Sven Hanuschek

Warum schreibst du mich nicht?
Ulrich Holbein und der Roman

1

Bekannt ist Ulrich Holbein vor allem für seine Sprachglossen in »Die Zeit«, die unter dem Namen »Sprachlupe« (1996) als Buch erschienen sind; für seine enzyklopädisch-feuilletonistischen Arbeiten wie »Weltverschönerung« (2008) und das »Narratorium« (2008); und für die großen Essays über den »Belauschten Lärm« (1991) und »Samthase und Odradek« (1990). Anlässlich des Letzteren hat Jörg Drews ihn zu einem »Geist« gekürt, »der wie aus dem jungen Jean Paul, dem Walter Benjamin seiner hintersinnig-skurrilsten Stunden und dem Arno ­Schmidt seiner kauzigen Minuten gekreuzt erscheint«.1 Drews’ Würdigung steht hier beispielhaft für die enthusiastische öffentliche Wahrnehmung einiger Essaybände in Holbeins Werk, vor allem der in der edition suhrkamp erschienenen. Der Schriftsteller ist mehrfach auch als Romancier hervorgetreten. Einige seiner Romane haben allerdings nicht mehr viel mit der Gattung zu tun, sodass man ihm die Titelfrage dieses Beitrags stellen möchte: Warum schreibt er keine – oder keine üblichen – Romane? Im Folgenden soll anhand von dreien seiner Arbeiten versucht werden, diese Frage zu beantworten; anhand von »Knallmasse« (1993), »Warum zeugst du mich nicht?« (1993) und »Isis entschleiert« (2000).2

2

In den frühen 1990er Jahren hat Ulrich Holbein einen Roman geschrieben, der anscheinend alles das erfüllt, was legitimerweise von einem (nicht-avantgardistischen, nicht-experimentellen) Roman in der Zeit des wiederentdeckten Erzählens zu erwarten ist: Es gibt eine starke Mittelpunktsfigur, wenn auch mit einem exzentrischen Namen (Knallmasse), die ein dramatisches Leben führt und Handlungsspannung verbreitet, weil es mehrfach um Leben und Tod geht. Zudem handelt es sich um ein stellenweise sehr komisches Buch, schon einige der Kapitelüberschriften versprechen das (»Zweite Stunde: Biologie bei Frau Dr. Kackflasche«3). Zunächst erfahren die Leser einiges über Knallmasses Alltagsleben, sein Wecker dröhnt, er begrüßt seinen Hund, zieht die gelockerten Schrauben an seinem Körper fest, hört ein paar Worte aus den Heiligen Schriften seines Landes und geht in die Schule. Es handelt sich um einen Roboter, der ein kognitives Wunderwerk zu sein und ein individuelles Bewusstsein zu haben scheint. Er lebt in einem Roboterstaat und wird täglich indoktriniert durch Tonbandstimmen und den Schulunterricht, den er besucht. Ein paar Werte sind anders als die unseren, wie gleich von der ersten Tonbandnachricht zu erfahren ist: »Hartes ist herrlich. Weiches ist scheußlich. (…) Stille quält. Musik bedrückt. Krach beglückt. Fleisch erzeugt Ekel. Blech erzeugt Freude.«4

Im Fortgang entwickelt sich Knallmasse nach einem Schlag auf den Kopf immer mehr zu einem denkenden Roboter, er entwickelt Zweifel an dem Zwangsprogramm, dem er unterzogen wird. Er rettet zwei ›weiche‹ Demonstrationsobjekte aus dem Unterricht, bei denen es sich um winzige Menschlein handelt, ein Paar (Wammarilli und Wurlipello), das sich auch noch liebt und das ein Kind kriegen wird. Die Flucht aus der Roboterdiktatur gelingt den drei Freunden, Knallmasse, der nicht nur von seinem Staat, sondern auch von seiner Energieversorgung abgeschnitten ist, endet zwar als sein eigenes Denkmal, aber die Menschlein werden weiterleben und ihn weiterhin bewundern, der aus seiner Art gesprungen ist, sie gerettet hat und nun, umrankt von Blumen, im Morgenlicht schimmert, »messingfarben, grünspangrünlich, eidechsengrün, rötlich, rostrot, metallblau in den interessantesten Abstufungen«5.

