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Inhalt

Ein heftiges Gewitter

Ausgerechnet Hexen!

Luna

Zu hoch hinaus

Vier verflixte Hexsiegel

Ein Spiegel, ein Labyrinth und ein Hexspruch für Not und Gefahr

Das alte Haus am Rauen Forst

Schwefel liegt in der Luft

Rosalia von Rosenburg

Allerlei hilfreiche Hexsprüche

Schwarze Seiten und Schwarze Bücher

Ein Plan muss her!

Flauipauis Kräuterkünste

77 Tage des Jammers

Die Hexenwelt ist in Gefahr!

Ein nächtlicher Eindringling

Hexenrat auf dem Blocksberg

Luna, die Sanftmütige

Potzklafter und Rosenblitz!

Drachen-Rachen

In Deckung!

Die Rosenburg

Im Hexenlabyrinth

Rosalias Hexenlist

Missbrauche nicht die Macht des Spiegels!

Alterslose Zier

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Ein heftiges Gewitter

Es war ein heißer Sommersonntag. Seit Wochen hatte es in Neustadt nicht geregnet. Das sollte sich allerdings heute ändern, wenn man dem Wetterbericht Glauben schenken konnte. Ein schweres Gewitter war im Anmarsch mit heftigen Sturmböen und Hagelschauern.

Das aber klang für die meisten Neustädter dann doch zu unwahrscheinlich. Sturm und Hagel? Wo sollten die denn herkommen, wenn am Himmel nicht die kleinste Wolke zu sehen war?

Kein Grund also, an diesem Sonntag zu Hause zu bleiben. Das wäre ja auch noch schöner! Schließlich war heute in Neustadt Flohmarkt, und diese Attraktion wollte sich kaum jemand entgehen lassen. Von alten Büchern, Schallplatten und Bildern bis hin zu antiken Möbeln, Kleidern und Schmuck gab es einfach nichts, was es nicht gab.

Die vielen bunten Stände auf dem Marktplatz vor dem alten Rathaus und dem imposanten Gebäude der Stadtbibliothek boten einen hübschen Anblick – vor allem aus der Luft betrachtet. Wenn man sich etwa hundert Meter über dem Boden befand, konnte man den ganzen Platz überblicken. Aber wer außer einem Vogel hatte schon die Gelegenheit, sich das alles aus dieser Höhe anzusehen? Wohl niemand. Oder doch?

„Eene meene Brandung, Kartoffelbrei, los, Landung! Hex-hex!“, ertönte auf einmal eine Stimme. Pfeilschnell kam jemand durch die Luft herabgeschossen, und dieser Jemand war natürlich niemand anderer als Bibi Blocksberg, die stadtbekannte kleine Hexe, auf ihrem Besen Kartoffelbrei!

Ein Stück hinter ihr folgte eine zweite Junghexe. Sie flog deutlich langsamer, blickte verträumt in die Gegend und fuhr sich mit der Hand durch das lange rotbraune Haar. Während Bibis Kartoffelbrei aussah wie ein normaler Reisigbesen mit einem soliden Holzstiel, wirkte der andere Besen zart und verspielt. Er hatte statt Borsten einen Strauß aus Gänseblümchen und Wiesengräsern, der mit einer roten Schleife zusammengebunden war. Und so hieß der Besen auch: Gänseblümchen, und die Hexe darauf war Flauipaui, Bibis Schulfreundin aus dem Hexenunterricht bei der alten Mania.

„Komm schon!“, rief Bibi. „Jetzt trödel doch nicht so!“

„Ja, schon gut!“, rief Flauipaui zurück und hexte: „Eene meene Ungestümchen, lande jetzt, mein Gänseblümchen! Hex-hex!“

Ganz langsam neigte sich Flauipauis Besen und ging in den Sinkflug über.

Bibi verdrehte die Augen. Warum hatte sie ausgerechnet Flauipaui gefragt, ob sie mit ihr auf den Flohmarkt gehen wollte? Nun kämen sie wahrscheinlich nur im Schneckentempo voran und Flauipaui würde immer an den Ständen stehen bleiben, die Bibi überhaupt nicht interessierten. Stände mit Parfümfläschchen zum Beispiel. Oder mit Wimperntusche. Oder Nagellack. Bibi seufzte. Mit Marita oder Moni wäre das bestimmt viel lustiger gewesen, aber leider hatten die zwei heute keine Zeit.

