Titelseite

Kapitel 1

Lilli lief bis ans Ende der Hafenmauer und schaute über den glitzernden See. Die bunten Wimpel des weißen Fährschiffes knatterten im Sommerwind; weit draußen schrie eine Möwe und die Luft roch nach Abenteuer.

Auf dem Hafenparkplatz hievten Bob, Very und Enya ihr Gepäck aus dem Auto. Lillis Vater schleppte Rucksäcke und Schlafsackbeutel an den Kai. Lächelnd trat er zu Lilli, umarmte sie, hob sie hoch und stellte sie auf einen Poller.

Jetzt hatte Lilli doch einen Kloß im Hals. Sie hasste Abschiede, aber zugleich verspürte sie eine erwartungsvolle Spannung. Kleine Wellen klatschten an den Schiffsrumpf der Fähre. Lillis Herz klopfte, vor ihr lagen sieben aufregende Tage.

»Das da drüben ist sie.« Ihr Vater zeigte über den See. »Die Katharinenbucht!«

Das auf dem Wasser gleißende Sonnenlicht blendete, aber wenn Lilli die Augen zusammenkniff, konnte sie in weiter Ferne die sanft geschwungene Uferlinie der Bucht und dahinter einen Zwiebelturm zwischen den Baumwipfeln erkennen.

»Wo die anderen nur bleiben?« Besorgt blickte Very über den Parkplatz.

Lilli sprang vom Poller. »Auf der Autobahn waren sie noch direkt hinter uns.«

Bob kontrollierte zum dritten Mal, ob ihre Anmeldung für die Jugendfreizeit auch ganz sicher noch im Seitenfach ihrer Reisetasche steckte. Dabei fiel ihr ein Flyer auf den Boden. Lilli hob ihn auf. Unter dem Schriftzug Krähencamp war ein Foto, das einen Jungen und ein Mädchen in einem Kanu zeigte. Beide lachten fröhlich. Eine Sekunde lang stellte Lilli sich vor, sie und Ole säßen gemeinsam in dem Kanu. Aber das Klingeln eines Handys, das jetzt aus der Mitte des Gepäckhaufens ertönte, riss sie aus ihren Gedanken.

»Das ist meins!« Enya durchwühlte hektisch ihre Häkeltasche.

»Da hinten kommt ein Taxi!« Verwirrt strich Very sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr.

»Vielleicht hatten Frau Roland und die Jungs eine Panne«, überlegte Bob. »Und sie mussten sich ein Taxi rufen!«

Aber der Taxifahrer öffnete die Beifahrertür weder Henriette Roland noch einem der Jungs. Ein blondes Mädchen in einem geblümten Sommerkleid stieg aus und sah sich gelangweilt um. Ein Windstoß blähte kurz das Seidentuch, das sie sich um den Hals schlang. Der Fahrer schleppte dem Mädchen einen rosafarbenen Trolley sowie ein rosafarbenes Köfferchen und eine ebenfalls dazu passende, rosafarbene Bügeltasche hinterher.

Bob stieß Very in die Seite. »Die hat den gleichen Koffer wie du!«

»Nur leider gab es, als ich meinen gekauft hab, keine passenden Taschen mehr dazu.« Argwöhnisch betrachtete Very das fremde Mädchen, das noch ein paar Worte mit dem Taxifahrer wechselte, bevor der wieder in sein Fahrzeug stieg.

Enya klappte ihr Handy zu. »Das war Mama. Ich hab meine Zahnbürste vergessen!«

»Vielleicht gibt es ja in dem Laden da drüben welche zu kaufen.« Lillis Vater setzte sich in Bewegung. »Ihr bleibt hier alle zusammen und ich frag mal nach!«

Ein Sonnenreflex blinkte in Lillis Augenwinkel. Sie wandte den Kopf. Als hätte das Mädchen Lillis Blick gespürt, verbarg es das goldene Medaillon, das es um den Hals trug, unter seinem Seidentuch. Etwas herablassend musterte das Mädchen Lilli und ihre Freundinnen und zeigte nacheinander auf die Hühnerfedern, die Lilli, Bob, Very und Enya an Lederbändern um den Hals trugen. »Ihr seid wohl eine Bande oder so was?!«

»Wir sind die Wilden Küken!« Es erfüllte Lilli mit tiefem Stolz, die Anführerin ihrer Mädchenbande zu sein. »Fährst du auch ins Krähencamp?« Sie wies mit dem Kopf kurz Richtung Fährschiff.