»Knallmasse« erinnert an die spillerigen, phantastischen, witzigen Romane von Paul Scheerbart, »Die große Revolution. Ein Mondroman« (1902), »Lesabéndio. Ein Asteroidenroman« (1915) und andere. Der Stil der Illustrationen Holbeins ist nicht weit von dem Scheerbarts entfernt, auch der Untertitel von Holbeins Buch, »Ein kosmisches Märchen«, scheint Scheerbart verpflichtet, bei dem es nicht nur Harems-, Protzen- und Nilpferdromane gibt, sondern auch Kometentänze und »Astrale Noveletten« (1912). Auf einer zweiten Ebene funktioniert Holbeins Roman als Dystopie in der Nachfolge von George Orwell, Aldous Huxley und anderen, der Roboterstaat mit seiner totalen Überwachung ist ganz offensichtlich »Nineteen Eighty-Four« (1949) nachgebildet: Die Roboter werden einer konstanten Gehirnwäsche unterzogen, es gibt ein geklittertes Geschichtsbild und eine spezielle Sprache, eine andere Art ›Neusprech‹ für Androiden wie Knallmasse. Allerdings endet Holbeins Buch nicht so düster wie Orwells, er gönnt seinen Lesern ein versöhnliches Ende außerhalb des totalen Roboterstaats.

Trotz der Holbein-Scheerbart’schen Phantasie von »Knallmasse«, den exzentrischen Namen und Motiven, dem speziellen Humor handelt es sich von Erzählsituation und Fabel her um einen ›normalen‹ phantastischen Roman, der von Form, Ästhetik und Dramaturgie her kaum Überraschungen bietet; auch die ›weltanschauliche‹ Ebene ist trotz der überschießenden Details deutlich herausgearbeitet, ein Appell für eine bunte, natürliche Menschenwelt voller Emotionen, ›Weichheit‹ und bunter Blumen, jede »Möglichkeit, Hartes weich zu machen«6, wird propagiert. »Dieser Traum schreit nach Deutung«7, heißt es einmal, aber die Deutung des Romans ist offensichtlich, nicht umsonst ist das Werk im Gerstenberg Verlag er­­schienen, der vor allem Kinder- und Jugendbücher verlegt. Irritierend ist in einem solchen Rahmen allenfalls, dass der so biologie- und naturaffine Autor »Walfische« erwähnt8, obwohl Wale bekanntlich keine Fische sind; und dass es ein paar selbstreflexive Witze gibt, die eher in Romanen mit einer anderen Ästhetik zu finden sind: »Wieso hast du eigentlich auf Seite 112 dieses Buches Pflanzenmusik gehört?«9, wird Knallmasse einmal gefragt, und es wird konstatiert: »Erst seit etwa Seite 51 hat sich deine Einstellung geändert.«10

