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EDITORIAL

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Gerhard Trageser
Redaktionsleiter Sonderhefte

Wie unsereins schlank und die Welt satt wird

Essen und Trinken sind nach dem Atmen die wichtigsten Grundbedürfnisse. In regelmäßigen Abständen veranlasst uns ein nagendes Hungergefühl, etwas zu uns zu nehmen. Doch immer mehr Menschen genehmigen sich auch gerne zwischendurch einen Happen oder langen bei den Mahlzeiten allzu kräftig zu. Und so hat sich Übergewicht in unserer Wohlstandsgesellschaft mit ihrem nahezu unbegrenzten Angebot an Nahrungsmitteln zu einer regelrechten Volksseuche entwickelt, an der in Deutschland zwei Drittel der Männer und etwas mehr als die Hälfte der Frauen leiden. Eine ganze Industrie lebt davon, abnehmwilligen Menschen Diäten anzudienen, mit denen sie angeblich mühelos lästige Pfunde wieder loswerden können. Doch selbst wenn sich ein Erfolg einstellt, ist er gewöhnlich nicht von Dauer.

Theorien über die Gründe, warum manche Menschen zu Fettleibigkeit neigen, gibt es viele. Sie reichen von hormonellen Einflüssen über genetische Faktoren und Stoffwechselstörungen bis hin zu Stress. Nun hat der US-Forscher Paul J. Kenny eine neue, bestechende Hypothese aufgestellt, die insbesondere erklärt, warum es Übergewichtigen trotz aller Anstrengungen meist nicht gelingt, dauerhaft abzunehmen. Demnach wirkt Nahrung auf die Betroffenen wie die Droge auf Suchtkranke.

So können beide von dem Laster nicht lassen, obwohl sie um die schädlichen Folgen wissen. Nahrung stimuliert wie ein Suchtmittel das Belohnungssystem im Gehirn. Die angenehme Wirkung lässt mit steigendem Konsum jedoch nach. Ähnlich wie bei Alkoholikern und Rauschgiftabhängigen die Gier nach der Droge zunimmt, je größer die Gewöhnung daran ist, wächst deshalb bei Fettleibigen das Verlangen nach Nahrung, je mehr sie essen.

Wenn diese Theorie stimmt, sollte sie neue Behandlungsansätze ermöglichen. Zwar ist eine Entwöhnung von jeder Art Nahrung natürlich kein gangbarer Weg, aber vielleicht hilft die Abstinenz von besonders suchtfördernden Süßigkeiten.

Damit stellt sich eine andere heiß debattierte Frage. Welche Art Essen macht eigentlich dick? Die kanonische Antwort lautet: alles, was viele Kalorien hat. Schließlich deckt der Körper mit der Nahrung seinen Energiebedarf. Überschüssige Kalorien muss er entweder verbrennen, oder er speichert sie im Fettgewebe für künftige Notzeiten.

Doch ganz so einfach scheint es nicht zu sein. Beispielsweise hat sich gezeigt, dass der auf den Packungen angegebene Brennwert allein wenig Aussagekraft hat. Wie viel Kalorien der Einzelne aus einem Nahrungsmittel aufnimmt, hängt nicht nur von seinem individuellen Stoffwechsel ab – auch die Zubereitung spielt eine Rolle.

Aber damit nicht genug. Eine Unzahl von Diäten beruht auf der Verteufelung einzelner Lebensmittelsorten als Dickmacher. Wissenschaftliche Beweise dafür existieren freilich nicht. Eine relativ neue Theorie gibt die Schuld nun leicht verdaulichen Kohlehydraten. Sie sollen über die Anhebung des Insulinspiegels Körperzellen dazu bringen, Fette zu speichern, statt mit ihnen ihren Energiebedarf zu decken. Seit Beginn dieses Jahres läuft eine kontrollierte Studie zur Überprüfung dieser Hypothese, so dass wir bald wissen sollten, was davon zu halten ist.