»Soso, die Wilden Küken«, wiederholte das Mädchen und ahmte dabei Lillis Tonfall nach. »Und du bist wohl das Oberküken!« Über ihren eigenen Witz lachend kramte sie eine Sonnenbrille aus ihrer Bügeltasche. »Ich heiße Jessica, aber ihr könnt mich Jessy nennen.«

In diesem Moment hupte es mehrmals. Henriette Roland, die Mutter von Ole und Little, hatte den Motor noch nicht abgestellt, da sprangen ihre beiden Söhne und deren bester Freund Mitch auch schon aus dem Auto. Alle drei schwenkten einen Abenteurerhut.

»Mama wollte unbedingt noch tanken!« Ole winkte zu Lilli herüber. »Mann, ich dachte schon, wir versäumen die Fähre!« Er setzte sich seinen neuen Hut auf den Kopf und grinste.

Lilli winkte ihm erleichtert zurück. Jetzt konnte ihre Fahrt ins Abenteuer beginnen!

Little reichte seinem Bruder und Mitch ihre Gepäckstücke aus dem Kofferraum. »Der durchschnittliche Benzinverbrauch unserer Anfahrt beläuft sich auf sechs Komma achtundachtzig Liter bezogen auf hundert Kilometer. Das sind exakt eins Komma zweiundsiebzig Liter pro Passagier. Mama und das Gepäck mitgerechnet.« Er verdrehte die Augen in Richtung seiner Mutter. »Durch eine etwas niedertourigere Fahrweise hätten wir den CO2-Ausstoß um mehr als zehn Prozent senken können.«

Little hieß eigentlich Linus. Aber alle nannten ihn nur Little, manche auch Professor Little. In der Schule hielten ihn viele für einen Streber. Lilli fand das aber ungerecht. Little war nämlich kein Streber, er konnte nur einfach nichts vergessen, was er jemals gelesen, im Lexikon nachgeschlagen oder im Internet gefunden hatte. Er und Ole waren zweieiige Zwillingsbrüder. Die beiden sahen sich zwar ähnlich, waren aber ganz unterschiedliche Typen. Zum Glück, dachte Lilli, denn ihr war Ole am liebsten so, wie er war. Zumindest, wenn er so verwegen zu ihr herüberlachte wie jetzt.

Ole warf sein Gepäck über das Geländer, das den Parkplatz vom Fährhafen trennte, und flankte dann selbst hinterher.

Mitch überholte ihn und lief bis vor an die Kette, mit der die Rampe zur Fähre abgesperrt war. Mit der einen Hand lupfte er seinen Hut und beschattete damit seine Augen, mit der anderen zeigte er auf den Schiffsnamen am Bug der Fähre. »Wow! Die Katharina! Das nenn ich mal ein Schiff!« Er grinste zu den Wilden Küken. »Nicht so eine olle Jolle wie eure Mystery

Die Mystery war das Bandenquartier der Wilden Küken. In liebevoller Kleinarbeit hatten die Mädchen ein altes Schiff restauriert und zu ihrem Bandenquartier umfunktioniert. Anders als das Fährschiff befuhr die kleine Mystery keinen großen See, sondern lag daheim auf einem winzigen Weiher vor Anker. Lilli seufzte. Die Mystery mochte kein so imposantes Schiff sein, wie die Katharina, aber sie war das beste Bandenquartier, das man sich nur wünschen konnte. Und in der zum Hühnerstall umfunktionierten Kajüte an Deck saßen jetzt die Hühner der Wilden Küken und hatten sicher schon Sehnsucht nach ihnen.

Auf der Brücke der Katharina ging eine Tür auf und ein Mann in Uniform zündete sich eine Zigarette an.

Mitch zeigte auf das um den Poller geschlungene Tau des Fährschiffs. »Leinen los, Käpt’n! Volle Fahrt voraus! Ab ins Abenteuer!«

Mit der rauchenden Zigarette in der Hand zeigte der Kapitän auf das Schild am Anleger. Abfahrt zu jeder vollen Stunde.