3

Ulrich Holbein kann also spannende Romane schrei­ben, die bewegend sind, komisch, anrührend, mit der Darstellung eines Individuums im Mittelpunkt, all das, was man sich gemeinhin von einem postmodernen Erzähler wünscht, üblicherweise aber nicht von Holbein bekommt, wenigstens als Erwachsener nicht. Seine beiden Romane, die diese Gattungsbezeichnung auch auf dem Deckblatt führen, kreisen um Leerstellen und bieten keine klar strukturierte Handlung mehr an. »Warum zeugst du mich nicht?« hat (neben anderem) die Debatten eines ungezeugten Kindes mit einem hypernervösen, über die Maßen assoziationsfreudigen und gebildeten Uli zum Inhalt, der an ein Alter Ego, eine Projektionsfigur des Verfassers Ulrich Holbein gemahnt und keine Anstalten trifft, diesem Kind tatsächlich auf die Welt zu verhelfen. Drumherum gibt es noch wenige mehr oder minder beschränkte Freunde des Ich-Erzählers, seinen Therapeuten Dr. Knirsch und vor allem seine Freundin Rosi, die es in diesem Roman nicht zur Kindsmutter bringen wird. Auch »Isis entschleiert« führt die Gattungsbezeichnung »Roman«, dieses Buch ist aber eine Großmontage aus Fremdtexten, Zeichnungen, Zeitungsartikeln zu jedem Aspekt des Themas Schleier, ohne Handlung, eher mit Abteilungen, die jeweils ein großes Segment des Themas abschreiten und die »Eingehüllt im Bio-Schleier der Maja« oder »Maja sitzt webend im Muhurmuhuh« heißen. Schon der Titel suggeriert esoterische Ansprüche, »Isis Unveiled« (1877), zu Deutsch »Isis entschleiert«, ist der Titel eines theosophischen Hauptwerks der Okkultistin Helena Petrovna Blavatsky.

So undeutbar, ja manchmal jean-paulisch-chaotisch diese beiden Romane wirken, schreitet Holbein doch in beiden fast systematisch die Gattung des modernen Romans ab, nicht: des zeitgenössischen Romans, der ja der postmoderne Roman wäre. Als postmodern gilt die »Wiederkehr des Erzählens«, lineare Handlungen seien plötzlich wieder möglich, auktoriales Er­­zählen – allenfalls mit ironischem Blinzeln versehen – knüpft an die realistische Tra­dition des 19. Jahrhunderts und das Werk Thomas Manns an.11 Nach dem Gründervater Umberto Eco mit »Il nome della rosa« (1982) haben sich in der deutschen Literatur diesem Konzept zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller angeschlossen, Patrick Süskind, Marlene Streeruwitz, Christoph Ransmayr, Helmut Krausser, Daniel Kehlmann. Auf sehr unterschiedlichen Niveaus, von Welt- bis Smartie-Literatur, haben sie den Anspruch erfüllt, Unterhaltung zu bieten, mit Gattungstraditionen zu spielen und intertextuell zu erzählen.12 Auch sie geben damit eine Antwort auf den Be­­fund, dass »wahrscheinlich jeder Satz, der literarisch denkbar ist, irgendwann und irgendwo schon einmal gesprochen oder geschrieben worden ist«13, ihre Werke unterscheiden sich aber bis auf den Aspekt der Intertextualität deutlich von der Literatur Ulrich Holbeins – seine Antwort ist das nicht.

Seine Konzeption knüpft an die moderne Tradition an, die den Romantikern in der theoretischen Konzeption stark verpflichtet ist. Friedrich Schlegel hatte konstatiert, der Roman als progressive Universalpoesie sei »kein vollendetes Kunstwerk«, er vereine »alle Gattungen der Poesie, er verbindet Heterogenes; Ironie und Selbstreflexion sind für ihn konstitutiv«.14 In radikale Formen umgesetzt werden diese Kriterien erst im modernen Roman des 20. Jahrhunderts; nun wird er tatsächlich zum enzyklopädischen Gefäß aller Möglichkeiten, die Beschränkung auf ›episches‹ Erzählen fällt. Hartmut Steinecke nennt »Selbstreflexion, Universalitätsanspruch und Prozeßcharakter des Schreibens«15 als Maßstab moderner Romane, mit Musil und Broch wird der Roman selbst zum Ort der Romantheorie, der Essayismus der klassischen Moderne gehört ebenfalls in dieses Ensemble.