Auch wenn hier zu Lande kaum einer Hunger zu leiden braucht, gilt das nicht für die gesamte Menschheit. In letzter Zeit haben drastisch steigende Lebensmittelpreise die ohnehin prekäre Ernährungssituation in der Dritten Welt noch verschärft. Ein großer Teil dieses Hefts befasst sich deshalb mit der Frage, wie sich die wachsende Weltbevölkerung auf nachhaltige Weise mit ausreichend gesundem Essen versorgen lässt und welche Engpässe drohen. Besonders kritisch ist die Bereitstellung von Proteinen.

Vor diesem Hintergrund entwirft der Gründer und Leiter des Earth Policy Institute Lester R. Brown eine eher düstere Zukunftsvision. Demnach drohen künftige Hungerkrisen Entwicklungsländer ins Chaos zu stürzen, so dass sie zu Brutstätten des Terrorismus werden und die gesamte Zivilisation in Gefahr bringen.

Eine nachdenkliche Lektüre wünscht Ihnen

Ihr

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INHALT

ÜBERGEWICHT

KONTROLLVERLUST

Süchtig nach Essen

Paul J. Kenny

Machen zucker- und fetthaltige Nahrungsmittel durch ähnliche Mechanismen dick, die auch bei Drogensucht eine Rolle spielen? Neuen Erkenntnissen zufolge können sie das Belohnungssystem des Gehirns zu stark stimulieren.

ESSENSVERWERTUNG

Trügerische Kalorienangaben

Rob Dunn

Der Brennwert auf Verpackungen verrät kaum, wie viel Energie der Einzelne aus der Nahrung gewinnt. Das hängt nicht nur von genetischen Dispositionen ab, sondern auch von der Zubereitungsart.

KOHLENHYDRATE

Was macht wirklich dick?

Gary Taubes

Nach einer neuen Theorie werden wir vor allem durch Zucker fett. Momentan laufende klinische Studien sollen Klarheit darüber bringen.

SCHONENDE ERZEUGUNG VON NAHRUNGSMITTELN

FISCHZUCHT

Die Blaue Revolution

Sarah Simpson

Neuartige Aquakulturen auf hoher See und umweltfreundliche Fischfarmen an den Küsten könnten die wachsende Weltbevölkerung mit dringend benötigtem Protein versorgen.

PFLANZENZUCHT

Das Gewächshaus im Wolkenkratzer

Dickson Despommier

Nahrungsmittelanbau in eigens dafür errichteten Hochhäusern spart Landfläche, Wasser und fossile Energie – und bietet auch Bewohnern von Großstädten jederzeit frisches Obst und Gemüse vor der Haustür.

BIOTECHNOLOGIE

Steak aus der Retorte?

Jeffrey Bartholet

Wie können wir den wachsenden Fleischhunger der Weltbevölkerung befriedigen, ohne den Planeten zu Grunde zu richten? Für einige Forscher lautet die Antwort: Muskelgewebe züchten – in der Petrischale.

GEFAHREN UND CHANCEN

DÜNGEMITTEL

Droht ein Mangel an Phosphor?

David A. Vaccari

Phosphor ist Hauptbestandteil von Düngemitteln. Schon jetzt gilt es, seine Vorkommen zu schonen, damit sie nicht bis Ende des Jahrhunderts erschöpft sind.

BODENFORSCHUNG

Schwerlast auf dem Acker

Rienk van der Ploeg, Wilfried Ehlers und Rainer Horn

Der Unterboden der Felder verdichtet sich immer mehr. Das behindert das Pflanzenwachstum und fördert Überschwemmungen. Schuld an der Fehlentwicklung sind schwere Landmaschinen.

WELTERNÄHRUNG I

Globaler Kollaps durch Hungersnöte?

Lester R. Brown

Nichts bedroht den Fortbestand unserer Zivilisation so sehr wie der Zusammenbruch ganzer Staaten durch plötzlichen Nahrungsmangel. Ursache solcher Hungerkrisen sind letztlich verschlechterte Umweltbedingungen.

WELTERNÄHRUNG II

Wurzel der Hoffnung

Nagib Nassar und Rodomiro Ortiz

Maniok ist schon heute eines der wichtigsten Nahrungsmittel in der Dritten Welt. Allein durch Kreuzung mit Wildpflanzen ließe sich daraus sogar eine noch viel ertragreichere und höherwertige Kulturpflanze züchten.