Mitch salutierte. »Aye, aye, Käpt’n!«

Kopfschüttelnd wanderte der Kapitän auf die andere Seite des Schiffes.

Lange kann es nicht mehr dauern bis zur vollen Stunde, dachte Lilli und drehte sich herum. »Ole, weißt du, wie …« Wie spät es ist, wollte Lilli fragen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Ole machte mit einer rosaroten Kamera in der Hand gerade einen Schritt rückwärts. Wie eine Schauspielerin posierte Jessy vor dem weißen Fährschiff im Hintergrund. Ole gab ihr mit der Hand Zeichen. »Etwas weiter nach links, dann krieg ich auch noch was vom See drauf!« Jessy tänzelte ein paar Schritte zur Seite. Ole drückte auf den Auslöser, die Kamera piepste und Jessy kicherte. »Lass mal sehen!« Neugierig beugte sie sich zusammen mit Ole über das Display der Kamera.

»Sonst noch eine Prinzessin, die geknipst werden will?« Ole schwenkte mit der Kamera auf die Wilden Küken.

Aber da kehrte ihm Lilli schon den Rücken zu und winkte ihrem Vater, der gerade vom Hafenladen kam. Er gab Enya eine Zahnbürste und eilte weiter zu Henriette Roland, die gerade den Saisonfahrplan der Fähre studierte. »Henriette, wir hatten uns schon Sorgen gemacht!«

Enya verstaute die Zahnbürste in ihrer Häkeltasche. »Sogar in meiner Lieblingsfarbe!«

Very legte den Kopf schräg. »Ich dachte, du hast keine Lieblingsfarbe!«

»Doch!« Enya grinste. »Bunt!«

Weil Lilli mitbekommen wollte, was Ole und Jessy hinter ihr redeten, hörte sie dem Gespräch ihrer Freundinnen nur mit halbem Ohr zu. Ole sagte gerade etwas, das Lilli nicht verstand, und trug Jessys Gepäck bis vor zur Schiffsrampe.

»Ich hab ein neues Tagebuch angefangen!« Bob kramte das Buch aus ihrem Rucksack. Unter das verschnörkelt geschriebene Wort Diario waren vier Mädchen und ein Hund gemalt.

»Das sind ja wir, zusammen mit Sneaker!«, sagte Very.

»Du solltest Malerin werden!«, murmelte Enya bewundernd.

Was Bob erwiderte, kriegte Lilli wieder nicht richtig mit, weil sie sich auf die Jungs konzentrierte. Die drei zeigten Jessy voller Stolz ihre ledernen Armbänder. Jessy hielt gerade Oles Handgelenk fest und betrachtete eingehend den ins Leder geprägten Olm.

Genau wie Lilli, Bob, Very und Enya waren auch Mitch, Little und Ole eine Bande. Und zwar die Grottenolme. So hießen sie erstens, weil das Wort Olm sich aus den drei Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen zusammensetzte, und zweitens nach ihrem Bandenquartier, der sogenannten Grottenolmgrotte.

Endlich ließ Jessy Oles Handgelenk los und lachte über Mitch, der gerade zu den Wilden Küken herüberdeutete und mit den Ellbogen ein Flügelschlagen nachahmte.

Lilli zeigte ihm einen Vogel und konzentrierte sich wieder auf Bobs Tagebuch.

»Das ist Bussi und das hier ist Birdie.« Bob zeigte nacheinander auf die Hühner, die sie auf die erste Seite gemalt hatte. »Das mit den weißen Federn ist Lillis Flocke!«

»Und das schwarze ist meine Ines!«, ergänzte Enya.

»Hoffentlich geht es unseren Hühnern gut! So ganz allein daheim. Ohne uns!« Bob klappte ihr Diario wieder zu. »Was da drinsteht, ist privat, aber was ich zuletzt reingeschrieben hab, dürft ihr wissen.« Bob schloss kurz die Augen und murmelte es auswendig: »Heute fahre ich zur Katharinenbucht. Zusammen mit den besten Freundinnen auf der ganzen Welt!«

Gleichzeitig nahmen sich die besten Freundinnen auf der ganzen Welt an den Händen und wenn jetzt nicht die Schiffsglocke geläutet hätte, wäre daraus eine richtig große Wilde-Küken-Umarmung geworden.