4

Ulrich Holbein arbeitet sich wohl am stärksten an den Kategorien Person und Figur ab und unternimmt damit eine unentwegte Reflexion der Bedingungen fiktionalen Schreibens. Zwar finden sich in »Warum zeugst du mich nicht?« neben der prospektiven Kindsmutter (bzw. der kinderlosen) Rosi einige Freunde und der Therapeut des erzählenden Ich; alle diese Figuren sind als Charaktere aber kaum ausgeformt, »völlig unwichtige Figuren«16. Der Erzähler will sich mit »weiterführender Figurenprofilierung« nicht abrackern, er nimmt sie »nur deshalb mit, weil sie traditionsgemäß in Romane reingehören, und weil Rosi und ich immerhin schon zwei Jahre zusammen sind, in drei Wochen zwei Jahre«.17 Figuren nur in Andeutungen zu konstruieren, statt sie exzessiv und adjektivreich auszuformulieren, ist keineswegs per se eine avantgardistische Technik, sondern eine leserfreundliche, die sich auch in gehobener Unterhaltungsliteratur findet. Die Autoren setzen hier auf die Projektions- und Konstruktionsgaben ihres Publikums, das ohnehin Leerstellen des Textes im Verlauf der Rezeption auffüllen muss. Anders ist eine Lektüre zwar nicht möglich, es handelt sich um eine der Grundbedingungen des Lesens überhaupt, dass der Kognitionsapparat der Lesenden sich beteiligen muss; aber es gibt doch beträchtliche graduelle Unterschiede auf der Produzentenseite, zwischen (etwa) Texten von Arthur Schnitzler oder Marcel Proust und solchen, die nur in Andeutungen arbeiten wie eben die Holbeins. Hier passt auch seine häufig verwendete Strategie ins Bild, lediglich Dialoge zu formulieren, eine Wahrnehmung der Figuren nur durch ihre eigene Rede zu ermöglichen – die Fiktion eines Tonbandmitschnitts also.

In »Warum zeugst du mich nicht?« simuliert Holbein immer wieder quasi naturalistische Verfahren der Wirklichkeitsabbildung. Nicht allein die Tonbandmitschnitte beziehungsweise Gesprächsnotate sind hier zu nennen, sondern auch das mehrfach suggerierte Verfahren, es sei einfach das soziale Umfeld beobachtet und aufgeschrieben, ein ›Stoff durch ein Temperament‹ gesehen worden. Eine der Nebenfiguren beschwert sich, der Erzähler müsse »nicht mal mitschreiben«, sein Gedächtnis sei jedem Tonband überlegen: »Alles muß er mitschneiden, ausschlachten, verwerten. Wer ihm zufällig ins Blickfeld tappt, wird umstandslos reingewurstet in seine laufenden Projekte.«18 Allerdings setzt der Erzähler seine Schwerpunkte anders als seine ›Opfer‹, er verwendet sie nur als »Rohmaterial für seine fragwürdige Kreativität«19: »Das ist ja grad der Kern des ganzen Dilemmas, Uli, daß du uns alle als Figuren behandelst, statt als vollwertige Mitmenschen!«20

Der erzählende »Uli« räumt diesen ›Fehler‹ in einer schwachen Minute ein, bedauert aber seine demokratische Schwäche gleich wieder, schließlich ist er das arrangierende, erzählende und reflektierende Bewusstsein, seine Figuren sind es nicht. Sollten die in der Inszenierung des Romans den Aufstand proben, kommt für den Erzähler deshalb doch nur die »klassische Diktatur« der Ästhetik infrage, er will sich »doch nicht von (s)einen eigenen Romanfiguren überstimmen lassen« und denkt daher an »eine vollautomatische Stasi« oder andere »polizeistaatliche Maßnahmen«,21 es ist sogar einmal von einem speziellen Präparat »zur Beseitigung lästiger Romanfiguren« die Rede.22 Das Ziel scheint eine Art Nirwana, ein Roman, der ohne Figuren auskommt, zu sein. Zwischendurch gelingt dem Erzähler diese Figurenentsorgung sogar, er ist dann aber derart erschöpft, dass ihm nichts mehr einfällt, keine »Reserven«, kein »Nachschub«: »Wozu hab ich unterm Bodi-Baum gehockt und umfassender Figurenlosigkeit entgegenmeditiert?«23