GENUSSMITTEL

Schatten über der Schokolade

Harold Schmitz und Howard-Yana Shapiro

Den Maya galten Kakaobohnen als Geschenk der Götter, heute begründen sie ein Milliardengeschäft. Doch dessen Zukunft ist ungewiss; denn Klimawandel, Krankheiten und andere Widrigkeiten machen dem empfindlichen Kakaobaum zu schaffen.

Titelmotiv: iStockphoto/Okea

KONTROLLVERLUST

Süchtig nach Essen

Neue Erkenntnisse könnten erklären, warum fett- und zuckerhaltige Nahrungsmittel dick machen – durch ähnliche Mechanismen nämlich, die auch bei Drogenabhängigkeit eine Rolle spielen.

Von Paul J. Kenny

AUF EINEN BLICK

UNERSÄTTLICH – UND ABHÄNGIG?

1 Neuen Forschungen zufolge entsteht krankhafte Fettleibigkeit (Adipositas) oft dadurch, dass kalorienreiche Nahrungsmittel die Belohnungszentren des Gehirns zu stark stimulieren und somit Kontrollmechanismen aushebeln, die normalerweise das Essverhalten regulieren.

2 Forscher streiten darüber, ob Menschen, die dauerhaft exzessiv essen, an einer Form von Sucht leiden. Falls ja, könnten sich daraus neue Ansätze ergeben, um Adipositas zu behandeln.

3 Bereits jetzt gibt es Arzneistoffe, die sowohl gegen Essstörungen als auch gegen Drogensüchte helfen. Rimonabant etwa reduziert bei Rauchern das Verlangen nach Nikotin und zügelt zugleich den Appetit, hat aber auch gefährliche Nebenwirkungen.

Würde eine Ratte den Tod riskieren, nur um ein Stückchen Schokolade zu fressen? Kürzlich habe ich es herausgefunden. In meinem Labor gaben wir Ratten uneingeschränkten Zugang zu ihrem normalen Futter. Zusätzlich boten wir ihnen aber auch äußerst appetitanregende, kalorienreiche Nahrungsmittel an: Wurst, Käsekuchen, Schokolade. Die Ratten verschmähten daraufhin ihr gesundes, aber »langweiliges« Standardfressen und bedienten sich fast nur noch an den Kalorienbomben. Sie nahmen immer mehr zu und wurden schließlich fettleibig.

Dann installierten wir ein Blitzlicht, das den fressenden Ratten signalisierte, dass sie gleich einen sehr unangenehmen elektrischen Schlag an den Pfoten erhalten würden. Tiere, die sich gerade über normales Futter hermachten, hörten nach einem solchen Blitz sofort mit dem Fressen auf und rannten weg. Fettleibige Ratten hingegen, die Wurst, Kuchen oder Schokolade vertilgten, ignorierten das Warnsignal. Ihr Verlangen danach war stärker als ihr Selbsterhaltungstrieb. Ähnliche Beobachtungen hatte zuvor schon der Neurowissenschaftler Barry Everitt von der University of Cambridge gemacht – allerdings waren seine Ratten nicht scharf auf Schokolade, sondern kokainsüchtig.

Sind demnach die fettleibigen Nager fresssüchtig? Die Unfähigkeit, ein bestimmtes Verhalten zu vermeiden, obwohl es vorhersehbare schädliche Folgen hat, ist ein allgemeines Merkmal von Suchtkranken. Sie findet sich auch bei übergewichtigen Menschen. Fast alle Fettleibigen geben an, weniger essen zu wollen. Dennoch nehmen sie weiterhin viel zu viel zu sich, obwohl sie sich der negativen Konsequenzen für ihre Gesundheit und ihr Sozialleben bewusst sind. Studien zufolge aktiviert das exzessive Aufnehmen von Nahrung die Belohnungssysteme in unserem Gehirn – bei manchen Menschen so sehr, dass kein Sättigungsgefühl mehr entsteht. Je mehr diese Menschen essen, umso stärker wächst ihr Verlangen nach weiterer Nahrung – ähnlich wie bei Alkoholikern und Rauschgiftabhängigen die Gier nach der Droge mit dem Konsum zunimmt. Stimuliert übermäßige Nahrungsaufnahme also dieselben Hirnregionen wie Drogenkonsum? Falls ja, sollten Medikamente, die das Belohnungssystem im Gehirn dämpfen, übergewichtigen Menschen dabei helfen, ihre Kalorienaufnahme einzuschränken.