Der Kapitän löste die Kette vor der Rampe und schon drängten die drei Jungs hinter Jessy her an Bord.

Henriette winkte ihren Söhnen und rief ihnen noch ein paar Ermahnungen hinterher.

Lillis Vater wuschelte seiner Tochter durch die mahagonifarbenen Locken. »Keine Sorge. Luisa und ich gehen ganz oft Gassi mit Sneaker und sehen jeden Tag nach euren Hühnern.« Seine Stimme klang so vertraut, dass Lilli jetzt schon Heimweh bekam.

»Flocke ist ganz verrückt nach Weintrauben.« Lilli wischte sich schnell über die Augen.

»Sonnenblumenkerne!« Bob blinzelte. »Bussi liebt Sonnenblumenkerne!«

»Ines mag gern frische Petersilie!«, fügte Enya hinzu.

»Und meine Birdie steht auf Katzenfutter, auch wenn ich das voll eklig finde!« Very verzog das Gesicht.

Alle nahmen ihr Gepäck und verabschiedeten sich. Schnell umarmte Lilli ihren Vater noch einmal und folgte dann den anderen an Bord.

Der Kapitän holte die Rampe ein, rief ein paar Befehle in den Maschinenraum hinunter und begab sich dann auf seinen Platz hinter dem Steuerrad.

Die Grottenolme und die Wilden Küken rannten zum Heck und winkten.

Bob schwenkte sogar ihr Taschentuch und rief immer wieder: »Arrivederci!« Ihre Mutter war Italienerin und auch wenn Bob nicht richtig Italienisch konnte, so rutschten ihr doch immer wieder mal ein paar Worte dazwischen.

Als könnte ihm das lau wehende Lüftchen seinen Abenteurerhut vom Kopf blasen, zog Little die Kordel zu bis unters Kinn.

Ein Zittern durchlief die Fähre, der Motor brummte und schon wühlte die Schiffsschraube das Wasser auf. Eine schwarze Abgaswolke löste sich auf, es roch nach Diesel und langsam drehte die Katharina ihren Bug seewärts.

Immer kleiner wurden Henriette Roland und Lillis Vater, die an der Hafenmauer standen und zurückwinkten. Und schon bald waren sie nur noch zwei winzige Punkte auf der zur Postkartengröße geschrumpften Hafenstadt.

Enya atmete tief durch und blinzelte über den See. »Am meisten freu ich mich aufs Schwimmen!«

Eine grauweiße Möwe segelte so knapp über dem Wasser, dass ihre Flügelspitzen fast die Wellen berührten.

Die Wilden Küken setzten sich zu Mitch und Little an einen der Tische auf dem Vordeck. Very cremte sich ihr Gesicht ein. Little studierte den Notfallplan der Fähre, während Mitch Very sein Multifunktionstaschenmesser erklärte. »Die große Klinge ist gegen Wölfe und Riesenschlangen.«

»Gibt’s da etwa Schlangen?«, entsetzt riss Bob ihre Augen auf.

Enya schüttelte den Kopf. »Allenfalls Ringelnattern!« Sie warf Mitch einen finsteren Blick zu. »Und die stehen unter Naturschutz!«

»Und der hier …« Mitch klappte den Dosenöffner auf und hielt ihn Very vors Gesicht. »Der sichert unser Überleben in der Wildnis.«

»Klar«, Very grinste. »Wir müssen vorher nur einen Baum finden, auf dem Konservendosen wachsen.«

Mitch klappte sein Taschenmesser wieder zu und schob es zurück in die Hosentasche. »Und der schützt dich vor Sturm und Regen!« Er setzte Very seinen Abenteurerhut auf.

Very hielt ihm ihre Sonnencreme hin. »Und die schützt vor Sonnenbrand!« Lachend verpasste sie ihm mit der Sonnencreme eine Kriegsbemalung, sodass Mitch aussah wie ein Indianer auf Urlaub.

Lilli fragte sich gerade, wo Ole abgeblieben war, da ertönte auch schon seine Stimme. »Hey, Lilli, komm!« Ole stand neben Jessy ganz vorne am Bug des Schiffes.

