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Copyright © 2009 by Cadmos Verlag, Brunsbek

Gestaltung und Satz: Ravenstein + Partner, Verden

Illustrationen: Brigitte Forman, Jutta Kaiser-Atcherley

Alle Karikaturen: Christiane Aumund

Konvertierung: S4Carlisle Publishing Services

Alle Rechte vorbehalten.

Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.

eISBN 978-3-8404-6293-1

Inhalt

Über den Autor

In eigener Sache

Das Hausrind

Eine unendliche Geschichte

Holstein Friesian

Die Hightech-Kuh

Angler

Schleswiger Supersahne

Braunvieh

Die Käsekuh

Gelbvieh

Gelb regiert die Welp! Oder so?

Deutsch Angus

Beefsteak made in Germany

Schwarzbunte

Küstenklassiker

Rotbunte

Starke Minderheit

Vorderwälder

Bodenständig auch in Hanglagen

Harzer Rotvieh

Die harmonische Damenkapelle

Uckermärker

Bratenlieferant neuester Bauart

Pinzgauer

Ein Traktor auf dem Weg zur Mutterkuh

Eringer

Alpine Kampfkuh

Simmentaler (Fleckvieh)

Schweizer Exportschlager

Vosgienne (Vogesenrind)

Spezialistin aus dem Elsass

Charolais

Fleischrind mit Modelcharakter

Limousin

Beauf de France

Blonde d’aquitaine

Blonde bevorzugt

Maine Anjou

Rotbunt! Na und?

Salers

Der Schatz der Auvergne

Jersey

The Royal Butter Cow

Scottish Highland Cattle

Rote Schönheit aus dem Hochland

Galloway

Modisches Raubein für die Mittelklasse

English Longhorn

Ein Oldtimer im Comeback

Welsh Black

Mutterkuh aus dem Kohlenpott

Dexter

Klein, aber oho!

White Park Cattle

Altenglischer Nichtsnutz

Luing

Ein Ökorind für Profis

Hereford

Heller Kopf als Markenzeichen

Aberdeen Angus

Beef Black Blocks

Brahman

Echte Indianer

Santa Gertrudis

Europäisch-asiatische Kombination auf Amerikanisch

Murray Grey

Grauer Fleischberg vom fünften Kontinent

Piemonteser

Knackiges Kraftei

Chianina

Weißer Riese der Toscana

Blanc Bleu Belge

Rind im Rubenstyp

Toro De Lidia

Bravo Bravura, aber gar nicht brav

Berrenda en Colorada

Bunte Ochsen im Spezialeinsatz

Barrosa

Behornte Portweinspediteure

Szilay

Puszta, Paprika und Podolen

Fjällrind

Die Wikingerkuh

Maasai-Rind

Die Gottesgabe

Watussi

Kapitales Hornvieh

Zwergzebus

Lange verkannte Juwelen

Wagyu

Das teuerste Beefsteak der Welt

Heckrind

Synthetischer Auerochse

Wie kommt die Kuh zum Kalb

gestern-heute-morgen

Die Kuh – Das Kalb – Der Bulle

Was man weiß, was man wissen sollte

Kuhbücher

Für Sarah, Lena, Frische, Lerche, Goldfee, Virginia und die vielen anderen ihrer Art, die mich gelehrt haben zu respektieren, dass ein Rindvieh ein Rindvieh ist ohne ein Rindvieh zu sein.

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Über den Autor

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Der Autor, Dr. med. vet. Dr. rer. nat. Michael Brackmann, Jahrgang 1950, ist Kuhmann aus Überzeugung. In seiner tierärztlichen Land praxis in der Nähe von Osnabrück, die er seit mehr als 25 Jahren mit Leib und Seele betreibt, versorgt er vom kranken Meerschweinchen über Schweine und Pferde alles, was vier Beine oder zwei Flügel hat. Rinder sind und bleiben dennoch seine Favoriten unter den Tieren – wovon sowohl eine liebevoll zusammengestellte Bibliothek rund ums Rind als auch ein privates „Kuhmuseum“ Zeugnis ablegen. Dass sich seine Liebe zum Rindvieh nicht auf die grasenden Exemplare vor seiner Haustür beschränkt, sondern sich über den gesamten Globus erstreckt, bringt Dr. Brackmann im vorliegenden Buch zum Ausdruck.

In eigener Sache

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Blöde Kuh, albernes Kalb, dämlicher Ochse oder nur kurz und prägnant „Du Rindvieh“ sind unsere sprachlichen Anlehnungen an die Gattung Bos, die Rinderartigen. Ist das etwa alles, was uns einfällt zu der Spezies, welcher der Homo sapiens in seiner Geschichte so viel verdankt? Ist es Ausdruck unserer Einstellung und unseres Verhältnisses zu dem Tier, das uns schon so lange Nahrung, Kleidung, Wärme und Kraft zur Verfügung gestellt hat, kurzum uns nützlich war und ist?