Bis in die frühen 1990er Jahre hinein galt Fettleibigkeit, lateinisch »adipositas«, lediglich als Verhaltensstörung. Übergewichtigen Menschen, so glaubte man, mangele es einfach an Willenskraft und Selbstbeherrschung. Seither hat sich die Sichtweise dramatisch verändert, zumindest bei Wissenschaftlern. Grund dafür ist nicht zuletzt, dass sich die Fettleibigkeit epidemisch ausbreitet (siehe SdW 7/2003, S. 86).

Einer der Ersten, die diesen Sinneswandel angestoßen haben, war der kanadische Biochemiker Douglas Coleman, der früher am Jackson Laboratory in Bar Harbor (Maine, USA) forschte. Er fand bereits in den 1960er Jahren Hinweise darauf, dass krankhaftes Übergewicht und gestörtes Essverhalten unter anderem auf genetische Faktoren zurückgehen. Zahlreiche seiner Überlegungen konnte später der amerikanische Molekulargenetiker Jeffrey Friedman von der Rockefeller University (New York) bestätigen. Beide Wissenschaftler führten Experimente mit Mäusestämmen durch, die erblich bedingt dazu neigen, an Adipositas und Diabetes mellitus zu erkranken.

Wie sich herausstellte, besitzt einer dieser Stämme einen Gendefekt, der verhindert, dass die Fettzellen das Hormon Leptin freisetzen. Der Signalstoff wird bei Mäusen und Menschen normalerweise nach den Mahlzeiten ausgeschüttet, zügelt den Appetit und dämpft so das Verlangen nach weiterer Nahrung. Ein anderer Mäusestamm, der zur Fettleibigkeit tendiert, erwies sich ebenfalls als Träger einer Genmutation: Die Körperzellen der betroffenen Tiere sprechen nicht mehr richtig auf Leptin an. Zusammengenommen bestätigten diese Ergebnisse, dass Hormone den Appetit und damit das Körpergewicht regulieren. Ein hormonelles Ungleichgewicht kann demnach zu gestörtem Essverhalten führen. Tatsächlich kommt Fettleibigkeit in bestimmten Familien mit genetisch bedingtem Leptinmangel häufig vor.

Doch es wäre zu kurz gesprungen, Adipositas nur auf eine Hormonstörung zurückzuführen. Erstens leiden längst nicht alle Übergewichtigen an einem erblich erworbenen Missverhältnis von appetitregulierenden Hormonen. Zweitens müssten Bluttests an adipösen Menschen dann regelmäßig entweder zu wenig appetitzügelnde oder zu viel appetitsteigernde Hormone anzeigen. Jedoch ist eher das Gegenteil der Fall. Paradoxerweise fallen fettsüchtige Menschen oft durch erhöhte Spiegel an appetitzügelnden Hormonen auf, unter anderem Leptin und Insulin.

Hier kommt das Konzept von der Esssucht ins Spiel. Appetitsteuernde Hormone beeinflussen neuronale Schaltkreise im Hypothalamus – jenem Abschnitt des Zwischenhirns, der die vegetativen Körperfunktionen reguliert. Zudem stehen sie in Wechselwirkung mit Belohnungssystemen im Gehirn. Je heftiger der Hunger, umso intensiver die Befriedigung, sobald wir etwas essen. Für diesen Mechanismus sind Hormone verantwortlich, die in Fastenzeiten das Reaktionsvermögen von mit Nahrung assoziierten Belohnungszentren erhöhen, vor allem im Corpus striatum (kurz Striatum). Dieses Hirnareal ist durch hohe Spiegel an Endorphinen gekennzeichnet, körpereigenen Verbindungen, die Glücks- und Belohnungsgefühle verstärken.