Nachdem die beiden Junghexen vor den Stufen des Rathauses gelandet waren, holte Flauipaui erst einmal einen Spiegel hervor und kämmte sich die Haare, die ihr der Fahrtwind zerzaust hatte. Ganz zufrieden war sie mit dem Ergebnis nicht, und so nahm sie auch auf dem Flohmarkt häufig den Spiegel zur Hand. Bibi stellte zu ihrer Freude fest, dass Flauipaui dadurch abgelenkt war und sich an den Ständen mit den uninteressanten Sachen vorbeischieben ließ.

Schließlich aber beschwerte sie sich: „Müssen wir bei der Affenhitze so rennen, Bibi? Außerdem verpassen wir das Beste! Guck mal, die Schmuckstücke da drüben!“

Schmuckstücke?, dachte Bibi und seufzte. Bestimmt waren das nur kitschige Ketten und Haarspangen mit rosa Blümchen.

Doch zu Bibis Überraschung gab es an dem Stand, auf den Flauipaui zusteuerte, tatsächlich viel Interessantes zu entdecken: silberne Krötenkopf-Ohrringe zum Beispiel oder Armreifen, die mit Feuer speienden Drachen verziert waren. Richtig hexisch sah das aus! Bibi und Flauipaui stöberten begeistert, und der Besitzer des Standes, ein freundlicher alter Mann, sah ihnen schmunzelnd dabei zu.

„Ui, guck mal Bibi!“, rief Flauipaui. „Das Amulett hier!“

Das Schmuckstück, das Flauipaui meinte, lag zusammen mit einigem Krimskrams in einer unscheinbaren kleinen Holzkiste. Es hing an einer Kette und war etwa so groß wie Bibis Handteller. Besonders angetan hatten es Flauipaui offenbar die Rosen, mit denen das Amulett verziert war: zwölf rote Rosen, im Kreis angeordnet, ähnlich den Ziffern einer Uhr.

„Das ist doch bestimmt unglaublich wertvoll!“, hauchte Flauipaui.

„Nein, nein, junges Fräulein“, meinte der Standbesitzer lachend. „Es ist zwar aus Silber – oder wenigstens versilbert –, aber leider ist es beschädigt. Eigentlich sollte sich der Deckel öffnen lassen, doch die Scharniere müssen sich verzogen haben. Ich habe den Deckel jedenfalls nicht aufbekommen.“

Bibis Neugierde war geweckt: Etwas, das sich nicht ohne Weiteres öffnen ließ, musste ein Geheimnis verbergen – da war sie sich sicher.

„Woher haben Sie es?“, fragte sie.

„Ich habe die Holzkiste einem Bauern abgekauft. Seine Frau hatte sie ganz hinten auf dem Dachboden in einem entlegenen Winkel gefunden.“

Da pfiff auf einmal eine starke Windböe zwischen den Ständen des Marktplatzes hindurch, und das Gespräch wurde jäh unterbrochen. Der alte Mann sah besorgt zum Himmel auf. „Der Wetterbericht hatte wohl doch recht“, murmelte er. „Da kommt das Gewitter …“

Über dem Dach der Stadtbibliothek war der Himmel schon schwefelgelb, und am Horizont türmten sich in Windeseile gewaltige schwarze Wolken auf, die rasend schnell näherkamen. Wild flatterte die Plane des Schmuckstands in den Sturmböen, und die Holzlatten knarrten und ächzten. Der Standbesitzer versuchte, einige Schnüre an der Plane festzuziehen, doch der Wind riss sie ihm aus der Hand.

Bibi sah Flauipaui an. Da mussten sie etwas tun! Am Ende brach der Stand zusammen!

„Erinnerst du dich noch an den Sicherungsspruch, den uns Tante Mania im Hexenunterricht beigebracht hat?“, fragte Bibi.

Flauipaui schüttelte den Kopf. In dem Getöse schien ihr gesamtes hexisches Wissen wie weggeblasen zu sein. Bibi half ihrem Gedächtnis auf die Sprünge: „Eene meene große Eile …“

„Ach ja!“, rief Flauipaui. „Wir müssen gleichzeitig hexen, oder? Du von der einen Seite und ich von der anderen?“

„Genau!“

Die beiden stellten sich mit ausgestreckten Armen in Hexposition: Bibi links, Flauipaui rechts von dem Schmuckstand. Dann hexten sie: „Eene meene große Eile, sichern sollen dich vier Seile. Von Nord und Süd, von Ost und West, so halten dich die Seile fest. Hex-hex!“

Das doppelte „Hex-Plingpling“ war in dem Getöse kaum zu hören. Doch der Spruch wirkte. Hexsternchen kreisten um die Finger der beiden Junghexen und wirbelten zum Schmuckstand. Augenblicklich erschienen in der Luft vier Seile, die sich an den Ecken des Standes festknüpften, sich straff spannten und anschließend mit Holzpflöcken im Boden verankert wurden.

