisse durch die Deutung von archetypischen Traumbildern vornehmen. Mit diesen beiden Beispielen soll jedoch keine Wertung vorgenommen, sondern nur gezeigt werden, wie breit bzw. heterogen das Feld dieser Disziplin ist, denn beide an seelisch gestörten Menschen arbeitenden Fachkräfte können sich »Psychotherapeuten« nennen.

Was schon bei der Psychologie angemerkt wurde, sollte allerdings erst recht für die Psychotherapie gelten (sofern sie den im vorangegangenen Kapitel erörterten Aspekten von psyche, soma und pneuma folgen kann): Ein ausschließlich positivistisch orientierter Wissenschaftsansatz kann das Geheimnis des Menschen kaum beschreiben, kann nicht nachvollziehen, dass es Grenzen der Erkenntnis gibt, die durch intersubjektiv überprüfbare Tatsachen nicht erfasst werden können; dass also durchaus auch Disziplinen wie Kunst, Religion usw. in einer Psychotherapie Raum finden können. Allerdings müssen auch solche Disziplinen, wie die »exakten« Wissenschaften, ihre Chancen und Grenzen erkennen.

2.2.1  Definitionsversuche des Faches »Psychotherapie«

Ein (eher eklektischer) Blick auf verschiedene Definitionen von »Psychotherapie« zeigt, dass die unterschiedlichsten Vorstellungen herrschen, über- wiegend bedingt durch die Berufszugehörigkeit bzw. Zugehörigkeit zu einer einzelnen Therapieschule. Nachfolgend einige Beispiele:

A.  Definitionen aus allgemeinpsychologischer Sicht

–  »Psychotherapie ist eine zusammenfassende Bezeichnung für eine Reihe von Verfahren zur Behandlung psychischer bzw. psychogener Störungen, besonders von Neurosen und von psychosomatischen Erkrankungen (Psychosomatik), zum Teil auch von Psychosen. Ziele der Psychotherapie: nicht nur die Beseitigung der akuten Symptome und die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit, sondern darüber hinaus die Schaffung von Verarbeitungsmöglichkeiten für Antriebe und Affekte (oft im Sinne einer nachträglichen Reifung). Zahlreiche Techniken der Einzel- wie der Gruppentherapie wurden entwickelt.« (Bertelsmann 1995, 394)

–  »Psychotherapie kann definiert werden als eine korrektive Erfahrung, die einem Menschen hilft, sich sozial angemessener und angepasster zu verhalten. Die Therapie kann sich auf einen Mangel an Wissen, einen Mangel an Können, einen Mangel an Motivation zu angemessenem Verhalten oder auf das auffällige Verhalten selbst konzentrieren. In den meisten Fällen sind einer oder mehrere dieser Faktoren an der Problematik beteiligt, und die Therapie wird dementsprechend ausgerichtet. Wenn wir hier von Therapie sprechen, meinen wir in der Regel die Hilfe durch Angehörige der professionellen Berufsgruppen, also Psychologen, Psychiater, psychiatrische Sozialarbeiter oder psychiatrisches Krankenpflegepersonal. (…) Das soll aber nicht heißen, dass korrektive Erfahrungen ausschließlich durch professionelle Helfer ermöglicht werden. Enge persönliche Freunde, Gemeindehelfer, kirchliche Helfer und andere Laienhelfer übernehmen oft einen großen Teil der Beratungstätigkeit.« ( Bourne; Ekstrand 1992, 487)

–  »Es ist die Grundannahme, ja das Glaubensbekenntnis jeder Psychotherapie, dass man durch bestimmte Formen verbalen und nonverbalen Austauschs in einer vertrauensvollen Beziehung bestimmte Ziele wie Angstminderung und Löschung selbstzerstörerischen oder gefährlichen Verhaltens erreichen kann. So einfach diese Definition auch klingt, tatsächlich herrscht darüber, was eine Psychotherapie wirklich ausmacht, kaum Einigkeit.« (Davison, G.C.; Neale, J.M. 1988, 605)

–  »Unter Psychotherapie versteht man normalerweise die psychologische Behandlung von abnormen Gedanken, Gefühlen oder Verhaltensweisen. Da der Begriff der Normalität von der jeweiligen Kultur abhängig ist, kann das leider bedeuten, dass das Individuum nur an den jeweiligen Status quo angepasst wird. Neuerdings wird Psychotherapie auch im Sinne der Erhaltung und nicht nur der Wiederherstellung von Gesundheit verstanden.« (Zimbardo, P.G. 1983, 582)

