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Mami
– 1772–

Liebe, aber freche Gäste

Eva-Maria Horn

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-86377-983-2

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  Die junge Tierärztin tastete noch einmal sorgfältig den Unterbauch des Schäferhundes ab, der alles geduldig mit sich geschehen ließ.

  »Er ist wieder in Ordnung, Lenchen, da haben wir noch einmal Glück gehabt. Aber bitte, denke daran, nach einer ausgiebigen Mahlzeit sollte er nicht wie ein Wilder herumrennen. Jetzt hatten wir es nur mit Magenkrämpfen zu tun. Es kann aber auch leicht ein Magendurchbruch werden.«

  »Kannst du ihm dann nicht helfen?« wollte das kleine Mädchen wissen und riß ängstlich die Augen auf.

  »Manchmal ist einem Tier dann nicht mehr zu helfen, Lenchen.« Dr. Manuela Huber hob den schweren Hund vom Tisch herunter und gab ihm einen wohlwollenden Klaps. Blitzschnell leckte das Tier über Manuelas Hand, als wollte es sich bedanken.

  »Könnte ihm Dr. Schönfeld auch nicht helfen?« bohrte das Kind weiter. Die Kleine hockte sich auf den Boden und umschlag zärtlich den Hals des Hundes.

  Einen winzigen Augenblick flog Ärger Manuela an.

  »Nein, auch Dr. Schönfeld nicht«, erklärte sie dem Kind schroffer, als es sonst ihre Art war.

  Die Sprechstundenhilfe, die auch Dr. Schönfelds rechte Hand gewesen war, öffnete dem Kind die Tür und schloß sie wieder hinter den beiden. Sie warf einen Blick auf die Tierärztin, die das Thermometer unter fließendem Wasser abspülte und es in ein Glas mit sterilisierter Lösung steckte.

  »Sie sollten sich darüber nicht ärgern, Manuela.« Waren sie allein, nannten sie sich beim Vornamen, waren Patienten im Raum, beharrte Tanja darauf, sie Frau Doktor zu nennen.

  »Sie haben in dieser Zeit doch schon viel erreicht. Bei beinahe allen haben Sie mit dem Vorurteil, daß nur ein Mann ein guter Tierarzt sein kann, aufgeräumt. Denken Sie daran, daß sogar der Gutsherr Bertram von Grünberg, der ungekrönte König unseres Bezirks, Sie zu seinem besten Reitpferd holte.

  »Sie haben recht, Tanja, aber es geht mir nun einmal gegen den Strich, immer und immer mit Mißtrauen kämpfen zu müssen. Dabei hat das Kind nichts weiter getan, als eine Frage gestellt. Außerdem ist Dr. Schönfeld ein hervorragender Arzt, ich habe viel von ihm gelernt. Als ich frisch von der Uni zu ihm kam, war ich mit theoretischem Wissen vollgestopft, aber ich habe bald begriffen, daß zwischen Theorie und Praxis ein gewaltiger Unterschied ist.«

  Die beiden Frauen lachten sich an. Manuela strich ihr kurz geschnittenes Haar zurück und pustete sich eine Locke aus der Stirn.

  »Ist noch jemand im Wartezimmer?«

  Tanja nickte und zog ihre etwas zu groß geratene Nase kraus. »Ja. Zwei Kinder, ein Herr und ein Hund. Der einzige, der gesund wirkt, ist der Hund. Der Mann sieht aus, als wäre er dem Totengräber von der Schippe gesprungen, und die Kinder machen einen verstörten Eindruck. Aus dieser Gegend sind sie nicht.«

  Tanja war eine ausgezeichnete Tierpflegerin, und Manuela war klug genug, Tanja ernst zu nehmen, sie hatte schon manche treffsichere Diagnose gestellt.