Vielleicht ist uns die Kuh als Haus- und Nutztier so selbstverständlich geworden, dass wir gar nicht mehr darüber nachsinnen, wie viel Intelligenz, Kreativität und genialer Einfallsreichtum, nicht zu vergessen wie viel Mühe und Fleiß dazu gehörten, um aus dem urigen Auerochsen an die 600 Rinderrassen zu entwickeln, die heute zu erstaunlichen, fast unglaublichen Leistungen fähig sind.

Solche Ignoranz und Missachtung müssen jeden stören und ärgern, der sich wie ich nicht nur beruflich als „Kuhmann“ sieht. Die Bezeichnung „Cowboy“ ist leider schon anders belegt und für meine Altersgruppe nicht mehr ganz passend. Ich mag Kühe! Was nicht allein bedeutet, dass ich gerne Milch trinke, mit großem Appetit ein Steak verzehre und bevorzugt Lederhosen trage, sondern dass ich die Rindviecher als bedeutende Mitgeschöpfe schätze. Inzwischen bin ich fest davon überzeugt, dass nicht so sehr die Erfindung des Rades, wie landläufig und sprichwörtlich angenommen, den Homo sapiens zu Hochkulturen befähigte, sondern dass dies die Domestikation des Rindes war. Dabei ist es einerlei, wann und wo immer sie auch stattgefunden haben mag. Neben solch akademischer Zuneigung gehören zum Mögen ganz sinnliche Eindrücke.

Ich genieße es, wenn ein Kalb an meinen Fingern saugt, auch wenn die Hand nachher vom Speichel trieft und der Oberschenkel blaue Flecken von den knuffigen Milchstößen davonträgt. Eine friedlich auf der Weide ruhende Milchviehherde, die sich gleichmäßig wiederkäuend auf die nächste Melkzeit vorbereitet, vermittelt mir ein Gefühl von sozialer Ausgeglichenheit, wohl wissend, dass jede einzelne Kuh einen individuellen Charakter hat und recht ungehalten werden kann, wenn etwas nicht nach ihrem Sinne läuft. Aufmerksame Mutterkühe, die ihre Nachkommen nach fetzigem Spiel im Kälbergarten mit einem ordentlichen Schluck Milch stärken, aber niemals ohne vorher deren Identität mit der ewig feuchten Nase kontrolliert zu haben, deuten mir eine seltene biologische Harmonie an. Staunend sehe ich die Ausdauer und Stetigkeit, mit der Ochsen sich gleichmütig vor Pflug und Wagen ins Zeug legen, und ich bedauere dann, dass man diese Urkraft fast nie mehr bei uns und nur noch selten woanders erleben kann. An Bullen bewundere ich die athletische Figur mit den enormen Muskelmassen auf den säulenartigen Beinen. Mir imponiert ihr tiefes Grummeln und Brummen. Genauso kenne ich ihr oft überschlagend schrilles Brüllen nur zu gut. Selbstverständlich respektiere ich diese unmissverständliche Drohung, denn ich bin mir in diesem Falle meiner relativen Schwäche durchaus bewusst. Ich kann die Verehrung der alten Griechen problemlos nachempfinden, die ohne Ironie und Zynismus der Göttergattin Hera den schmeichelhaften Beinamen „Boopis“, die „Kuhäugige“, gaben. Allerdings empfehle ich dieses Kompliment nicht für den Flirt am Strand oder im Bistro. Die Rinder beneide ich um ihre Fähigkeit, sich mit der Zunge in der Nase zu bohren, um ihre Möglichkeit, ungestraft im Minutentakt aufzustoßen, und um ihre Sicherheit, mit der sie mir mit der Schwanzquaste regelmäßig zielgenau die Brille von der Nase schlagen. Wo auch immer ich Kühe treffe, streichele ich sie oder kratze und scheuere ihnen die Schwanzwurzel. Dabei freue ich mich an ihren genüsslichen Äußerungen des Wohlbefindens. Der säuerlich süße Kuhgeruch und der Stalldunst, komponiert aus Milch, Schweiß und Jauche, stinkt mir nicht. Kuhmist an den Schuhen stört mehr meine Frau als mich selbst, und die grünen Flecken an der Hose sind eher ein Problem für das Waschmittel als für meine Eitelkeit. Wenn Freunde bei mir einen „Kuhknall“ diagnostizieren, widerspreche ich nicht. Kühe finde ich gut!