Das alles geschah keine Sekunde zu früh. Das Gewitter war jetzt genau über dem Marktplatz. Es blitzte und krachte. Regen und Hagel prasselten auf die Flohmarktbesucher herab. Bibi und Flauipaui schlüpften zu dem Standbesitzer unter die Plane. Dort waren die drei erst einmal vor Sturm, Regen und Hagel sicher.

Ausgerechnet Hexen!

So plötzlich wie das Unwetter gekommen war, so schnell verzog es sich auch wieder. Eine letzte Sturmböe pfiff über den Marktplatz, dann war von dem Gewitter nur noch ein entferntes Grummeln zu hören. Die Wolkendecke riss auf, und über Neustadt schien freundlich die Sonne, als wäre nichts gewesen.

Bibi, Flauipaui und der Besitzer des Schmuckstands atmeten auf. „Ich hexe die Seile weg!“, rief Bibi und streckte die Arme aus. „Eene meene kurze Stunden, ihr vier Seile, seid verschwunden! Hex-hex!“ Es machte „Plingpling“, und Hexsternchen schwirrten von Bibis Fingern zu den Seilen, die sich augenblicklich in Luft auflösten.

„Das habt ihr beiden großartig gemacht!“, rief der alte Mann. „Ohne eure Hilfe wäre der Stand sicherlich zusammengebrochen.“

Bibi und Flauipaui murmelten verlegen: „Das war doch selbstverständlich“ und: „Man hilft, wo man kann“, aber der Mann fuhr überschwänglich fort: „Ich möchte euch etwas schenken. Ein Schmuckstück von meinem Stand.“

Bibi wollte gerade sagen, dass das wirklich nicht nötig wäre, doch da kam ihr Flauipaui zuvor. Mit verklärtem Blick begann sie zu plappern: „Ein Schmuckstück? Wirklich? An welches hätten Sie denn gedacht? Also ich finde ja ganz besonders …“

„Flauipaui!“, ermahnte Bibi sie.

Der Mann schmunzelte. „An welches ich gedacht habe? Wie wäre es denn mit dem Amulett? Das hat euch doch so gut gefallen.“

Das Amulett? Die beiden Mädchen sahen sich an. Das war allerdings etwas anderes, dachte Bibi. Das Amulett wirkte so geheimnisvoll, so verwunschen, so hexisch. – Welche Junghexe konnte da Nein sagen?

„Also …“, begann Bibi, „wenn Sie uns das wirklich schenken möchten …“

Der alte Mann lächelte, nahm Bibis Hand und legte das Schmuckstück hinein. „ Hier“, sagte er. „Es gehört euch.“

Bibi fühlte das kühle Metall in ihrer Hand. Das Amulett war leichter, als sie gedacht hatte. Sie hob es an der Kette in die Höhe. Da glänzte es im Sonnenlicht, und es war, als ob eine leuchtende Aura jede einzelne der zwölf Rosen umgab.

„Oh, bitte, darf ich es zuerst tragen?“, bettelte Flauipaui. „Bitte, Bibi, gib es mir!“

„Na schön“, sagte Bibi. „Aber wir wechseln uns ab!“

Nun hielt Flauipaui das Amulett in den Händen und betrachtete es ehrfürchtig. „Wer weiß, wem das früher einmal gehört hat. Bestimmt einer wunderhübschen jungen Hexe!“

„Und warum nicht einer garstigen alten mit zerzausten Haaren und einer Warze auf der Nase?“, neckte Bibi sie.

„Quatsch!“, entgegnete Flauipaui. „Die hätte niemals einen so erlesenen Geschmack gehabt!“

Bibi brach in prustendes Gelächter aus. Wie Flauipaui das sagte: erlesener Geschmack! Manchmal benahm sie sich wirklich wie eine kleine Prinzessin. Auch wie sie sich jetzt mit hoheitsvoller Miene das Amulett umhängte, war einfach zu komisch.