Die ›Lösung‹ dieser Paradoxien ist die Ausgangssituation des Romans, einerseits die Klage des ungeborenen Kindes, das für die ›ungeborenen‹ Romanfiguren sprechen könnte und damit für das Publikum, das vor der Tür steht und in den Roman drängt und »Bitte-bitte, erfinde uns!«24 ruft. Andererseits steht das Publikum mitnichten vor der Tür, alle Figuren, alle Einzelnen des Romans sind Teil der Erzählerfigur, die sich in angeregtem Austausch mit ihrem Schöpfer und Alter Ego Ulrich Holbein befindet, der wiederum als wahrnehmendes Subjekt die Anregungen seiner Lese- und Lebenssozialisation zu Literatur verarbeitet, die Ursituation des Schriftstellers, der lebt, liest und schreibt. »Wenn Sie schon alle Menschen waren, wieso dann nicht ausgerechnet Sie selbst?«25, wird einmal im Roman gefragt; die Figuren, die den Erzähler bedrängen, sind das »ständige Ge­­quassel (s)einer inneren Stimmen, manche suchen sogar Anschluß an Traditionen bürgerlicher Erzählkunst«26, das wären dann diejenigen in den erzählenden Büchern Holbeins. In der Frage nach der Einheit von Person und Figur wird in der Tat in »Warum zeugst du mich nicht?« die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Leben, von Fiktion und Wirklichkeit mitverhandelt.

5

In »Isis entschleiert« entwickelt Holbein die Auflösung seiner literarischen Figuren weiter, und er knüpft nun explizit an die Romantik an. Die Eintrittsseite seines »Romans«, noch vor dem Inhaltsverzeichnis, zeigt Novalis’ Entwurf des Märchens von Hyacinth und Rosenblüth aus den »Lehrlingen zu Saïs« mit einigen Änderungen und ohne Angabe der Quelle. Die dritte Person aus Novalis’ Text (»Ein Günstling des Glücks sehnte sich …«) ist in die erste Person »Ich« umgesetzt, die »Braut« mit dem nun schon bekannten Namen »Rosi« ersetzt worden:

»Ich, ein Günstling des Glücks, sehnte mich die unaussprechliche Natur zu umfassen. Ich suchte den geheimnisvollen Aufenthalt der Isis. Mein Vaterland und meine Geliebten verließ ich und achtete im Drange meiner Leidenschaft auf den Kummer meiner Rosi nicht. Lange währte meine Reise. Die Mühseligkeiten waren groß. Endlich begegnete ich einem Quell und Blumen, die einen Weg für eine Geisterfamilie bereiteten. Sie verrieten mir den Weg zu dem Heiligtume. Entzückt von Freude kam ich an die Türe. Ich trat ein und sah – meine Rosi, die mich mit Lächeln empfing. Wie ich mich umsah, fand ich mich in meiner Schlafkammer – und eine liebliche Nachtmusik tönte unter meinen Fenstern zu der süßen Auflösung des Geheimnisses.«27

Novalis’ Märchen-Entwurf (1798) reagiert wiederum auf Schillers Gedicht »Das verschleierte Bild zu Sais« (1795), auch dort deckt der Jüngling den Schleier der Isis auf, er wird allerdings »besinnungslos und bleich« am nächsten Tag von den Priestern aufgefunden: »Auf ewig / War seines Lebens Heiterkeit dahin, / Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.«28