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Über das, was wir mögen und schätzen, wollen wir auch etwas wissen. In den letzten 200 Jahren sind eine Fülle von Büchern geschrieben, Artikel verfasst, Zeitungen herausgegeben und Prospekte verteilt worden, die sehr viel Wissenswertes über das Rind im Allgemeinen und über die einzelnen Rassen im Besonderen enthalten. In meiner Bibliothek beansprucht ein winzig kleiner Ausschnitt davon etwa 20 laufende Meter. Der überwältigende Teil der Literatur ist sehr nüchtern abgefasst. Sie ist angereichert mit einem Wust von wissenschaftlichen Fakten, meist sehr anstrengend zu lesen und auch für den Interessierten nur sehr selten unterhaltsam. Die Unterschiede zwischen den vielfältigen und vielgestaltigen Rassen reduzieren sich üblicherweise auf quantifizierbare, mess- und wägbare Eigenschaften. Dies erscheint mir so, als würden der Kölner Dom, das Ulmer Münster und die Kathedrale von Reims nur in der Höhe des Turmes, im Gewicht der Glocken, in der Zahl der Sitzplätze und im Jahr der Grundsteinlegung differieren. Kulturdenkmäler sind in einfachen naturwissenschaftlichen Dimensionen nicht zu verstehen. So wie unbestritten jede einzelne Rinderrasse ein Kulturgut für sich darstellt, sind auch hier die Besonderheiten nicht durch in Kilogramm und Meter ausgedrückte Milch-, Mast- und Zugleistungen zu verdeutlichen. Sie werden nur unzureichend beschrieben durch die Fellfarbe und deren Musterung, durch die Hornform und deren Länge. Sie wird nur bedingt verständlich durch das Verbreitungsgebiet und nur sehr selten durch das Gründungsjahr des Zuchtverbandes.

Die unverwechselbare Originalität einer Rasse ergibt sich aus dem, was ich ihre Geschichte nenne. Geschichte ist hier weder im streng historischen noch im freien literarischen Sinne gemeint. Sie auf meine Art für ein paar ausgewählte Rinderrassen zu erzählen ist das Anliegen dieses Buches. Das soll in möglichst unterhaltsamer Form geschehen, damit nicht nur der Fachmann, sondern auch der interessierte Laie einige Rassen zu unterscheiden, aber vor allem zu schätzen und zu würdigen lernt. Alle Rassen der Erde zu beschreiben war nicht möglich. Bei der großen Zahl könnte man das Buch dann ohne Hilfestellung nicht mehr tragen. Ich habe mich auf die Rassen beschränkt, bei denen die Wahrscheinlichkeit nicht zu gering ist, dass sie dem Leser irgendwann und irgendwo über den Weg laufen. Es wurde dabei berücksichtigt, dass der Tourismus auch in weiter entfernte und abgelegenere Gefilde führt. Nicht außer Acht gelassen wurde auch die Tatsache, dass unsere zoologischen Gärten manchem exotischem Hausrind Asyl gewähren. Vorangestellt ist ein kurzer Abriss der Kulturgeschichte des Rindviehs mit den Höhen und Tiefen, die diese kostbaren Hausgenossen von der Jungsteinzeit bis zur Entdeckung der wissenschaftlichen Tierzucht durchschreiten mussten. Da ich davon ausgehen muss, dass viele Leser mit dem Rind im Allgemeinen nicht sonderlich vertraut sind, ist ein Kapitel zu seiner Geschichte angefügt, das ein wenig grundlegendes Wissen vermitteln soll. Wer viehische Lücken in seiner sonst selbstverständlich umfassenden Bildung verspürt, sollte zuerst die letzte Geschichte lesen, geradeso wie er es handhabt beim Studium des großen deutschen Wochenmagazins, das allmontäglich erscheint.

Ein gutes Bild kann oft mehr ausdrücken als tausend Worte, daher ist das Buch reichlich illustriert. Auf Fotos, wie sie in Hülle und Fülle archiviert sind, haben wir gänzlich verzichtet. Ein vorher shampooniertes, dann rasiertes und frisiertes, auf einem Grasberg erhöht postiertes und geschickt illuminiertes, eventuell sogar retuschiertes Rind steht nur selten auf der Weide. Ein paar grünliche Flecken und Krusten an der Keule, einige struppige Haare an Scheitel und Schwanz, eine nicht ganz symmetrische Hornstellung oder eine nicht ganz vorschriftsmäßige Beinhaltung sind keine Fehler. Auch wenn die Oberlinie nicht wie mit dem Lineal gezogen ist und das Euter nicht wie aufgeblasen erscheint, verlieren die Tiere nichts von ihrem Charme. Er wird meines Erachtens dadurch nur noch unterstrichen. Die Bilder sollen die Rinder, Bullen, Kühe und Kälber so zeigen, wie wir sie sehen, und nicht, wie wir sie sehen sollen. Die von Brigitte Forman und Jutta Kaiser-Atcherley mit viel Einfühlungsvermögen und präziser Beobachtungsgabe gezeichneten Bilder porträtieren die Rassen aufs Allerbeste.

Ein Mensch, ob Politiker, Wissenschaftler oder Showstar, dem es gelungen ist, Ziel der Karikaturisten zu werden, hat es geschafft. Er kann sich als Person des öffentlichen Lebens fühlen, ist nicht mehr anonym. Nicht ganz so hoch gesetzt sind die Ziele der Karikaturen von Christiane Aumund. Sie sollen in erster Linie erfreuen, die Geschichten abrunden und bereichern. Wenn sie zudem den Wiedererkennungswert der verschiedenen Rinderrassen steigern, verdienen sie das Prädikat „treffend“.