Sie sieht wirklich aus wie eine Prinzessin, dachte Lilli. Immer wenn Jessy sich umwandte, blies ihr der Wind die leuchtend blonden Haare ins Gesicht und ihr Seidenschal flatterte.

Kapitel 2

»Lilli!«, drängte Ole ungeduldig. »Jetzt komm schon. Jessy sagt, gleich sieht man das Krähencamp!«

Erst als Mitch, Little und alle ihre Freundinnen nach vorne liefen, folgte Lilli ihnen und stützte sich zwischen Bob und Enya auf die Reling.

Zuerst konnte Lilli die Zwiebelspitze der Klosterkirche ausmachen, die aus den Baumwipfeln ragte, dann aber auch die Anlegestelle der Katharinenbucht, den teils kiesigen Uferstreifen und eine kleine vorgelagerte Insel. Und mit etwas Mühe konnte sie sogar das Schild an der Anlegestelle lesen. Uferpark Katharinenbucht.

Little räusperte sich, wie er es immer tat, wenn er zu einem seiner sachkundigen Vorträge ansetzte. »Das Fremdenverkehrsamt schreibt, dass man das Katharinenkloster am bequemsten mit der Fähre erreichen kann. Im gesamten Gebiet des Uferparks sind private Kraftfahrzeuge verboten!«

»Ich hoffe, ihr habt genug Antimückenspray dabei!« Jessy zog ihren rosafarbenen Trolley aus dem Gepäckberg. »Ich jedenfalls hab keine Lust, mich von den Biestern stechen zu lassen. Die Mücken der Katharinenbucht sind legendär!«

»He, das ist mein Koffer!« Very versuchte, Jessy den Trolley aus der Hand zu nehmen.

»Du hast vielleicht den gleichen«, zischte Jessy, »aber das hier ist meiner!«

Very zog den zweiten rosafarbenen Trolley unter dem Gepäck heraus. »Das ist deiner! Und jetzt gib her!«

Sie zerrte an dem Koffer, den Jessy jetzt unvermittelt losließ.

Very torkelte zurück und stieß dabei Lillis Rucksack von der Tischkante. Er knallte auf die Ecke der Sitzbank und fiel zu Boden. Durch den Aufprall zerbrach die Plastikschnalle, die die Deckelklappe verschlossen hielt, und als Lilli den Rucksack am Schulterriemen aufhob, ergoss sich sein gesamter Inhalt auf das Vordeck. Ihre Taschenlampe, ihre Bücher, die Schwimmbrille und die Ersatzsandalen und jede Menge saure Drops. In Zeitlupe sah Lilli, wie ihre Brotzeitdose über den Schiffsboden schlitterte, wie die Trinkflasche Richtung Bug rollte, und dann durchfuhr sie ein zweiter Schreck. In Gedanken sah sie klar und deutlich vor sich, wie sie heute Morgen daheim noch schnell etwas aus dem Wäschetrockner geholt und in den sowieso schon viel zu vollen Rucksack gestopft hatte. Lillis Augen suchten noch danach, da bückte Mitch sich bereits.

»Oh-oh! Was haben wir denn da-ha!« Mitch schwang Lillis uralte, allerliebste Lieblingsunterhose mit dem ausgewaschenen Herzchenmuster wie ein Lasso über dem Kopf.

Jessy hatte den Kofferstreit mit Very völlig vergessen und prustete in ihre vor den Mund gehaltene Hand. »Das nenn ich mal ein schickes Teil!«

»Gib her!« Voller Verzweiflung stürzte Lilli sich auf Mitch.

Der wich ihr aber geschickt aus und warf seine herzchengemusterte Beute zu Little. »Achtung, unbekanntes Flugobjekt im Anflug!«

Little verzog nur entsetzt das Gesicht und duckte sich.

Lillis uralte, allerliebste Lieblingsunterhose segelte über Little hinweg und blieb für den Bruchteil einer Sekunde am Geländer der Reling hängen. Alle standen reglos und starrten auf das Geländer, als ein gnädiger Windstoß den Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit von Bord wehte.