„Ja, lach du nur“, sagte Flauipaui. „Man muss solche Kostbarkeiten mit Würde tragen!“

Bibi grinste. „Na klar! Und jetzt? Wünschen Eure Hoheit weiter über den Flohmarkt zu gehen?“

„Eine ausgezeichnete Idee, meine liebe Bibi.“

„Ich sehe schon“, sagte der Standbesitzer augenzwinkernd, „mit dem Amulett werdet ihr viel Spaß haben!“

Die beiden Mädchen verabschiedeten sich von dem netten Mann und setzten ihren Rundgang über den Flohmarkt fort. Flauipaui schritt noch eine Weile majestätisch neben Bibi her, doch es dauerte nicht lange, und die Kostbarkeit an ihrem Hals geriet vorübergehend in Vergessenheit. Es gab ja noch so viel zu entdecken! Da war zum Beispiel ein Stand mit alten Hüten, an dem die beiden Mädchen kichernd ein Modell nach dem anderen aufsetzten und sich dabei im Spiegel bewunderten. Auch ein Stand mit Perücken hatte es ihnen angetan, und einige Zeit später konnten sie sich von einer Kollektion schrill bunter Sonnenbrillen nur schwer wieder losreißen.

Als sie nach gut zwei Stunden wieder in der Nähe des Schmuckstands waren und Bibi gerade an einem Stand mit alten Kleidern in einem riesigen Schrankkoffer stöberte, hörten sie auf einmal ein Kreischen: „Was soll das heißen: Sie haben es nicht?!“

„Na ja … Dass ich es eben nicht habe …“, stammelte eine zittrige Stimme, die Bibi gleich erkannte. Das war doch der nette alte Mann, der ihnen das Amulett geschenkt hatte!

Tatsächlich, dort drüben war er. Eine Frau stand vor dem Tresen des Schmuckstands, gestikulierte wild mit den Armen und schimpfte auf den Mann ein. Ihr Gesicht war vor Zorn purpurrot angelaufen. Doch auch sonst war an ihr alles purpurrot: der flache Hut mit der breiten Krempe, der Umhang mit dem steil aufgerichteten Kragen, das wallende Kleid darunter, ja sogar die Lederstiefel mit den hohen Absätzen.

Eines war klar, an der Kleidung hatten Bibi und Flauipaui es bereits erkannt, aber ein noch deutlicherer Hinweis war der Besen, der drüben am Tresen lehnte: Die purpurrote Frau war eine Hexe!

„Was soll das heißen“, kreischte sie weiter auf den Standbesitzer ein, „dass Sie es nicht haben? Erzählen Sie mir keine Märchen!“

„Aber das tue ich nicht“, erwiderte der Mann zaghaft.

Flauipaui war das Ganze unheimlich. Vorsichtshalber ging sie hinter dem Schrankkoffer in Deckung, und auch Bibi hatte das Gefühl, dass es besser sei, wenn die Frau sie nicht entdeckte. Sie duckte sich neben Flauipaui hinter den Koffer.

„Nun hören Sie mal gut zu, Sie kleiner Wurzelzwerg!“, schimpfte die Frau in Rot. „Meine Hexenkugel irrt sich nicht! Wenn sie mir das Amulett hier zeigt, dann ist es auch da! Und Sie werden mir jetzt augenblicklich verraten, wo es ist!“

„Nun, es … es könnte sein …“, murmelte der Standbesitzer.

„Was könnte sein?“

„Es könnte sein, dass ich es verschenkt habe.“

„Verschenkt?“, kreischte die Hexe. „An wen? Los, spucken Sie’s aus!“ Und mit einem kalten Lächeln fügte sie hinzu: „Sonst werde ich ernstlich böse.“

„Nur das nicht! Ich glaube …“, stotterte der alte Mann, „ich glaube, die eine hieß Florentine … oder Flau … Flauriane … Genau erinnere ich mich nicht.“

„Und die andere?“

„Den Namen habe ich vergessen.“

„Das ist schon wieder ein Märchen!“ Die Hexe beugte sich weit über den Tresen, unter dem der Standbesitzer bis zur Nasenspitze verschwunden war.

„Es könnte sein, dass sie Bibi hieß“, murmelte er.

„Was?! Etwa Bibi Blocksberg, die stadtbekannte Hexe? Dann war die andere doch sicherlich nicht Flauriane – sondern Flauipaui!“

„Nun … das … wäre möglich.“

„Ausgerechnet Hexen mussten Sie das Amulett schenken!“ Ihr Gesicht war nun nicht mehr nur purpurrot, es war dunkellila, und die Augen schienen Funken zu sprühen. „Was hindert mich eigentlich daran, Sie in einen Wurm zu verwandeln? Oder in eine Kröte? Oder in ein dickes fettes Walross?“

Sie streckte ihre geballten Fäuste zum Himmel und schüttelte sie. Zwei Worte waren es, die sie immer wieder hervorstieß und die Bibi und Flauipaui einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagten: „Ausgerechnet Hexen! Aus-ge-rech-net He-xen!“