Bei so vielen Rassen kann es leicht zu Verwechselungen kommen, vor allem, wenn die intensive Lektüre des Buches ein Weilchen zurückliegt. Daher haben wir jeder Geschichte eine Symbolleiste vorangestellt, welche die Leistungsschwerpunkte der Rasse wiedergeben soll.

 

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… zeigen Milch, Butter und Käse.

 

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… bedeuten guter Braten, Hackfleisch oder schlichtes Suppenfleisch.

 

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… sind Symbol für die Gespannarbeit vor Pflug oder Wagen.

 

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… erinnert an die kämpfenden Eigenschaften in der Arena.

 

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… weisen auf robuste Haltungsmöglichkeiten hin.

 

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… steht für besondere Fähigkeiten in Natur- und Landschaftsschutz,

 

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… symbolisiert den speziellen Kapitalcharakter.

 

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… meint, dass dieser Typ außergewöhnlich schön und attraktiv ist.

 

Bei einem späteren Schnelldurchlauf sind so die Charakteristika der Rasse auf einen Blick zu erfassen.

Sollte der Leser nach der Lektüre in einer Kuh nicht mehr nur die Milch- oder Fleischlieferantin sehen, sondern ein kultiviertes Mitgeschöpf, und sollte er für einen Augenblick nachdenklich stocken, wenn er bei einer Beschimpfung sprachliche Anlehnung an die Gattung Bos sucht, dann ist das Ziel dieses Buches erreicht.

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Das Hausrind

Eine unendliche Geschichte

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Die Domestikation des Auerochsen vor etwa 10.000 Jahren – auf das eine oder andere Millennium mehr oder weniger kommt es nicht an – war ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit. Es war die Errungenschaft, die den Homo errectus zum Homo sapiens machte. Die Schöpfung des Hausrindes versetzte ihn in die Lage, das zu entwickeln, was wir heute Hochkultur nennen.

Bis dahin waren unsere Ahnen ganztägig und ganzjährig damit beschäftigt, sammelnd und jagend ihr Überleben zu sichern. Nur naturromantische Nostalgiker geraten beim Gedanken an diese graue Vorzeit ins Schwärmen. Die Jagd im Wald und auf der Heide bei Wind und Wetter lässt nur den einen Hauch von Freiheit und Abenteuer spüren, den nach der Pirsch eine heiße Dusche und ein prasselndes Kaminfeuer erwartet, an dem er sich nach einem ausgiebigen Mahl mit einer guten Zigarre in der Linken und einem Glas Roten in der Rechten bequem niederlässt, um seinen gebannt lauschenden Freunden zu berichten, warum der starke Sechserbock wieder einmal entwischt ist. Wenn den Jäger allerdings eine nasskalte Höhle mit beißend rauchendem Feuer erwartet, an dem die ganze Sippe mit knurrenden Mägen seiner harrt, ihm die Beute gierig entreißt oder ihn mit sozialer Verachtung straft, wenn er vorbeigeschossen hat, so ist von Romantik nicht viel zu spüren. Wie für das Jagen gilt Vergleichbares auch für das Sammeln. Der nervenkitzelnde Genuss eines selbst gesuchten Pilzgerichtes und die süßen Gaumenfreuden eines Preiselbeerkompotts eigener Lese sind unbestritten. Wenn die Mücken aber zu sehr zwicken, wenn das Unterholz undurchdringlich dicht wird oder wenn ein Wolkenbruch keinen Faden am Leibe trocken lässt, ist es ausgesprochen beruhigend, eine in Dosen vorgegarte oder portionsweise tiefgefrorene Alternative im nächsten Supermarkt käuflich erwerben zu können.

Unter dieser Betrachtungsweise muss die Lebensqualität nicht weiter ausgemalt werden, die sich unseren jungsteinzeitlichen Ahnen dadurch eröffnete, dass die Jagdbeute neben der Hütte graste und im geschützten Garten Obst, Gemüse und Getreide sammelfertig reifte. Man hatte schon einige Generationen Erfahrung, mit Grabstock und Hacke den Boden zu bearbeiten und Pflanzen zu kultivieren, als die ersten Domestikationsversuche mit Hund, Ziege und Schaf gestartet wurden. Richtig los ging es aber erst mit Ackerbau und Viehzucht, als Kuh und Bulle in den Hausstand überführt waren.