Fast gleichzeitig knallte über ihnen eine Tür. Oben auf der Brücke erschien der Kapitän neben der Steuerkabine. »Seid ihr verrückt geworden?« Zwischen seinen Fingern qualmte eine Zigarette. Empört wies er erst über Lillis auf dem Vordeck verstreute Sachen und dann zur Reling. »Was werft ihr denn da über Bord?«

Lilli schloss die Augen. Gleich würde Mitch irgendwas sagen wie Lillis Reizwäsche, und Jessy würde noch lauter kichern als vorhin.

Aber wer die Stimme erhob, war Ole. »Entschuldigung, Herr Kapitän. Uns ist aus Versehen ein Kleidungsstück über Bord gegangen. Ist aber nicht schlimm, also wir müssen nicht umdrehen und das bergen oder so!«

Lilli öffnete die Augen. Ole hatte uns gesagt und ein Kleidungsstück und nicht Lilli und Lillis doofe Unterhose oder etwas Ähnliches. Und jetzt begann er sogar noch, ihre Sachen aufzusammeln. Am liebsten hätte Lilli Ole auf der Stelle umarmt, aber sie half ihm stattdessen nur dabei, alles wieder in den Rucksack zurückzustopfen. Ole hielt den Rucksack kurz hoch ins Blickfeld des Kapitäns. »Sehen Sie, der Verschluss ist kaputt. Deshalb.«

Der Kapitän knurrte etwas, nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und warf die Kippe in hohem Bogen von der Brücke in den See. Dann fiel die Tür der Steuerkabine hinter ihm zu.

Ole reichte Lilli ihre Taschenlampe, die unter eine der Sitzbänke gerollt war.

Lilli steckte sie zu all ihrem anderen Kram und überlegte gerade, ob sich in ihrem restlichen Gepäck irgendein Gürtel oder etwas Ähnliches befand, womit sie den Rucksack behelfsmäßig hätte zubinden können.

»Warte! Ich hab eine Idee!« Ole nahm seine Reisetasche vom Tisch und wühlte im Seitenfach. »Hier. Ich brauch das nicht.« Er reichte Lilli ein kleines silbernes Kofferschloss, in dem ein winziges Schlüsselchen steckte. Ole legte ihren Rucksack auf einen der freien Tische und wandte sich an Mitch. »Gib mir mal dein Messer, das hat doch so eine kleine Zange?!«

Mit stolzgeschwellter Brust reichte Mitch ihm sein Multifunktionstaschenmesser. »Was tätet ihr nur ohne mich!«

Ole klappte das Werkzeug auf und entfernte damit die zerbrochene Plastikschnalle. »Und jetzt das Schloss!«

Ole hielt den Rucksack zu und Lilli schlang den Metallbügel durch die Laschen, ließ das Schloss einrasten und zog den Schlüssel ab.

»Nicht verlieren!« Ole nahm Lillis Hand und schloss ihre Finger um den Schlüssel. Die breite Krempe seines Abenteurerhutes beschattete sein Gesicht, aber Oles Augen schimmerten so dunkelblau, dass Lilli ihn jetzt wirklich umarmt hätte, wenn nicht vom Bug her Jessys Ruf erschallt wäre. »Hey, Leute, wir sind gleich da!«

Alle eilten zum Bug und hielten Ausschau. Deutlich war jetzt das von Laubwald umgebene Katharinenkloster zu sehen. Lilli konnte sogar Zeiger und Ziffern der Turmuhr erkennen.

»Das ist der Badestrand!« Jessy zeigte auf eine zum See hin mit orangefarbenen Bojen abgegrenzte Bucht. Hinter dem schmalen Kiesstreifen erstreckte sich eine breite Liegewiese mit einer hölzernen Sonnenterrasse. Wie die Haare geneigter Häupter hingen die Äste einiger Trauerweiden in den See. Dazwischen ragte ein Pfosten aus dem flachen Wasser, an dem ein Ruderboot festgemacht war. Auf der kleinen vorgelagerten Insel erhob sich krächzend eine Schar Krähen.

Lilli lief zu ihrem Gepäck zurück. Das silberne Schloss baumelte an ihrem Rucksack wie ein Schmuckstück. Den Schlüssel hielt sie noch immer fest in der Hand. Erst steckte sie ihn in die Hosentasche, überlegte es sich dann aber anders und nahm ihren Hühnerfederanhänger ab. Den anderen den Rücken zukehrend, fädelte sie den Schlüssel schnell auf das Lederband, legte es sich wieder um den Hals und verbarg es unter dem Kragen ihres T-Shirts.