Während wir einer guten Mahlzeit frönen, produzieren Magen und Darm appetitzügelnde Hormone, welche die vom Striatum und von anderen Teilen des Belohnungssystems ausgehenden Glücksgefühle dämpfen. Zugleich setzen sie die Intensität des Genussempfindens herab. Die Speisen erscheinen uns daraufhin immer weniger begehrenswert, bis wir schließlich aufhören zu essen.

Wenn das Gefühl, satt zu sein, nicht mehr durchdringt

Moderne, extrem kalorienreiche Nahrungsmittel jedoch, die viel Fett und Zucker enthalten und oft besonders ansprechend aussehen, stimulieren unsere Belohnungssysteme so stark, dass die appetitzügelnde Wirkung von Leptin und anderen Hormonen nicht mehr dagegen ankommt. Infolgedessen essen wir immer weiter, auch wenn wir keinen Hunger mehr haben. Wir alle kennen diesen Effekt: Eben haben wir ein reichliches Abendessen zu uns genommen und kriegen keinen Bissen mehr herunter. Da serviert die Gastgeberin Schokoladentorte, und auf wundersame Weise geht diese Leckerei – eine der kalorienreichsten des Tages – dann doch noch irgendwie rein.

Unser Gehirn hat eine effiziente Maschinerie entwickelt, um das Körpergewicht auf stabilem, gesundem Niveau zu halten. Sie signalisiert uns, wann es Zeit ist zu essen und wann nicht. Unnatürlich kalorienreiche Nahrungsmittel können diese Signale jedoch aushebeln und uns zu einem krank machenden Essverhalten antreiben. Sahnetorte, Mousse au Chocolat & Co. sind künstliche Leckereien, mit denen unsere Vorfahren nicht konfrontiert waren – weshalb wir auch keine Gelegenheit hatten, im Zuge der Evolution einen angemessenen Umgang damit zu entwickeln.

Der Organismus reagiert auf das Kalorienbombardement, indem er den Blutspiegel appetitzügelnder Hormone wie Leptin und Insulin in dem Maß erhöht, in dem das Körpergewicht steigt. Jedoch büßen diese Signalstoffe irgendwann an Wirkung ein, weil der Körper eine Toleranz gegen sie entwickelt. Zudem reagieren die Belohnungssysteme im Gehirn übergewichtiger Menschen nur noch schwach auf den Verzehr von Speisen, wie Forscher des Brookhaven National Laboratory und des Oregon Research Institute mittels bildgebender Verfahren feststellten. Diese Abstumpfung führt zu ausbleibender Befriedigung und damit zu depressiver Verstimmung. Und was tut der Mensch dagegen? Er isst noch mehr, um seine Stimmung zeitweilig aufzuhellen – was den Teufelskreis perfekt macht. Fettleibige müssen wahrscheinlich erheblich mehr verzehren als Schlanke, um den gleichen Grad an Befriedigung zu erreichen.

Adipositas entsteht also offenbar nicht (nur) aus einem Mangel an Willenskraft. Auch Hormonstörungen sind als Auslöser eher selten. Zumindest in einigen Fällen scheint ihre Ursache in einem Außerkraftsetzen der Belohnungssysteme im Gehirn durch extrem gehaltvolle und wohlschmeckende Nahrungsmittel zu liegen. Genau wie Sucht erzeugende Drogen können sie eine Rückkopplungsschleife im Gehirn anstoßen – je mehr Leckereien der Mensch zu sich nimmt, umso stärker wird sein Verlangen danach und desto schwerer fällt es, die Begierde zu stillen. Aber ist lustvolles Essen deswegen eine Sucht?

Abhängig machende Drogen, etwa Morphine, stimulieren die Belohnungssysteme des Gehirns auf die gleiche Weise wie Nahrungsmittel. Doch es gibt noch weitere Gemeinsamkeiten. Injiziert man Ratten Morphin in das Striatum, so löst dies bei den Tieren exzessive Fressanfälle aus, und zwar auch dann, wenn sie sich kurz zuvor satt fressen konnten. Morphine und andere Opiate imitieren demzufolge die Effekte von bestimmten Neurotransmittern – Botenstoffen, mit denen unser Gehirn das Essverhalten reguliert.