–  »Unter Psychotherapie versteht man jegliche beabsichtigte Anwendung psychologischer Techniken, die durch den Kliniker erfolgt und zu dem Ziel eingesetzt wird, eine gewünschte Persönlichkeits- oder Verhaltensänderung herbeizuführen. Menschen mit Schwierigkeiten im Bereich des Denkens, Fühlens oder Verhaltens werden durch speziell ausgebildete Fachleute behandelt mit dem Ziel, die unter Störungen leidende Person in bestimmter Weise zu verändern. Die Menschen begeben sich dann in Psychotherapie, wenn ihr Verhalten im täglichen Leben in störendem Missverhältnis zu den in ihrer Kultur gültigen Normalitätskriterien und/oder ihrem eigenen Empfinden für persönliche Anpassung steht. (…) Ziel und Zweck jeder therapeutischen Intervention ist es, Leiden zu vermindern, beim Patienten das Gefühl des Wohlbefindens zu erhöhen und dem Menschen behilflich zu sein bei der Entwicklung von effektiven Mitteln und Wegen zur Bewältigung von Alltagsanforderungen und Stress. (…) Zu den Endzielen therapeutischer Bemühungen schließlich gehört es, an die Stelle von psychischer Krankheit oder Unangemessenheiten in der Persönlichkeit und im Verhalten bessere seelische Gesundheit und effektivere Verhaltens- und Bewältigungsstile treten zu lassen. Diese allgemeinen Ziele werden in Therapieprinzipien übersetzt, die – entsprechend der theoretischen Auffassung des Therapeuten hinsichtlich normaler und pathologischer Persönlichkeit – weit voneinander abweichen.« (Zimbardo, P.G. 1983, 546)

–  »Obwohl es keine allgemein anerkannte Definition gibt, was Psychotherapie ist, geschweige denn, was sie leisten soll, vermittelt der umgangssprachliche Gebrauch dieses Begriffs die Vorstellung, dass damit die psychologische Behandlung von abweichenden Gedanken, Gefühlen oder Verhaltensweisen gemeint ist. Die Formen, die diese Behandlung annehmen kann, variieren dabei mit den Theorien für die Erklärung abweichenden Verhaltens. (…) Aber, was Normalität und Abnormität ausmacht, ist abhängig von der Kultur und den Umständen, in denen ein Individuum lebt. Darum besteht das Therapieziel in vielen Fällen (unabhängig von spezifischen Erscheinungsformen oder Vorgehensweisen) darin, den Status quo der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, indem abweichendes, sozial nicht anerkanntes Verhalten verändert wird. (…) Aus dieser Sicht ist Therapie ein Instrument sozialer Kontrolle, eine subtile Form von Indoktrination, um die Werte, Moralvorstellungen, Gesetze, Regeln und Überzeugungen der führenden Institutionen und herrschenden Autoritäten der jeweiligen Gesellschaft aufrechtzuerhalten. (…) Aus dieser Sicht ›befreit‹ Therapie Individuen, deren Verhalten zu sehr von den Richtlinien der Gesellschaft eingeengt und begrenzt wird. So kann man sagen, dass Psychotherapie ein System von Vorgehensweisen beinhaltet, das solches Verhalten modifiziert, das entweder zu abweichend ist oder zu gehemmt und unterdrückt. (…) Somit ist die Therapie traditionsgemäß mit der Idee verbunden, zu ›heilen‹ – das Individuum zu einem Zustand der Gesundheit zurückzuführen. Wir betrachten also Psychotherapie als etwas, das eine speziell ausgebildete Person mit einer anderen tut, die in irgendeiner Weise bereits ›krank‹ist.« ( Zimbardo, P. G, 1983, 542 f.)