Die ägyptische Göttin Isis kann für die Liebe stehen, dieser Sinn wird bei Novalis am ehesten aufgerufen; allerdings steht der Name »Isis« bei ihm nur im Entwurf und am Rand des ausformulierten Märchens, wo von der »verschleyerten Jungfrau« oder der »heiligen Göttin« die Rede ist, also ausdrücklich eine christliche Deutung zugelassen werden sollte.29 Im Übrigen kann Isis als der Inbegriff der antiken Muttergottheiten gelten, Zauberin, Heilerin, Sonnen- und Todesgöttin in einem, also Leben und Tod, die Letzten Dinge überhaupt umgreifend.30 Schillers Jüngling hat anscheinend einsehen müssen, dass Antworten auf diese Letzten Fragen nicht für Menschen geeignet sind.

Ulrich Holbein umkreist nun alle Aspekte des Mythos von der verschleierten Isis in Zitatcollagen, die verschiedenen ästhetischen Verfahren folgen – mal wie ein Theaterstück notiert, in dem die wechselnden Figuren ihre Zeilen sprechen, mal wie eine wissenschaftliche Abhandlung, die die Autoren der Zitate in Fuß- oder Endnoten liefert, selten als Text mit abschließender Aufzählung der Quellen, sodass die Zuordnung einzelner Sätze gar nicht möglich ist. Exakte Angaben werden fast nie gemacht; es werden nur die Verfasser genannt, oft auch das zitierte Werk, selten auch Jahres- und Seitenzahlen, die Eingriffe Holbeins müssten also von Fall zu Fall genau untersucht werden. Um die bei der antiken Isis einschlägigen Letzten Fragen geht es auch hier, mal esoterisch, mal banalisierend, mal explizit, mal versteckt. Eine konsequente Weiterentwicklung der Romanform von »Warum zeugst du mich nicht?« stellt »Isis entschleiert« insofern dar, als nun Figuren überhaupt aufgehoben sind. Die zitierten Autorinnen und Autoren sind hier unzweifelhaft die empirischen, obwohl es wie auf dem Eröffnungsblatt noch hin und wieder Rosi und Ulli gibt, auch »Ulli­hummi«, »Uli 63« etc. genannt, »alle Pärchen sind Rosi und ich«, oder »alle Pärchen sind Iris und ich« (nicht Isis, wie es zu erwarten wäre).31 Die Problematik der literarischen Figur ist hier allein auf das erzählende Ich bezogen, das nun vollends depersonalisiert ist und sich immer wieder in den Zitatenballetten verliert, als Adaption und Übertragung Jean Pauls, der nach Holbeins Auffassung bereits »alle Dissoziations-, Depersonalisations-, Identitätsverlust-, Multiphrenie-Alpträume des 20. Jahrhunderts (…) längst mustergültig« gestaltet habe.32 So teilt ein »Hierophant«, ein Enthüller heiliger Geheimnisse aus den antiken Mysterien von Eleusis also, in »Isis entschleiert« mit, er sei »neulich in mich gegangen, habe aber leider niemanden angetroffen«.33 In einem nicht eindeutig auf eine Quelle zurückführbaren Abschnitt spricht das Ich von der eigenen Vervielfachung: »Ich sah mich hundertfach. Ich war eine Herde – Ich war eine Myriade von Selbsten, die alle ›ich‹ waren, eine Kolonie separater Einheiten, zwischen denen ein besonderer Zusammenhalt bestand«.34 Die ›inneren Stimmen‹ scheinen sich endgültig von ihren Sehnsüchten nach den Traditionen bürgerlicher Erzählkunst verabschiedet zu haben, die Romanform nähert sich dem Essay in Form einer großen Montage an; nicht genug damit, wechselt Holbein in den letzten Teilen des Buchs endgültig in die diskursive Form und schreibt »Entschleierungs-Splitter«, die nicht mehr als Zitatcollage, sondern tatsächlich als Essay notiert sind, und er erläutert in einer Art Glossar – nun wieder aus Zitaten bestehend – zentrale Begriffe seines Buchs wie Isis und Maja (die bekanntlich auch einen Schleier hat), Depersonalisation und Hierophant, Ich und Montage, Orgasmus und Müsli.35