Können dann nicht Medikamente, die solche Botenstoffe hemmen, auch das übermäßige Verlangen nach Nahrung dämpfen? Laut neueren Studien senken Endorphinblocker die Aktivität von Belohnungszentren bei Menschen und Nagern, denen verlockende Speisen dargeboten werden – mit dem Ergebnis, dass die Betroffenen weniger davon zu sich nehmen. Behandelt man Drogenabhängige mit solchen Wirkstoffen, konsumieren sie anschließend weniger Heroin, Alkohol oder Kokain. Dies stützt die These, wonach exzessivem Essen und Drogensucht dieselben Mechanismen zu Grunde liegen. Wenn Ratten, die an tägliche Völlerei gewohnt sind, Endorphinblocker erhalten, dann zeigen sie ein Verhalten ähnlich den Entzugssymptomen bei Drogenabhängigen. Übermäßiges Essen kann demnach einen Zustand herbeiführen, der einer Drogensucht gleicht.

Auch im Hinblick auf einen weiteren wichtigen Neurotransmitter, Dopamin, gibt es Gemeinsamkeiten. Bekanntermaßen bewirken Sucht erzeugende Drogen die Freisetzung von Dopamin ins Striatum. Der Botenstoff spielt eine wesentliche Rolle beim Entstehen von Motivationen und treibt Süchtige dazu an, sich die Droge zu beschaffen. Die meisten Experten meinen, dass dieser Mechanismus die Abhängigkeit herbeiführt, wenngleich die genauen Vorgänge umstritten sind. Experimenten zufolge stimulieren auch attraktive Nahrungsmittel die Ausschüttung von Dopamin ins Striatum. Der Neurotransmitter motiviert die Betroffenen dazu, sich auf das Essen zu fokussieren. Bildgebende Verfahren belegen nun, dass im Striatum fettleibiger Menschen auffallend wenig Dopamin-2-Rezeptoren (D2R) vorhanden sind – Andockproteine für Dopamin, die Signalprozesse in Hirnzellen auslösen. Ähnliche Befunde sind von Alkoholikern bekannt sowie von Personen mit einer Sucht nach Kokain, Methamphetamin oder Opiaten.

Zwischen Hunger und Sättigung

Unser Gehirn steuert das Körpergewicht, indem es signalisiert, wann wir essen müssen und wann wir damit aufhören sollten. Hormone regulieren neuronale Netze, die den Appetit und das Sättigungsgefühl kontrollieren. Kalorienreiche Nahrungsmittel, die sehr viel Fett und Zucker enthalten, verleiten manche Menschen dazu, immer weiter zu essen. Je mehr die Betroffenen verzehren, umso stärker wird ihr Verlangen nach weiteren Leckereien. Ähnliche Muster sind von Drogensüchtigen bekannt.

Exzessiver Verzehr: Neurotransmitter übernehmen die Kontrolle

Stark fett- und zuckerhaltige Nahrung regt das Corpus striatum dazu an, Endorphine zu produzieren, »Glückshormone«, die exzessives Essen auslösen können. Zudem kommt es zur Ausschüttung von Dopamin, einem Neurotransmitter, der die Nahrungsaufnahme anregt und im präfrontalen Kortex Entscheidungen beeinflusst. Endorphine, Dopamin und andere Stoffe wirken auf die Belohnungszentren. Sie können hormonelle Signale, die eine Sättigung anzeigen, überdecken und so zu immer weiterem Essen antreiben. Selbst das Wissen um die schädlichen Folgen kann die Völlerei oft nicht unterbinden.