–  »Seit geraumer Zeit wird Psychotherapie auch noch in einem anderen Sinne verwendet, nämlich im Sinne des Erhaltens von Gesundheit. Anstelle des retroaktiven Versuchs, eine ungünstige Situation zu ändern, basiert eine neue Bewegung auf dem Gebiet der Psychotherapie auf der Orientierung an Prävention und Bereicherung. (…) In der Praxis ist der größte Teil der Therapie korrigierend und heilend, weil die Leute eher bereit sind, Zeit, Geld und Anstrengung zu investieren, wenn sie bereits ›krank‹ sind und ein ›Problem‹ haben, als wenn sie ›gesund‹ sind und nur den derzeitigen Zustand erhalten oder ihr seelisches Gleichgewicht stabilisieren wollen. Die meisten Therapeuten handhaben denn auch beide Aspekte der Therapie in unterschiedlichem Verhältnis von der ausschließlichen Konzentration auf jeweils einen Ansatz bis hin zur Berücksichtigung beider Aspekte.« (Zimbardo, P.G. 1983, 543)

–  »Psychotherapie ist die Behandlung mit Hilfe der zwischenmenschlichen Kommunikation. Psychotherapie wird auch bei der medikamentösen und instrumentellen Behandlung suggestiv wirksam; im engeren Sinne ist Psychotherapie der gezielte Einsatz zur Behandlung allein oder vorwiegend psychogen bedingter körperlicher oder seelischer Erkrankungen. Psychotherapie wird somit vor allem in der Psychosomatik und in der psychodynamisch orientierten klinischen- und Sozialpsychiatrie angewendet. Man unterscheidet verschiedene Psychotherapien je nach ihrem theoretischen Konzept und nach ihrer praktischen Durchführung. Während die Psychoanalyse das theoretische Konstrukt ›das Unbewusste‹ akzeptiert, lehnt die Verhaltenstherapie dieses ab, weil es nicht zu beweisen sei, und stützt sich auf Konzepte der Lerntheorie. In der Praxis bezieht darum der Psychoanalytiker seine Kommunikation gegenüber dem Patienten auf dessen Unbewusstes in der Form von Interpretationen, Verhaltenstherapeuten veranlassen den Patienten, neue Verhaltensweisen unter planmäßig zu verändernden Bedingungen (Variablen) zu üben. Die Gesprächspsychotherapie nimmt eine Mittelstellung ein: Sie hilft dem Klienten durch verbale Rückmeldung zu lernen, seine eigenen Gefühle wahrzunehmen. Im Gegensatz zu den die Abwehr aufdeckenden psychoanalytischen Verfahren stehen die stützendem Psychotherapien. Sie arbeiten mit der Fremdsuggestion (Hypnose) bzw. Selbstsuggestion (autogenes Training). – Psychotherapie wird volloder teilstationär in Kliniken, dann gewöhnlich verbunden mit dem Prinzip ›therapeutische Gemeinschaft‹ (Ploeger), oder ambulant in Polikliniken, Beratungsstellen oder Praxen, und gewöhnlich in Einzelbehandlung, also unter der Kommunikation eines Arztes mit einem Patienten, durchgeführt. Gruppenpsychotherapie ist die Behandlung von mehreren Patienten, im Durchschnitt acht, unter Nutzung der zwischen den Patienten auftretenden Kommunikationen (Gruppendynamik).« (Dorsch, F. 1987, 541)

–  »Nach einer verbreiteten und sehr allgemeinen Definition ist Psychotherapie die Behandlung kranker Menschen mit seelischen Mitteln (Schultz). Von Strotzka stammt die folgende Begriffsbestimmung: ›Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal, aber auch averbal, in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persön- lichkeit) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens. In der Regel ist dazu eine tragfähige emotionale Bindung notwendig.‹ Diese Definition schließt sehr verschiedene Therapieansätze ein, die sich hinsichtlich theoretischer Grundlagen, therapeutischer Techniken und der angestrebten Behandlungsziele zum Teil fundamental unterscheiden.« (Döhner, O. 1987, 873)

–  Wolberg unterscheidet drei Typen von Psychotherapie:

1.  ›››Stützende‹ (engl.: supportive) Psychotherapie, bei der bestehende Abwehrkräfte gestärkt und bessere Verhaltensweisen entwickelt werden sollen. Ziel ist die Wiederherstellung eines seelischen Gleichgewichts (z.B. führendes Gespräch, Entspannungstherapien).

2.  ›Umschulende‹ (engl.: reeducative) Psychotherapie. Durch Unterstützung, Ermutigung, Verlernen negativer Verhaltensweisen soll insgesamt das manifeste Verhalten in der erwünschten Richtung verändert werden (z.B. Verhaltenstherapie).