Der Kapitän drehte bei und die Katharina legte an. Die Maschine stoppte und aus dem Maschinenraum kam ein junger Mann. Er sprang auf den Steg und schlang die beiden armdicken Schiffstaue um die Poller der Anlegestelle. Dann klappte er zusammen mit dem Kapitän die Rampe aus und die Wilden Küken, die Grottenolme und Jessy gingen von Bord. Ole zog Jessys Trolley hinter sich her über die Planken des Stegs, Mitch trug ihr rosafarbenes Köfferchen auf der Schulter und Little hatte ihre rosafarbene Bügeltasche über dem Arm hängen. Da die drei Kavaliere ja auch noch ihr eigenes Gepäck zu schleppen hatten, wankten sie ziemlich schwer beladen hinter Jessy her, die leichtfüßig auf den kleinen Kiosk am Ufer zusteuerte.

Neben dem Kiosk saß ein etwas älterer Tourist im Schatten eines Sonnensegels an einem der Picknicktische und schrieb noch schnell eine Postkarte fertig. Eilig klebte er eine Briefmarke darauf und steckte sie in den Briefkasten an der Seitenwand des kleinen Fährhäuschens. Dann rief er dem Kapitän der Fähre ein paar Sätze in einer fremden Sprache zu. Der Kapitän gab dem Urlauber in Zeichensprache zu verstehen, dass er sich nicht zu beeilen bräuchte. Trotzdem hetzte der Mann im Laufschritt über den Steg und erklomm die Fähre.

Eine Krähe landete krächzend auf dem Picknicktisch. Geschickt fischte sie sich einen Wurstzipfel aus dem Pappschälchen, das der Tourist dort zurückgelassen hatte. Der Vogel krächzte und flog mit seiner Beute davon.

Jessy, die ja am wenigsten zu tragen hatte, führte die Wilden Küken und die Grottenolme bis zu einer Weggabelung am Waldrand und setzte sich auf die Sitzbank neben einem dort aufgestellten Schaukasten. Uferpark Katharinenbucht war in den rustikalen Holzrahmen des Schaukastens geschnitzt. Hinter der Glasscheibe befand sich eine Landkarte. Rings um die Karte waren Ansichten vom Katharinenkloster angebracht.

Lilli hockte sich auf ihr Schlafsackbündel. »Eigentlich sollten wir doch abgeholt werden.«

»Sicher kommt bald jemand.« Enya atmete tief durch. »Die Luft hier – riecht ihr das, wie würzig?«

Bob, die gerade ein paar rosafarbene Blüten von einer der wuchernden Stauden gepflückt hatte, rümpfte die Nase. »Puh, die stinken!« Angewidert warf sie die Stängel weg.

Ein paar Meter entfernt stand ein rostiges dreirädriges Transportfahrrad vor dem Dickicht. Dahinter hörte man das Rauschen des Sees und ein eigenartiges Rascheln. Lilli warf einen Blick zu ihren Freundinnen, schob ein paar Zweige auseinander und sah hinter dem Gebüsch einen Mann mit aufgekrempelten Hosenbeinen im seichten Wasser stehen. Er hielt eine Schnur in der Hand, deren eines Ende hinter ihm an einen Birkenschössling geknotet war und deren anderes Ende vor ihm im See verschwand. Obwohl es mitten im Sommer war, trug er eine gestrickte Pudelmütze auf dem Kopf. In seinem Nacken kräuselten sich grau melierte Haare. Hinter Lilli drängten sich jetzt auch Bob, Very und Enya. Der Mann hatte rote Backen, büschelweise standen Bartstoppeln auf seinem schlecht rasierten Kinn. Und wie ein Kind, das sich ganz besonders konzentrieren muss, berührte seine Zungenspitze die Oberlippe, während er die tropfnasse Leine einholte. Erst dachte Lilli, der seltsame Kerl würde einen Fisch aus dem See ziehen, aber am Ende der Leine tauchte eine Flasche mit Bügelverschluss aus dem Wasser auf. Der Mann trocknete die Flasche notdürftig an seiner Latzhose ab und ließ den Verschluss aufschnappen. Den Kopf in den Nacken gelegt trank er in langen genüsslichen Zügen. Mit der Flasche am Mund drehte er sich etwas herum, entdeckte Lilli und verschluckte sich gleich vor Schreck.