  Und doch schwang leichter Spott in Manuelas Stimme. »Sie glauben also, das Trio hat sich in der Adresse geirrt? Bitten Sie Mann, Kinder und Hund bitte hinein.«

  Was ist denn heute nur mit mir? dachte Manuela reumütig. Bei dem Satz eines kleinen Mädchens schnappe ich ein und an Tanja wetze ich meine Zunge. Du solltest mehr an dir arbeiten, meine Liebe. Ein guter Stil ist das nicht.

  »Bitte«, Tanja führte die kleine Gruppe ins Sprechzimmer. Nur einen Augenblick hatte es Manuela die Sprache verschlagen.

  »Ist das denn die Möglichkeit«, rief sie. Dann brach ein ungeheuerer Tumult los. Der Hund bellte, die Kinder warfen sich gegen sie und versuchten, sich Gehör zu verschaffen. Mit beiden Armen umfing Manuela sie, während der Hund hingebungsvoll Manuelas Hand leckte.

  Über den Kopf der Kinder hinweg sah Manuela auf ihren Bruder.

  »Robbi.« Sie mußte schlucken. Unendliches Mitleid mit dem Mann, der wie ein Häufchen Unglück noch immer in der Tür stand, erfaßte sie. »Warum habt ihr euch denn ins Wartezimmer verkrochen?«

  Sie wollte so vieles fragen. Roberts und ihre Blicke hefteten sich ineinander. Er brauchte nichts zu sagen, seine Augen führten eine beredte Sprache. Robert hatte vor einem halben Jahr seine Frau verloren, sie war der Mittelpunkt seines Lebens gewesen.

  »Weil Papa es wollte«, übertönte die achtjährige Bettina ihren Bruder, der in seiner bedächtigen Art alles erklären wollte. »Weil Papa meinte, daß du erst mit deiner Arbeit fertig sein sollst, bevor wir auftauchen.«

  »Ich freue mich«, stammelte Manuela. Sie spürte die Tränen wie einen Kloß in ihrem Hals. Das fehlte noch, daß sie sich in Tränen auflöste! »Ich freue mich riesig.«

  Tanja war zum Instrumentenschrank gegangen und überlegte gerade, ob sie ihre Arbeit unterbrechen sollte.

  »Tanja, das ist mein Bruder und das ist Bettina und das ist Stefan. Und der wunderschöne Schweizer Sennhund heißt Hubert. Fragen Sie mich nicht, warum er diesen Namen bekam.«

  Tanja lächelte, sie reichte dem Mann die Hand und nickte den Kindern zu. »Ein wunderschöner Hund, ich habe gleich gesehen, daß er nicht krank ist.« Sie kraulte Hubert genau an der Stelle, an der der schwarze Hund gestreichelt werden wollte.

  »Ich räume hier schon allein auf, Manuela, heute haben wir ja keinen Saustall aus unserem Sprechzimmer gemacht. Soll ich Josefine Bescheid sagen, daß sie eine Erfrischung richtet?«

  »Das wäre nett von Ihnen, Josefine.« Manuela warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Das heißt, wir werden im Wohnzimmer einen Cognac trinken, mein Bruder und ich. Die Kinder könnten Sie mit in die Küche nehmen, damit sie Josefine begrüßen. Und bitte, sagen Sie ihr, daß vier Gedecke mehr aufgelegt werden müssen.«

  »Vier?« fragte Tanja verdutzt. Manuela nickte und schob ihren Arm unter Roberts Arm. Der stand noch immer da wie festgewachsen und sagte nichts, nur die Muskeln in seinem Gesicht zuckten.

  »Natürlich vier. Heute mittag müssen Sie mit von der Partie sein, Tanja. Und heute abend bitte ich Dr. Schönfeld dazu. Man muß die Feste feiern, wie sie fallen. Wenn mein Bruder und seine Kinder kommen… das ist für mich ein Fest.«

  Damit drückte sie den Arm des Mannes mit all der Zärtlichkeit, die sie in sich fühlte.