6

Bis auf die exzentrische Form trennt »Isis entschleiert« fast nichts von den großen Essays Ulrich Holbeins. In seinen abschließenden Materialien zum Buch überlegt er, dass er das Buch »auch als Großessay« hätte schrei­ben können; »dann wärs nur ein Aufguß von Odradek und belauschtem Lärm gewesen, dieselbe Methode bei ausgetauschtem Stoff. Doch Osiris ließ das nicht zu«, indem er »quälende Berufungsträume« geschickt hat, so suggeriert es das nachfolgende Zitat.36 Anders als im Erstling »Der illustrierte Homunculus« (1989) gibt es in beiden genannten Bänden bereits seitenlange Zitatmontagen, stärker noch in »Der belauschte Lärm«37 als in »Samthase und Odradek«. Roman scheint für Holbein nur noch als Wiederholung möglich zu sein, als Arrangement bereits bestehender Texte, eine radikale Schlussfolgerung von Nietzsches beziehungsweise Salomos »Nichts Neues unter der Sonne«. Die Krise des Erzählens, die sich in der Moderne in der Auflösung der Gattungsgrenzen gezeigt hat, wird wieder ernst genommen, am stärksten wohl – nach der Reflexion der Bedingungen fiktionalen Erzählens überhaupt in »Warum zeugst du mich nicht?« – in der Aufnahme des Essays im beziehungsweise als Roman und in der Aufnahme der radikalen Montage. Der Anspruch auf enzyklopädische Welterfassung bleibt bestehen, in »Isis entschleiert« womöglich noch umfassender als im vorausgegangenen Roman; der Prozesscharakter des eigenen Schreibens und die unentwegte Selbstreferenzialität der Texte werden in den Erzählungen gezeigt, in »Isis entschleiert« sogar noch durch den Gattungswechsel in den Anhängen, mittels eines ›echten‹ Essays, explizit gemacht.38 Dass der Zerfall des Ich, hier der Zerfall in Texte anderer, ebenfalls ein typisch modernes Phänomen ist, kann nun nicht mehr überraschen; eine konsequente Fortführung all dieser Bestrebungen sind die 255 Lebensbilder des »Narratoriums«, von A bis Z: eine Enzyklopädie über ›Narren‹, die mehr oder weniger Prob­le­­me mit ihrer Ich-Identität haben, sei sie nun überlebensgroß oder eher diskontinuierlich. Allein durch ihre Aufnahme in Holbeins umfangreichstes Werk werden sie als wahnhaft rubriziert, ob sie nun eher bewunderte Narren wie Eckhard Henscheid, Jean Paul, Paul Scheerbart und Arno ­Schmidt sind oder doch ganz andere.39 Wo der Welt eine solche Dia­gnose gestellt wird, können keine Romane im konventionellen Sinn mehr geschrieben werden; und im postmodernen auch nicht mehr.