3.  ›Umstrukturierende‹ (engl. reconstructive) Psychotherapie. Durch Reaktivierung und Bearbeitung unbewusster Konflikte soll die Persönlichkeitsstruktur bewusst gemacht und tiefgreifend verändert werden (z.B. Psychoanalyse). Es gibt eine Vielzahl von psychotherapeutischen Verfahren, deren tatsächliche Anwendung beim einzelnen Kranken nur zum Teil durch die vorliegende Störung bestimmt wird. (…) Indikationsgebiete für Psychotherapie sind traditionell vor allem die Neurosen (Verhaltensstörungen) im weitesten Sinne und die psychosomatischen Erkrankungen. Es wurden jedoch auch besonders Verfahren zur Behandlung von Suchterkrankungen und funktionellen Psychosen (vor allem Schizophrenien) entwickelt. Dabei kam es zur Übernahme psychotherapeutischer Konzepte und Methoden in institutionalisierte Praxisbereiche, in denen sie mit anderen theoretischen Ansätzen und neuen praktischen Aufgaben konfrontiert wurden.« (Döhner, O. 1987, 873 f.)

–  »Lange Zeit war der Begriff ›Psychotherapie‹ gleichbedeutend mit ›Psychoanalyse‹. Verhaltenstherapie verstand sich in ihren Anfängen als Alternative zur Psychoanalyse und hat sich strikt von allen bisher praktizierten Methoden abgegrenzt. Erst in den letzten Jahren setzt sich ein Gebrauch des Wortes ›Psychotherapie‹ durch, der so unterschiedliche therapeutische Konzepte wie die klassische Analyse Freudscher Prägung,Adlers Individualtherapie oder die Verhaltenstherapie einschließt. Es ist offenkundig, dass ein derart umfassender Begriff nicht mit einer einzigen, allgemein gültigen Definition umschrieben werden kann. Wir möchten deshalb die wichtigsten Beschreibungsmerkmale von Psychotherapie zu einem grundlegenden Definitionsversuch zusammenfassen: Psychotherapie ist gemeinsames Handeln von zwei oder mehreren Personen. Es besteht eine klare Rollenverteilung: Der ›Therapeut‹ ist eine durch Ausbildung und Erfahrung qualifizierte Person, der Patient ist eine Person mit einem psychischen Problem, die um Hilfe nachsucht. Der Psychotherapeut handelt bewusst bzw. er vermag sein Handeln im Nachhinein bewusst zu reflektieren. Gemeinsames Handlungsziel von Psychotherapeut und Klient ist es, die psychischen Probleme, an denen der Patient leidet, zu beseitigen oder zu bessern und seine persönliche Weiterentwicklung zu fördern; die angewandten therapeutischen Prinzipien müssen auf der Basis einer gesicherten Theorie erarbeitet oder mit einer solchen beschreibbar bzw. erklärbar sein. Das Handlungs- und Erfahrungswissen des Therapeuten muss lehr- und lernbar sein. Die Wirkung therapeutischen Handelns muss auch intersubjektiv sein. Mit einer bloßen Aufzählung von Beschreibungsmerkmalen ist aber die Frage ›Was ist Psychotherapie?‹ noch nicht erschöpfend beantwortet. Versucht man sich zu vergegenwärtigen, wie sich Psychotherapie in der Praxis konkretisiert, so lassen sich die oben aufgeführten vielfältigen Kriterien auf vier unterschiedlichen Ebenen erfassen. Trotz der unmittelbaren Zusammenhänge zwischen den einzelnen Ebenen sind diese nicht vollständig ineinander überführbar, da jede auch durch eigenständige Momente gekennzeichnet ist. Dies führt zu einer ungelösten und – wie wir glauben – nie gänzlich auflösbaren Spannung, die häufig zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen führt.« (Linster, H.W., Wetzel, H. 1992, 628)

–  »Theorieebene: Psychotherapie ist eine Sammlung von allgemeinen Prinzipien und theoretischen Aussagen über Entstehung, Struktur und Veränderung von pathologischem und abweichendem Verhalten und Erleben. Dieses theoretische Gebäude ist in Form von Lehrbüchern, Therapietranskripten, Fallbeschreibungen u.a. dokumentiert.