Die Fleischtöpfe waren fortan stets reichlich gefüllt. Wem der Steakverzehr zu einseitig wurde, der stillte seinen Hunger mit Milch oder aus Milch hergestellten Speisen wie Butter, Quark, Käse, Joghurt oder Kefir. Die Liste dieser Produkte füllt ganze Bücher- und Kühlregale. Das war aber nur ein kleiner Teil des Nutzens. Die abgenagten Knochen gaben vorzügliche Handgriffe für die anfangs gebräuchlichen Steinbeile wie für die später in Mode gekommenen Bronzeäxte. Mit Knochensplittern wurde genäht, geschnitten und geschabt. Mit den Sehnen wurden belastbare Verbindungen geknüpft. Über einen elastischen Haselnusszweig gespannt, verhalfen sie dem Flitzebogen zu seiner enormen Tragweite. Rindertalg als Vorläufer des Petroleums erhellte die finsteren Nächte der dunklen Vorzeit. Ungegerbte Häute lieferten eine wasserdichte Bedachung für Zelte und Hütten, in denen man auf, unter und zwischen Kuhfellen schlief, wenn man nicht schon eine Matratze sein eigen nannte, die selbstverständlich mit Kuhhaaren gepolstert war. Derbes Rindsleder, zu Helm und Schild verarbeitet, milderte die Wirkung, wenn ein wenig wohlmeinender Zeitgenosse mit der Keule argumentierte. Gegerbtes Juchten war der Stoff, aus dem geschmeidige, gut sitzende Hosen, Jacken und Leibchen geschneidert wurden. Diese Kleidung war damals schon sehr beliebt, obwohl die dazugehörige Harley Davidson erst einige tausend Jahre später erfunden wurde.

Von großem Nutzen waren auch die Produkte des Rindviehs, über die man allgemein nur die Nase rümpft, wie Kot und Urin. Gedörrte Kuhfladen sind ein erstklassiges Brennmaterial. Um die Wohnung zu heizen oder um die Suppe zu garen, musste man nicht ganze Wälder abholzen, tief in der Erde nach Kohle graben oder nach Erdöl bohren, sondern nur mal eben um die Hausecke gehen und die mehr oder weniger festen Ausscheidungen der gehörnten Hausgenossen einsammeln und trocknen. Als Jauche und Mist auf ein Stückchen Land ausgebracht, konnte vom gleichen Feld über viele Jahre mannigfaltig Frucht geerntet werden. Das zu beackernde Areal konnte sehr groß bemessen sein, weil Kuh und Bulle, er meist zum Ochsen verschnitten, tatkräftig bei der Bestellung mithalfen. Vor Pflug und Egge gespannt bearbeiteten sie ein Vielfaches der Fläche in der Hälfte der Zeit, die Opa, Oma, Frau und Kinder zusammen mit Hacke und Harke brauchten. Auch das Einbringen der Ernte war vereinfacht. Inzwischen war das Rad erfunden worden. Was nützt jedoch das schönste Rad, wenn es nicht von einem Rindvieh kraftvoll und ausdauernd bewegt wird oder nicht wie geschmiert läuft, weil auf der Radnabe das Fett fehlt. Dieses lieferte in der vorpetrochemischen Zeit das Rind. Resümierend ist es nicht übertrieben, wenn dem Haustier Rind der Titel Nutztier zuerkannt wird.

Im Verlaufe der Domestikation erfuhren die Rinder neben den uns nutzbringenden Leistungssteigerungen eine Reihe weiterer Veränderungen. Im Vergleich zum ursprünglichen Auerochsen sind das Schrumpfen der Körpergröße, die Vielfältigkeit der Haut- und Haarfarben, die Fülle an Mustern und Scheckungen und die Variationen der Behornung augenfällig. Von überdimensional weit ausladenden Gaffeln bis zur absoluten Hornlosigkeit ist alles vertreten. Aber auch weniger sichtbare Umwandlungen sind von der Forschung enthüllt worden. So ist gemessen an den wilden Ahnen, das Gehirn der Haustiere kleiner, ihre Sinnesorgane sind weniger geschärft und ihr Verhaltensrepertoire eingeschränkt. Reporte und Berichte dieser Befunde, insbesondere wenn sie populärwissenschaftlich aufgearbeitet sind, haben immer einen mitleidigen Unterton. Es wird der Eindruck vermittelt, Haustiere seien gar keine richtigen Tiere mehr, sondern nur noch von der Natur entfremdete, arme, ausgebeutete Kreaturen. Dieses Bedauern geht an der Wirklichkeit vorbei und zeugt von einem versperrten Blick für die Realitäten. Der riesige, furchterregend starke Auerochse mit den wachen Sinnen machte 1627 seinen letzten Atemzug und ist seitdem ausgestorben. Seine gezähmten Brüder und Schwestern dagegen haben in Begleitung des Menschen fast den ganzen Globus erobert und stellen mit über einer Milliarde Köpfen die zahlenmäßig stärkste Großsäugerart der Erdgeschichte.