Lilli hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, und sagte das Einzige, was ihr in der ersten Verwirrung einfiel: »Prost!«

Der Mann glotzte Lilli erst an, als wäre sie ein Geist, dann fing er lauthals zu lachen an. »Prost!«, wiederholte er und hielt Lilli die Flasche hin. »Das ist Kräuterlimonade aus dem Kloster!«

Lilli schüttelte den Kopf.

Achselzuckend verschloss der Mann die Flasche, ließ sie ein paarmal an der Schnur hin und her pendeln und warf sie dann wieder ins Wasser. »Kühlschrank!« Er deutete auf den See, in dem die Flasche versank.

Lilli nickte, hob die Hand zum Gruß und entfernte sich rasch mit ihren Freundinnen.

Ole stand auf der Bank und blickte ungeduldig auf die Uhr, während Little in den Anmeldeunterlagen las. »Die Teilnehmer des Freizeitcamps werden zum vereinbarten Zeitpunkt am Fähranleger abgeholt.«

Vom Steg her ertönte das Motorengeräusch des Fährschiffes, das gerade wieder ablegte.

»Wo ist denn Jessy?«, fragte Lilli.

»Sie wollte mal dort nachfragen!« Mitch zeigte mit einem Stecken zum Kiosk hinunter, wo Jessy eben ein Eis am Stiel auspackte.

»Kommt, wir holen uns auch ein Eis.« Ole zog seinen Geldbeutel aus der Tasche und stürmte los. Mitch sprang von der Bank und folgte ihm und auch Very, Enya und Bob setzten sich in Bewegung. Lilli zögerte kurz, aber als Little sagte, er wolle sowieso kein Eis und würde auf das Gepäck aufpassen, lief auch sie den anderen hinterher.

Jessy knabberte etwas Schokoladenglasur von ihrem Eis und zeigte auf die Souvenirverkäuferin. »Sie sagt, die anderen Teilnehmer seien schon eine Fähre früher gekommen, aber die im Camp wüssten Bescheid!«

Beruhigt kauften sich die Wilden Küken, Ole und Mitch ein Eis. Lilli bezahlte gerade als Letzte, da ertönte von der Weggabelung her Littles verzweifelte Stimme: »Ole! Hilfe!«

Oben an der Sitzbank zurrte der alte Mann mit der Pudelmütze gerade alle Rucksäcke, Koffer und Reisetaschen auf dem Transportrad fest, während Little hilflos daneben stand.

»Der Typ klaut unser Gepäck!« Very rannte gleichzeitig mit Ole los.

»Haltet den Dieb!« Mitch raste hinterher, stolperte aber auf dem Kies, der um den Kiosk herum aufgeschüttet war. Im Fallen ruderte Mitch so heftig mit den Armen, dass sein Eis vom Stiel flog und in hohem Bogen durch die Luft sauste. Der Dieb hatte sich inzwischen schon aufs Rad geschwungen und trat in die Pedale, während ihm Ole, Little und Very schreiend hinterherliefen. Auch Jessy, die erst unter dem Sonnensegel stehen geblieben war, setzte sich jetzt in Bewegung und rief irgendetwas, das aber in Lillis Keuchen unterging. Lilli legte noch einen Zahn zu, drückte Bob im Überholen ihr Eis in die Hand und zog dann an Enya vorbei.

Kurz bevor der Gepäckräuber im Hohlweg verschwand, erwischte Ole das Gestänge des Transportrads. Als Lilli völlig aus der Puste hinzukam, hielten Very und Ole das Rad mit vereinten Kräften fest. Der Pudelmützenmann stieg schimpfend ab und drehte sich herum.

Very, Ole, Lilli, Enya, Little, Bob und der jetzt auch hinzukommende Mitch waren zu siebt und der alte Mann war allein.

Unsicher starrte er seine Widersacher an, aber plötzlich verwandelte sich seine Miene und ein breites Lächeln malte sich auf sein Gesicht. Er zog sich die Pudelmütze vom Kopf und winkte. »Hallo, Jessy!«