Ausbildungsebene: Psychotherapie ist ein Ausbildungsgang, der sich in Richtlinien und Lehrplänen von Instituten und Verbänden niederschlägt. Die Ausbildung umfasst neben der Erarbeitung dieser Theorie auch Training von Fertigkeiten, Eigenanalyse, Selbsterfahrung und praktische Arbeit unter Supervision.

Handlungsebene: Psychotherapie ist ein auf den Klienten/Patienten bezogenes Handeln des Therapeuten. Dies erfolgt vor dem Hintergrund seiner gesamten Lebens- und Therapieerfahrung. Es umfasst theoretische Konzepte und therapeutisches ›Handwerkszeug‹, welche er prozess- und phasenspezifisch auf den jeweiligen Patienten abstimmt.

Änderungsebene: Sie umfasst alle therapeutischen Faktoren, die verantwortlich sind für die Veränderungen, die während des therapeutischen Prozesses oder als Folge davon beim Klienten hervorgerufen werden.« (Linster, H.W., Wetzel, H. 1992, 628 f.)

–  »Psychotherapie (wörtlich: ›Behandlung der Seele‹) bezieht sich auf eine Vielzahl psychologischer Methoden, die dazu verwendet werden, seelische, emotionale und Verhaltensstörungen zu beheben. Das kann in individuellen Interviews geschehen, wo Patient und Therapeut gemeinsam versuchen, Konflikte, Gefühle, Erinnerungen und Phantasien des Patienten im Gespräch aufzudecken (Psychoanalyse), um einen Einblick in die gegenwärtigen Probleme zu erhalten. Dieses Gespräch kann auch in Gruppen von sechs bis zwölf Patienten (Gruppentherapie) oder – wie es bei Kindern gehandhabt wird – in Form eines Spiels zwischen Therapeut und Kind durchgeführt werden. (…) Man muss die Psychotherapie von medizinischen Techniken unterscheiden, wie z.B. der Chemotherapie oder Elektroschocktherapie (…), die oft zur Behandlung Geisteskranker angewendet werden, insbesondere bei schweren Fällen, die man unter Patienten in psychiatrischen Kliniken antrifft.« (Arnold et al. 1980, 1814)

–  »Psychotherapie ist ein Gebiet der Angewandten Psychologie und daher ganz allgemein von den Methoden und Prinzipien der Psychologie beeinflusst. Umgekehrt wirkte sich die Psychotherapie auf das Denken und die Forschung in fast jedem Teilgebiet der Psychologie fruchtbar aus. (…) Andererseits wird die Psychotherapie von fortschrittlichen Forschern kritisiert; sie sei viel zu begrenzt in ihrem Wirkungsbereich, um die immer häufiger werdenden Krankheiten zu heilen, die ihre Ursachen in sozialem Verfall, sich wandelnden Sitten, internationalen Konflikten, starren Institutionen und schädigenden Gesellschaftsstrukturen haben.« (Arnold et al. 1980, 1820 f.)

B. Aus der Sicht einzelner Psychotherapieschulen

B1 Definitionen von Tiefenpsychologen

–  »Die analytische Therapie greift (…) wurzelwärts an, bei den Konflikten, aus denen die Symptome hervorgegangen sind, und bedient sich der Suggestion, um den Ausgang dieser Konflikte abzuändern. (…) Die analytische Kur legt dem Arzt wie dem Kranken schwere Arbeitsleistung auf, die zur Aufhebung innerer Widerstände verbraucht wird. Durch die Überwindung dieser Widerstände wird das Seelenleben des Kranken dauernd verändert, auf eine höhere Stufe der Entwicklung gehoben und bleibt gegen neue Erkrankungsmöglichkeiten geschützt. Diese Überwindungsarbeit ist die wesentliche Leistung der analytischen Kur, der Kranke hat sie zu vollziehen, und der Arzt ermöglicht sie ihm durch Beihilfe der im Sinne einer Erziehung wirkenden Suggestion. Man hat darum auch mit Recht gesagt, die psychoanalytische Behandlung sei eine Art von Nacherziehung.« (Freud, 1992,430)