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Nicht anders ist es bei den Verwandten unserer Kühe, den übrigen Angehörigen der Familie Bovidae. Die wilden Wasserbüffel, die Arnis, finden bei den stetig vordrängenden Volksmassen in Indien und Sri Lanka nur noch wenig Gelegenheit, sich stundenlang im Wasser zu aalen oder sich im Schlamm zu suhlen. Ihre häuslich gewordenen Verwandten werden dagegen nach getaner Arbeit in den Reisfeldern oder an den Melkeimern zum Bade an den Fluss geführt, wo ihnen mit der Wurzelbürste wohlig der Rücken geschrubbt wird. Sie haben inzwischen Australien, Südamerika und große Teile Afrikas besiedelt. In Bulgarien, Ungarn Rumänien und Italien führen sie ein sorgenfreies Leben dank ihrer Milch. Der aus ihr hergestellte Käse, Mozzarella, ist in aller Munde.

Die wilden Yaks müssen sich wie Reinhold Messner auf immer höhere Gipfel und in immer entlegenere Schluchten des Himalaya zurückziehen. Das Hausyak hat sich dagegen als multifunktionales Nutztier auf dem Dach der Welt für die Menschen unentbehrlich gemacht und so eine solide Lebensstellung gefunden.

Das Gayal, das domestizierte Stirnrind, wird von Burmesen, Malayen und Indern gehegt und gepflegt. In der dunklen Grundfarbe ist es ein hoch geschätztes Opfertier der Assami. Sein wilder Artgenosse, der Gaur, muss sich bei Nacht und Nebel durch den Dschungel schlagen, um sich den Wanst zu füllen. Sein Schicksal teilt das Banteng, dem es nicht viel besser ergeht auf der ewigen Flucht vor Tigern, Schlangen und zweibeinigen Jägern. Als Balirind hausständig gemacht erfreut es sich exklusiv der Zuneigung der südostasiatischen Insulaner. Die hübschen hellbraunen Rinder mit dem beigen Zwickel revanchieren sich dafür mit Fleisch und Arbeitskraft. Reich mit Blumen geschmückt sind sie die Stars der traditionellen Ochsenwagenrennen von Singaraya, die kein Balitourist versäumen darf.

Daneben gibt es einige Arten bei den Bovidae, denen nie der Sinn nach menschlicher Gesellschaft stand, die nie domestiziert wurden. Sie führen das gleiche Schattendasein wie die beschriebenen Wildformen der Haus- und Hofwiederkäuer. Das europäische Wisent grast nur noch in Zoos, Wildgehegen und Nationalparks. Sein internationales Zuchtbuch, in dem wirklich alle Wisente namentlich registriert sind, hat lediglich das Format einer Broschüre. Das amerikanische Bison zog noch vor rund 150 Jahren in einer geschätzten Herdenstärke von 60 Millionen Kopf über die Prärie und ließ sich das „bluegrass“ schmecken. Buffalo Bill und seine Spieß- und Schießgesellen mähten sie in kürzester Zeit nieder. Die übrig gebliebenen Restbestände verdingen sich als Statisten bei Hollywoodproduzenten, wie bei dem, der mit dem Wolf tanzt. Das Kouprey irrt ruhelos durch den kambodschanischen Urwald, dauernd verfolgt von Forschern, die mehr wissen wollen, als dass dieses mächtige Wildrind riesige Hörner trägt. Die kleinen Anoas führen ein scheues Inselleben auf Celebes, fern jeder Rindviehkultur. Den afrikanischen Rotbüffeln – stets von der Ausrottung bedroht – ist nur ein kleines Refugium am Kongo geblieben. Ihre großen, schwarzen Vettern, die Kaffernbüffel, können nur noch in den Schutzgebieten die Bantus und Maasai erschrecken. Nebenbei verschaffen sie den Touristen eine Gänsehaut, die ihren Hemingway aufmerksam gelesen haben. Alles in allem ist das ein Leben mit düsteren Aussichten.

Man sieht daraus, dass die Domestikation nicht nur dem Menschen genützt hat. Sie hat der Spezies Bos primigenius und einer ganzen Reihe seiner Verwandten das Überleben gesichert. Dies ist nicht nur die subjektive Auffassung eines Kuhfreundes, der als Abhängiger des „Rinderimperiums“ unbestritten befangen ist. Die These wird durch die moderne Biologie gestützt. Die Soziobiologie sieht den Sinn und Zweck des Lebens im Überlebenswillen der Gene. Diese sind unablässig bestrebt, in der nächsten Generation möglichst häufig aufzutreten. Für dieses Ziel schaffen sie sich Wesen, deren Sinnen und Trachten auf Fortpflanzung gerichtet ist. Abhängig von der Kombination der Gene können diese Wesen sehr verschieden geartet sein. Sich weitestgehend ähnelnde Wesen nennen wir einer Art zugehörend. Stark vereinfacht ist somit jede Art ein von den Genen geschaffener Apparat, der möglichst große Gewähr dafür bietet, dass die Erbanlagen in den Nachfahren weiterleben. Wie erfolgreich die Arten dabei sind, ist abhängig von der Umwelt, die sich tückischerweise fortwährend ändert. In Reaktion darauf entwickeln sich die Arten, was man Selektionsdruck nennt. Die fittesten sind die am besten angepassten Anlagenkombinationen. Dem Genom ist es dabei piepegal, von wem seine Genfrequenzen unter Druck gesetzt und in die eine oder die andere Richtung geschoben werden. Allgemein anerkannt als Selektionsfaktoren sind das Klima, die Bodenbeschaffenheit, die Vegetation und viele andere, sogenannte natürliche Parameter. Ebenso gut kann auch der Mensch und selbst sein Streben nach dem schnöden Mammon selektierend tätig sein.