  Ein wenig befangen folgten die Kinder der Fremden durch den Korridor. Die lustigen Bilder an den Wänden sah nur Bettina. Bettina sog auch mit Vergnügen den fremden Duft in sich hinein. Kräuterduft, und darunter mischte sich der Geruch nach Medikamenten.

  »Josefine ist Haushälterin, sie gehört sozusagen zum Inventar, sie war schon Haushälterin bei den Eltern von Dr. Schönfeld. Damals war sie natürlich noch sehr jung. So, hier ist die Küche.«

  Sie legte die Hand auf die Türklinke, die glänzte, als wäre sie aus reinem Gold. »Josefine ist schon sehr alt. Eigentlich müßte sie sich zur Ruhe setzen, aber das will sie nicht. Ihr müßt ein wenig laut reden, sie hört schwer. Und ihr dürft nicht erschrecken, wenn sie schimpft, sie meint es nicht so. Das ist einfach ihre Art.«

*

  Manuela hatte ihren Bruder in ihr Wohnzimmer geführt.

  »Willkommen bei mir!« Manuela versuchte verzweifelt, über den Druck, der auf ihrem Herzen lastete, Herr zu werden. »Ich kann dir gar nicht sagen, Rob, wie sehr ich mich freue, daß du gekommen bist.«

  Er sah sich in dem gemütlich eingerichteten Zimmer um. Die Sonne warf Lichtflecken auf den Teppich, der die alten Dielen bedeckte.

  »Du hast ja deine Möbel hierhergeholt«, staunte er. Er sah von den Polstersesseln auf den alten, behäbig aussehenden Eibeschrank, der die Stirnseite des Zimmer beherrschte. Er begrüßte die Möbel wie liebe Bekannte.

  »Ja, Rob. In der vorigen Woche habe ich meine Wohnung in Berlin aufgelöst, weil ich mich entschlossen habe, hierzubleiben. Komm, setz dich.«

  Aber er blieb stehen, er lehnte den Rücken gegen die Bücherwand und fuhr mit einer erschöpften Bewegung über sein blasses Gesicht. Der Satz Tanjas fiel ihr ein, und ihr Magen krampfte sich in Panik zusammen. Er sieht aus, als wäre er dem Totengräber von der Schippe gesprungen.

  »Ich mußte kommen, Mirl.« Mirl, so hatte sie der Vater immer genannt. Der Name ihrer Kindheit ließ einen winzigen Augenblick das Leben in ihrem Elternhaus in Gedanken vorüberziehen.

  Rob und sie. Zwei behütete geliebte Kinder. Das Leben in dem großen, im Jugendstil gebauten Haus mit dem riesigen Garten, den alten Bäumen, den Spielkameraden, die bei ihnen ein und aus gingen. Und immer wieder Rob, der große Bruder, der Freund, Rob, ein fröhlicher aufgeweckter Bub, der schon sehr früh wußte, daß er einmal Archäologe werden wollte.

  »Ich mußte kommen«, sagte er noch einmal und schluckte schwer. »Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Ich dachte manchmal, ich müßte verrückt werden. Nachts bin ich durch alle Zimmer gerannt, ich kann dir nicht sagen, warum. Aber ich konnte nicht im Bett liegen, ich konnte nicht in einem Zimmer sein. Ich bildete mir ein, ich hätte Gittas Schritt gehört, ich hörte sie lachen…«

  Er schlug die Hände vors Gesicht. Wie ein Bild des Jammers stand er da, mit hängenden Schultern, der Anzug zerknittert. Ihr geliebter, kluger Bruder, vor einem Jahr war sein Bild in allen Fachzeitschriften gewesen, der Archäologe Dr. Huber, der eine aufregende Entdeckung gemacht hatte, der mit seinem Buch eine große Auflagenzahl erreichte.

  »Komm, trinken wir erst einmal einen Schnaps. Lebte Mutter noch, dann würde sie uns allerdings Tee anbieten. Für sie war Tee der Retter in jeder Notlage.