–  »Unter dem Begriff Psychotherapie (wörtlich: Seelen-Behandlung) werden eine Vielzahl psychischer Beeinflussungsmöglichkeiten zusammengefasst, die darauf abzielen, Handlungen und Reaktionsweisen von Menschen dergestalt umformen zu helfen, dass sich die Betroffenen von ihrem zuvor bestehenden Leidenserlebnis befreien können. Psychotherapie unter tiefenpsychologischem Aspekt basiert auf der Annahme, dass psychische Störungen in der Kindheit ihren Ursprung haben. In ihrem Verlauf wird versucht, den Patienten in seine frühkindliche Situation zurückzuführen und ihn so ausführlich und intensiv wie möglich erleben zu lassen, welche problematischen Einflüsse – z.B. aus der Sphäre der ›Triebe‹ und (als Reaktion darauf) aus seiner sozialen Umwelt – den Patienten in dieser Zeit betroffen haben; genauer gesagt: welche problematischen Stellungnahmen der Patient zu diesen von ihm erlebten Einflüssen bezogen und womöglich bis in die Gegenwart beibehalten hat. Von demjenigen, der eine solche Behandlung wünscht, muss allerdings angenommen werden dürfen, dass er einsichts-, kritik- und handlungsfähig genug ist, sich ohne dirigistische Maßnahmen des Therapeuten mit diesen Umständen emotional, kognitiv und handelnd auseinander zu setzen. Die individualpsychologische Therapie ist darauf angelegt, das Individuum zu stärken und zu ermutigen; gleichwohl wird in ihrem Verlauf auf die Aufdeckung unbewusster Momente nicht verzichtet. (…) Aus der Erkenntnis heraus, ›dass alle Hauptprobleme im Leben Probleme der menschlichen Kooperation sind‹ (Ansbacher/ Ansbacher, 1982), ist nach Adler die ›Psychotherapie (…) eine Übung in Kooperation und eine Prüfung der Kooperation‹ (Ansbacher/Ansbacher, 1982).« (Zit. bei Antoch 1995, 398)

–  »… alle Psychotherapie, vor allem jedoch die Logotherapie, hat das große, geschichtliche ›Modell‹ einer geistigen Auseinandersetzung, das klassische Gespräch von Mensch zu Mensch: den sokratischen Dialog zum Vorbild« (Frankl, V.E. 1995,7). »… alle Psychotherapie muss improvisieren, sie muss erfinden, und zwar sich selbst, und das eigentlich in jedem Falle, für jeden Fall aufs Neue. Sofern Psychotherapie solcherart wesentlich angewiesen erscheint auf ein Individualisieren, ist sie freilich nicht lehrbar, nämlich nicht restlos lehrbar …« (ebd. 8). »Viel zu gut wissen wir heute, dass die Suggestion die Artikulation einer mit- und zwischenmenschlichen Beziehung darstellt, wie sie letzten Endes aller Psychotherapie zugrunde liegt, so zwar, dass durch das Medium der gegenseitigen Begegnung von Arzt und Krankem hindurch auf Seite des letzteren ein Urvertrauen zum Dasein wiederhergestellt wird, das den Erfolg einer Psychotherapie auf Grund noch so divergenter Schulen und Richtungen entscheidet und ausmacht« (ebd. 102).

B2 Definitionen von Verhaltenstherapeuten

–  »Wir beschränken den Begriff ›Therapie‹ hiermit (in Abgrenzung zu anderen Formen psychosozialer Aktivität) [wie z.B. ›Krisenintervention‹, ›Sozialarbeit‹ oder ›Beratung‹] auf ein Vorhaben, das eine relativ klare Veränderung im Verhalten, in den Emotionen und den Einstellungen eines Klienten beabsichtigt, weil diese Bereiche für ihn oder für seine Umgebung gegenwärtig zum Problem geworden sind. ›Therapie‹ ist zielgerichtet, problemorientiert, nicht immer kurz, aber doch zeitlich begrenzt.« (Kanfer et al. 1991, 7)

–  »Therapeutisches Handeln ist immer mit der Anwendung von Methoden verbunden, die man für geeignet hält, bestimmte Ziele zu erreichen. (…) Im Rahmen der Selbstmanagement-Therapie halten wir es – wie der Begriff bereits verdeutlichen soll – z.B. für ein ganz wichtiges Merkmal von Therapie, dass Menschen befähigt werden, möglichst selbständig mit ihren Problemen zurechtzukommen …« (Kanfer et al. 1991, 8)

–  »Ziel des Therapeuten sollte nach unserer Meinung sein, dem Klienten möglichst frühzeitig (wieder?) zur Autonomie zu verhelfen.« (Kanfer et al. 1991, 510)