Unter diesen soziobiologischen Aspekten waren jene Auerochsen die fittesten, die sich domestizieren ließen. Es war ein genialer Schachzug, sich den Menschen anzupassen, sie für sich einzuspannen, ihnen die Sorge für Futter und Unterkunft zu überlassen und sich selbst nur noch mit dem Wesentlichen zu beschäftigen: der Weitergabe und Verbreitung von Genen, der Fortpflanzung. In grober Selbstüberschätzung, als Krone der Schöpfung, halten wir die Domestikation für eine Leistung des menschlichen Geistes, wohl weil wir so großen Nutzen aus diesem Zusammenleben ziehen. Genauso richtig ist die Auffassung, dass sie das Verdienst der Urrinder ist, die sich dem Prinzip Eigennutz folgend in den Hausstand begaben. Indiz für die Richtigkeit dieser etwas ungewöhnlichen Betrachtungsweise sind die unzähligen fehlgeschlagenen Versuche, andere Huftiere zu Haustieren zu machen. Sie waren bei Zebra, Oryx, Mähnenspringer, Nilgau- oder Hirschziegenantilope beispielsweise nicht von Erfolg gekrönt. Diese Spezies überleben heute unter dem Schutz des Washingtoner Artenschutzabkommens. Während bei Naturromantikern das Gefühl vorherrscht, diese Tiere wären zu clever gewesen um sich domestizieren zu lassen, ist es wahrscheinlich sachlich zutreffender, dass diese dazu nicht clever genug waren, selbstverständlich nur soziobiologisch gesehen.

Solche biologistischen Überlegungen waren für die Jäger und Frühbauern des Paläolithikums noch nicht von Interesse, als sie Höhlenwände von Lasceaux und Chalet mit ihren Frieszeichnungen schmückten. Sie ahnten aber wohl schon die Bedeutung des Auerochsen für die Menschheit. Viele ihrer Urdarstellungen zeigen erste Anzeichen von Domestikation. Im Gegensatz zu den Pferden zeigen die Rinderbilder eine große Variabilität in Größe, Färbung und Hornform.

Genauer wussten es schon die Völker zwischen Euphrat und Tigris, an der vermeintlichen Wiege der Haustiere. Assyrern, Babyloniern, Phöniziern und Sumerern war klar, was sie dem Hornvieh verdankten auf ihrem Weg zu Hochkulturen. Ihnen waren Stiere und Kühe heilig, und entsprechend respektvoll wurden sie verehrt. Archäologen, die in den letzten hundert Jahren das Zweistromland mehrfach umgruben und durchsiebten, förderten eine Reihe von Zeugnissen zutage, die den Kuhkult und die Stierriten dokumentieren. Sumerische Standardtafeln aus Lapislazuli und Perlmutt, Keramikbecher, getöpfert in Susa, und Skulpturen und Reliefs, gefertigt in der assyrschen Stadt Ur (!), zeigen bevorzugt Kühe, Bullen, Ochsen und Kälber.

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Auch die Israeliten versuchten sich seinerzeit auf ihrem vierzigjährigen Marsch durch die Wüste in der Verehrung eines Rindviehs. Davon war ihr Führer Moses allerdings nicht sonderlich entzückt. Wie uns aus dem alten Testament geläufig, beendete er rasch und barsch den Tanz um das goldene Kalb. An sich hätte es den Moses nicht sonderlich überraschen sollen, dass sich seine Weggefährten nach so vielen Jahren im Land der Pharaonen zu den Kühen hingezogen fühlten. Im klassischen Ägypten besaß die Tierzucht einen hohen Stellenwert. Die Fresken im Tal der Könige vermittelten ihren Entdeckern, bevor sie der Fluch des Tutanchamun ereilte, einen umfassenden Überblick über das alltägliche Werken und Wirken der Bauern während der verschiedenen Dynastien. Ihnen ist zu entnehmen, dass damals rote, weiße, schwarze und verschieden gescheckte Rinderrassen gezüchtet wurden. Das Gen für Hornlosigkeit sorgte schon für sichere Arbeitsplätze. Selbst bucklige Zebus aus dem fernen Indien grasten am Nil. Die Stallhaltung, die Futtervorgabe und die Melktechnik waren ähnlich wie heute. Ochsen trugen Sänften, Sättel oder Stirn- und Nackenjoch. Sie zogen modern anmutende Wagen und Pflüge, sie halfen beim Dreschen und waren die Motoren der Schöpfwerke, die das kostbare Nilwasser auf höher gelegene Felder beförderten. Die Ägypter waren sich der immensen Bedeutung ihrer vierbeinigen Mitgeschöpfe durchaus bewusst. Der Apiskult und die kuhköpfige Göttin Hathor sind fester Bestandteil der Kulturgeschichte.