1 Jörg Drews: »Odradek, liebevoll eingekreist. Das scharfsinnige philosophische Quodlibet des Ulrich Holbein«, in: Ders.: »Luftgeister und Erdenschwere. Rezensionen zur deutschen Literatur 1967–1999«, Frankfurt / M. 1999, S. 167–170, hier S. 168. — 2 Dass auch Ar­­beiten, die nicht als Romane bezeichnet werden (etwa »Ozeanische Sekunde«, 1993; »Weltverschönerung«, 2008), hier als solche verhandelt werden könnten, ist ein weiteres The­­ma. — 3 Ulrich Holbein: »Knallmasse. Ein kosmisches Märchen«, Hildesheim 1993, S. 34. — 4 Ebd., S. 15. — 5 Ebd., S. 228. — 6 Ebd., S. 76. — 7 Ebd., S. 216. — 8 Ebd., S. 224. — 9 Ebd., S. 152. — 10 Ebd., S. 153. — 11 Hans Ulrich Gumbrecht: »Postmoderne«, in: »Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft«, Neubearbeitung gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hg. von Jan-Dirk Müller, Bd. III: P – Z, Berlin, New York 2003, S. 136–140, hier S. 138. — 12 Vgl. ebd., S. 139. — 13 Jörg Drews: »Auf Ulrich Holbein«, in: Ders.: »Vergangene Gegenwart – Gegenwärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken und Laudationes zur deutschsprachigen Literatur 1960–1994«, Bielefeld 1994, S. 244–249, hier S. 247. — 14 Hartmut Steinecke: »Roman – Romantheorie«, in: »Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft«, Bd. III: P – Z, a. a. O., S. 317–326, hier S. 324. — 15 Ebd. — 16 Ulrich Holbein: »Warum zeugst du mich nicht? Roman«, Zürich 1993, S. 11. — 17 Ebd., S. 49. — 18 Ebd., S. 181. — 19 Ebd., S. 182. — 20 Ebd., S. 188. — 21 Ebd., S. 151. — 22 Ebd., S. 197. — 23 Ebd., S. 191, 193. — 24 Ebd., S. 203. — 25 Ebd., S. 158. — 26 Ebd., S. 206. — 27 Ulrich Holbein: »Isis entschleiert. Roman«, 2. Aufl., Heidelberg 2000, S. 5. Vgl. Novalis’ Vorlage in den »Materialien zu ›Die Lehrlinge zu Saïs‹« in: Novalis: »Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs«, hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 1: »Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe«, Darmstadt 1999, S. 234–236, hier S. 234. — 28 Friedrich Schiller: »Das verschleierte Bild zu Sais«, in: Ders.: »Sämtliche Werke in 5 Bänden«, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hg. von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel, Frankfurt / M. u. a. 2004, Bd. 1, S. 224–226, hier S. 226. — 29 Vgl. Novalis: »Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe«, a. a. O., S. 216 f., 234. — 30 Als Überblick vgl. Hans Bonnet: »Isis«, in: Ders.: »Lexikon der ägyptischen Religionsgeschichte«, 3. Aufl., Hamburg 2000, S. 326–333, und George Hart: »Ägyptische Mythen«, aus dem Englischen übersetzt von Xenia Engel, Stuttgart 1993, S. 75–84. — 31 Holbein: »Isis entschleiert«, a. a. O. S. 144 f. — 32 Ulrich Holbein: »Die einzige fühlende Brust«, in: »konkret«, 2005, H. 10, S. 38 f., hier S. 39. — 33 Holbein: »Isis entschleiert«, a. a. O., S. 128. — 34 Ebd., S. 178. — 35 Vgl. ebd., S. 285–330 (»Entschleierungs-Splitter«), 352–355 (»Erklärung einiger Fachbegriffe«). — 36 Ebd., S. 288. — 37 Vgl. Ulrich Holbein: »Der belauschte Lärm«, Frankfurt / M. 1991, S. 81–93, 120–133. — 38 Als Resümee dieser Kriterien von Moderne vgl. Steinecke: »Roman«, a. a. O., S. 321. — 39 Vgl. Ulrich Holbein: »Narratorium. Abenteurer, Blödelbarden, Clowns, Diven, Einsiedler, Fischprediger, Gottessöhne, Huren, Ikonen, Joker, Kratzbürsten, Lustmolche, Menschenfischer, Nobody, Oberbonzen, Psychonauten, Querulanten, Rattenfänger, Scharlatane, Theosophinnen, Urmütter, Verlierer, Wortführer, Yogis, Zuchthäusler. 255 Lebensbilder«, Zürich 2008.

Lutz Hagestedt

Aneignung der Schrift
Ulrich Holbeins Poetik der Sinne – am Beispiel illustriert