–  »Anstelle von Definitionen, die ja als Übereinkünfte über die Verwendung eines Begriffes aufzufassen sind, soll hier auf eine Charakterisierung von Verhaltenstherapie zurückgegriffen werden, die sich inzwischen weitgehend durchgesetzt hat. (…) Verhaltenstherapie bedeutet eine Anwendung von Prinzipien der (experimentellen /empirischen) Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen. (…) Die angesprochenen Prinzipien werden zur Beschreibung, Erklärung und eventuellen Veränderung menschlichen Leidens und zur Verbesserung der (individuellen) Funktionsfähigkeit herangezogen. Bei der Anwendung von Verhaltenstherapie ist immer eine systematische Erfassung und Bewertung von Effekten beabsichtigt. Dies bedeutet im Prinzip ein möglichst kontrolliertes und systematisches Vorgehen; diese Kontrolle des Vorgehens dient der Optimierung einer verhaltenstherapeutischen Behandlung im Einzelfall und führt zu einer empirischen Beurteilung des Ansatzes. Eine verhaltenstherapeutische Intervention hat eine Veränderung derjenigen Variablen zum Ziel, die als aufrechterhaltende Bedingungen des Problems angesehen werden müssen. (…) Das Ziel einer Intervention besteht generell in verbesserter Selbstkontrolle und Eigensteuerung des Patienten. Verhaltenstherapie wird damit explizit als zeitlich begrenzter Eingriff in das Leben eines Patienten charakterisiert …« (Reinecker, H. 1987, 5 f.)

–  »Verhaltenstherapie lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Verhaltenstherapie weist einen engen Bezug zur Grundlagenforschung in der Psychologie auf; dieser Bezug zur Psychologie und ihren Nachbardisziplinen wird zur Beschreibung, Erklärung und Veränderung herangezogen. Verhaltenstherapie strebt eine systematische Evaluation des therapeutischen Handelns an. Eine Veränderung von Bedingungen eines Problems sollte durch ethische Richtlinien geleitet sein und zur Verbesserung von Selbstkontrolle und Eigensteuerung des Patienten führen.« (Reinecker, H. 1987, 6)

–  »Unter Psychotherapie versteht man eine besondere Form zwischenmenschlicher Interaktion, bei der eine Person, die Therapeutin bzw. der Therapeut, versucht, mit Mitteln der verbalen und nonverbalen Kom- munikation eine oder mehrere andere Personen, die als Patienten oder Klienten bezeichnet werden, in ihrem Verhalten, ihren Einstellungen oder Denkweisen zu beeinflussen. So ist die Psychotherapie als die Form sozialer Einflussnahme anzusehen, die charakterisiert ist durch einen professionellen Helfer, dessen Ausbildung und Fertigkeiten vom Patienten und seinem sozialen Milieu anerkannt werden, einen Patienten, der in der Regel positive Erwartungen an die Hilfe des Therapeuten hat, eine beschränkte Anzahl, mehr oder weniger in Anlehnung an bestimmte fachliche Regeln, strukturierte Kontakte, bei denen der Therapeut versucht, Veränderungen beim Patienten zu bewirken. Die Mittel, die dazu eingesetzt werden, bestehen vor allem aus verbalen Instruktionen, Überzeugungsversuchen und der gezielten Förderung von Lernprozessen.« (Linden, M., Hautzinger, M. 1996, 3)

–  »Die psychischen oder körperlichen Zustände, die eine solche Einflussnahme rechtfertigen, werden, wenn sie einen bestimmten Schweregrad erreicht haben, als Krankheiten bewertet. In diesem Fall ist Psychotherapie als Bestandteil der Krankenversorgung anzusehen. Psychotherapie kann aber darüber hinaus auch eingesetzt werden, um Menschen dazu zu verhelfen, Potentiale zu entwickeln, die ihnen erlauben, glücklicher, genussfähiger oder vielseitiger zu leben. Damit werden die Grenzen zu pädagogischen Maßnahmen oder zu religiöser Einflussnahme wieder fließend. In einigen Fällen, wo sozial deviantes Verhalten verändert werden soll, kann Psychotherapie auch den Beigeschmack gesellschaftlicher Disziplinierung bekommen.« (Linden, M., Hautzinger, M. 1996, 3)