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Die antiken Griechen, zeitlich etwas später, liebten nicht nur die Demokratie, die Philosophie und die Mathematik, sie waren auch große Kuhfreunde. Für einen guten Stier riskierten sie schon mal einen handfesten Streit mit den Göttern, wie König Minos auf Kreta, der einen als Opfergabe vorgesehenen Stier des Poseidon lieber als Deckbullen einsetzte. Auch seine Frau war von dem göttlichen Beschäler begeistert. In einem Spezialdeckstand, konstruiert von Flugpionier Daedalus, ließ sie sich von dem Farren begatten und gebar den Minotaurus, dessen labyrinthisches Schicksal aus klassischen Opern und Dramen bekannt ist. Diese Liaison war kein Einzelfall. Bezeichnenderweise und symbolschwanger verführte Göttervater Zeus die jugendliche Europa, die Mutter des Minos, in der Gestalt eines Stieres. Den olympischen Rindviechern galt es gebührenden Respekt zu zollen, wollte man nicht vom Blitz getroffen werden. Odysseus machte diese schmerzliche Erfahrung, als sich seine Gefährten am Vieh des Sonnengottes Helios vergriffen. Im klassischen Hellas gab es auch schon eine Massentierhaltung mit all den uns bekannten Problemen. Der bekannteste Intensivhalter war Augias, der König von Elis. Er trug den passenden Beinamen „der Herdenreiche“. Die katastrophalen hygienischen Zustände in seinen Ställen sind noch heute sprichwörtlich. Um sie auszumisten, brauchte man schon einen Supermann wie Herkules. Er löste die Aufgabe recht einfallsreich. Kurzentschlossen leitete er einen Fluss durch die Stallungen und muss damit als Erfinder der Schwemmentmistung angesehen werden. Wie die Bevölkerung damals auf dieses Gülleproblem reagierte, ist von den Chronisten leider nicht überliefert.

Während bei den Griechen die Nutztierhaltung fast religiösen Charakter hatte, wurde sie im alten Rom dann recht rationell und praxisbezogen betrieben. Die ersten landwirtschaftlichen Lehrbücher erschienen. In den Fachbüchern der Agrarschriftsteller Tacitus, Plinius oder Columella nimmt die Tierzucht einen breiten Raum ein. Das Hausrind erreichte eine vorher und auch nachher lange Zeit nicht gekannte Qualität. Vorausgesetzt die klassischen Bildhauer waren ehrlich und haben nach dem Leben und nicht idealisierend modelliert, wären die römischen Viecher auch jetzt noch, 2200 Jahre später, auf jeder großen Zuchtschau konkurrenzfähig. Im Tross der cäsarischen Legionen zogen sie um die Zeitenwende befruchtend durch ganz Europa. Ihre wertvollen Gene sind neben der Schrift und dem Rechtssystem bis heute existentes Erbe des Imperium Romanum.

Mit dem Zerfall des römischen Reiches in Ost und West verkam auch die Zuchtkultur. Weiter wurden Rinder gehalten, und diese wurden auch nach Kräften genutzt und ausgenutzt. Von zielgerichteter Zucht konnte aber nicht mehr die Rede sein. Gedeckt wurde alles, was nur eine Gebärmutter und so etwas Ähnliches wie ein Euter hatte. Als Vatertier nahm man das, was gerade des Weges kam. Es kamen damals viele und sehr verschiedenartige Typen daher, denn es war die Zeit der großen Völkerwanderungen. Jede Geburt bei einer Kuh war wie das Öffnen einer Wundertüte. Man ließ sich überraschen. Die Rinderherden waren eine bunte Ansammlung von Individuen: kleine, große, dicke, dünne, schwarze, rote, einfarbig und gescheckt, mit langen und mit krummen Hörnern – alles, was der Genpool nur hergab. Von einheitlichen Typen und Schlägen konnte nur selten die Rede sein, von Rassen schon gar nicht. Den Nutzen auf den Punkt gebracht machten die Rinder des Mittelalters hauptsächlich Mist. Sie gaben ein bisschen Milch, lieferten nach jahrelangem Wiederkäuen einen eher dürftigen Schlachtkörper und halfen bei der Feldarbeit so gut, wie es einem nur knapp einem Meter großen Öchslein möglich ist. Bedeutung für den mittelalterlichen Landmann in Europa hatten sie über ihre Fladen. Kuhdung war knapp und unentbehrlich wertvoll als Dünger für den Ackerbau. Bei dieser Selektionsrichtung „Schei…“ kann jedwede Tierzucht keine Blüte erreichen, sondern nur eine Brache. Entsprechend tief gesunken war die Wertschätzung für das Tier, dem die Menschheit bis dahin so viel verdankte. Dies blieb so bis in das 17. Jahrhundert hinein.