Normales Essverhalten: Hormone signalisieren »Start« und »Stopp«

Appetitanregende Hormone aus dem Magen-Darm-Trakt aktivieren neuronale Netzwerke im Hypothalamus. Sie stimulieren zudem Belohnungszentren, etwa die Area tegmentalis ventralis im Mittelhirn und das Corpus striatum im Großhirn,

was das Genussempfinden beim Essen steigert. Während einer Mahlzeit, wenn sich der Magen füllt und der

Blutzuckerspiegel steigt, werden appetitunterdrückende Hormone wie Leptin und Insulin freigesetzt. Ihre Wirkung auf den Hypothalamus und die Belohnungszentren führt zu verminderter

Esslust und gedämpftem Genussempfinden, was weiteres Essen weniger attraktiv erscheinen lässt.

Behandlungsansätze

So wie kalorienreiche Nahrungsmittel führen auch Sucht erzeugende Drogen zur Ausschüttung von Dopamin und setzen Rückkopplungsschleifen in Gang, die das Verlangen nach dem Reiz mehr und mehr ansteigen lassen. Arzneistoffe, die dem entgegenwirken, könnten möglicherweise sowohl gegen Fettleibigkeit als auch gegen Drogensucht helfen.

Zudem erkranken Menschen, die auf Grund genetischer Besonderheiten nur verhältnismäßig wenige Dopamin-2-Rezeptoren produzieren, häufiger an Adipositas oder Drogenabhängigkeit. Der Mangel an diesen Molekülen führt zu einer verminderten Aktivität der Belohnungszentren des Gehirns, so dass die Betroffenen intensivere Stimuli durch Nahrungs- oder Rauschmittel benötigen, um den gleichen Grad an Befriedigung zu erlangen wie normale Menschen. Es fällt ihnen auch schwerer, Handlungen zu vermeiden, die negative Folgen haben. Offenbar ist hier die Funktion von Hirnregionen beeinträchtigt, die riskante, aber potenziell befriedigende Verhaltensweisen unterdrücken, etwa den exzessiven Konsum von Speisen oder Drogen.

Unsere Laborversuche an Ratten untermauern diese These. Fettleibige Tiere, die trotz unangenehmer elektrischer Schläge nicht davon abließen, kalorienreiche Leckereien zu fressen, wiesen nur wenige Dopamin-2-Rezeptoren im Striatum auf. Auch andere Untersuchungen ergaben, dass drogensüchtige oder adipöse Ratten nicht vom Objekt ihrer Begierde ablassen, selbst wenn daraus negative Konsequenzen erwachsen. Bei Menschen beobachten wir ähnliche Phänomene: Viele Adipöse leiden so sehr unter der Unfähigkeit, ihr Essverhalten zu steuern, dass sie sich freiwillig riskanten Eingriffen unterziehen, etwa einer Magen-Bypass-Operation. Oft erleiden sie trotzdem einen Rückfall und nehmen wieder zu.

Starkes Übergewicht – eine psychische Krankheit? So weit gehen die Experten dann doch nicht

Destruktives Fehlverhalten, das kurzfristige Glücksgefühle verursacht, gefolgt vom Versuch, davon loszukommen – und schließlich der Rückfall: Dieses Muster ähnelt auffallend dem Teufelskreis einer Drogenabhängigkeit. Den neuesten Forschungsergebnissen zufolge ist Fettleibigkeit das Ergebnis eines übermächtigen Verlangens, die Belohnungszentren im Gehirn zu aktivieren und Befriedigung zu erreichen. Hormonelle Störungen und Stoffwechselentgleisungen könnten demnach die Folgen der Gewichtszunahme sein – und nicht ihre Ursachen.

Wegen der Gemeinsamkeiten zwischen Adipositas und Suchterkrankungen haben einige Experten vorgeschlagen, beides mit den gleichen Methoden zu therapieren. Einige empfahlen sogar, das Krankheitsbild Fettleibigkeit in die neueste Auflage des »Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders« (Diagnostisches und statistisches Handbuch psychischer Störungen) aufzunehmen, der »Bibel« der Psychiater. Das unter dem Kürzel DSM-5 bekannte Werk enthält Richtlinien zur Diagnostik psychischer Erkrankungen. Dieser Vorschlag führte unter Fachleuten zu lebhaften Debatten, wurde aber letztlich abgelehnt – in erster Linie, um fettleibige Menschen nicht als seelisch krank zu stigmatisieren.