  Er nahm die Hände vom Gesicht und versuchte ein Lächeln. Es wurde nur eine klägliche Grimasse daraus, die Manuelas ins Herz schnitt. »Gitta war mehr für Handfestes, wie du auch. Alle unsere Freunde bekamen ihren Wein serviert, den sie selbst ansetzte.«

  »Du hast so viel wunderbare Erinnerungen, Rob. Ich möchte dir noch einmal sagen, wie froh ich bin, daß du gekommen bist. Ich hoffe sehr, daß es nicht nur ein Besuch von wenigen Tagen ist.«

  Er ließ sich in den Sessel fallen.

  »Ich brauche deine Hilfe, Mirl.« Er hob den Kopf, über die Länge des Zimmers sah er sie an. Sie hatte die dickbauchige Flasche vom Teewagen genommen, zwei Gläser stellte sie auf das glänzende Eibenholz.

  »Schon zugesagt. Jede Hilfe, Rob. Das ist gar keine Frage.«

  »Sei nicht so voreilig, Mirl. Warte lieber ab, um was ich dich bitte.«

  Mit den Gläsern in der Hand kam sie zu ihm. In ihren blauen Augen las er die Zärtlichkeit, die sie verband. Zum ersten Mal nach dem Tod seiner Frau betrachtete er einen Menschen wieder bewußt. Er kniff die Augen ein wenig zusammen und ließ keinen Blick von ihr. Sie war schön, von einer natürlichen, sauberen Schönheit. Ihr klares Gesicht mit den klugen blauen Augen, der lustigen Stupsnase, dem schön geschwungenen Mund und dem Grübchen in der linken Wange mußte jedes Männerherz höher schlagen lassen.

  »Muster mich ruhig.« Sie reichte ihm das Glas und lächelte spitzbübisch dabei. »Ich habe seit dem frühen Morgen nicht mehr in den Spiegel gesehen. Abgearbeitet, älter geworden, ungepflegt…«

  »Das, was du sagst, glaubst du hoffentlich selbst nicht. Weißt du, das Bettina dir gleich, als wäre sie deine Tochter?«

  Sie zog eine lustige Grimasse und setzte sich auf die Lehne des alten Ohrensessels, dem man ansah, daß er oft und mit Behagen benutzt wurde.

  »Ich hoffe nur, sie hat nicht auch meine Fehler geerbt. Weißt du noch, Rob, wie oft du entsetzt über mich warst, wenn ich meinen Rappel kriegte? Ich bin leider noch immer jähzornig, und mir ist erst anschließend klar, daß ich mich mal wieder habe gehenlassen. Großmutter behauptete immer, daß mir mein Dickkopf noch einmal ein Bein stellen würde. Aber bitte, sag, was ich für dich tun kann.«

  Sie tranken sich zu. Er hielt das Glas zwischen den Händen. Schöne Hände waren es mit langen Fingern, als gehörten sie einem Künstler.

  »Du weißt, daß ich an meinem Buch arbeite, aber nach Gittas Tod habe ich nicht eine Zeile mehr geschrieben.«

  »Willst du es hier zu Ende schreiben?« Sie strahlte ihn an, als machte er ihr damit ein großes Geschenk. »Das Haus ist riesig, hier ist Platz genug. Dr. Schönfeld wird begeistert sein, wenn endlich ein Mann hier einzieht. Ich habe ihm einmal erzählt, wie ausgezeichnet du Schach spielen kannst. Er bekam ganz sehnsüchtige Augen.«

  »Ich habe eine andere Bitte, Mirl. Ich muß hier raus. Raus aus Deutschland, ich muß wieder zu mir selbst finden, das bin ich meinen Kindern schuldig. Ich bin jetzt allein für sie verantwortlich. Wenn sie schon ihre Mutter entbehren müssen, haben sie ein Recht auf einen normalen Vater. Aber hier werde ich nicht normal. Vielleicht bin ich zu schwach, charakterlos, was weiß ich.«