Wir Kinder aus dem Möwenweg

Ich heiße Tara und bin acht Jahre alt. Aber in vier Monaten werde ich schon neun, im November. Also bin ich eigentlich sogar schon mehr als achteinhalb.

Wir wohnen im Möwenweg, Mama, Papa und ich. Und natürlich Petja und Maus, das sind meine Brüder. Petja ist zehn, darum will er leider immer bestimmen. Und Maus geht noch nicht mal in die Schule. Also, nur mit Petja und Maus wäre es bestimmt nicht so schön bei uns.

Aber zum Glück wohnen in unserer Reihe auch noch Tieneke, die ist meine beste Freundin, und Fritzi und Jul. Die sind Schwestern und heißen eigentlich Friederike und Julia, das kann man sich ja schon denken, weil sie Mädchen sind. Tieneke ist acht, genau wie ich, und Fritzi ist erst sieben. Aber Jul ist schon zehn.

»Für die Kinder hätten wir es gar nicht besser treffen können«, hat Mama am Telefon zu ihrer besten Freundin gesagt, als wir gerade erst eingezogen waren. Das war im letzten Winter, und da wussten wir ja noch nicht mal, wie gut wir es getroffen hatten.

Weil wir da noch nicht im Zelt geschlafen und noch kein Zaunfest und kein Rasenfest und kein Sommer-Garagenplatz-Fest gefeiert hatten. Und sonst war auch noch überhaupt nichts gewesen.

Aber jetzt wissen wir genau, dass wir es im Möwenweg am schönsten auf der ganzen Welt haben. Das findet Tieneke auch.

Unsere Reihe hat sechs Häuser, ich mal das jetzt mal auf:

Unser Haus ist Nummer e, das ist vielleicht nicht ganz so gut. Weil neben uns in Nummer d nämlich Voisins wohnen, die haben keine Kinder und sind auch nicht so ganz richtig nett. Aber Mama sagt, irgendeinen schwierigen Nachbarn hat man überall und so schlimm sind Voisins nun wirklich nicht.

Das finde ich aber doch. Immer müssen sie gleich meckern.

Auf der anderen Seite (im Endhaus) wohnen Oma und Opa Kleefeld, und die sind besser. (Natürlich weiß ich, dass man eigentlich Frau Kleefeld sagen müsste und Herr Kleefeld, aber Oma und Opa Kleefeld wollen das gar nicht.) Manchmal laden sie uns ein, zum Pfannkuchen-Essen zum Beispiel, oder wir dürfen in ihrem Garten unter dem Rasensprenger duschen, wenn es heiß ist. Mit Kleefelds haben wir Glück, finde ich.

Neben Voisins wohnt meine beste Freundin Tieneke, und daneben wohnen Fritzi und Jul. Ich finde es nicht so gut, dass Tieneke neben Fritzi und Jul wohnt und nicht neben mir. Da können wir nicht einfach durch den Garten gehen, wenn wir spielen wollen, weil doch die schwierigen Voisins dazwischen sind. Und die haben einen teuren Rollrasen, über den dürfen wir nicht laufen. Weil man lernen muss, fremdes Eigentum zu respektieren, sagt Frau Voisin.

Im anderen Endhaus wohnen Vincent und Laurin mit ihrer Mutter, das sind leider zwei Jungs. Zuerst hat Petja gesagt, dass sie zu jung für ihn sind, weil Laurin erst sieben ist und Vincent ist neun. Aber dann ist er mit Vincent in eine Klasse gekommen (und mit Jul auch), und jetzt spielen sie doch meistens zusammen. Das tun wir übrigens meistens alle. Außer wenn die Jungs blöde sind. Aber das sind sie zum Glück nicht so oft.

Darum möchte ich nie mehr vom Möwenweg wegziehen. In meinem ganzen Leben nicht.

Wir holen Tienekes Kaninchen

In den Sommerferien konnten wir nicht verreisen, weil wir doch gerade erst das Haus gekauft hatten, und so was ist teuer, sagt Papa. Aber zum Glück sind die anderen Kinder auch alle zu Hause geblieben, da hat es mir nichts ausgemacht. Man kann bei uns jeden Tag so viel machen.

An einem Montag hat Tieneke morgens bei mir geklingelt und gesagt, dass sie jetzt losgeht und ein Kaninchen kauft. Hat Tieneke es nicht gut? Sie hat gefragt, ob ich ihr beim Aussuchen helfe, und das wollte ich natürlich gerne.

Vor dem Haus haben Fritzi und Jul auf ihrer Pforte gesessen und geschaukelt, und da hat Tieneke gesagt, dass die beiden auch mitdürfen. Das fand ich ein bisschen schade. Weil ja eigentlich ich ihre beste Freundin bin, und darum ist es auch gerecht, wenn ich ihr bei wichtigen Sachen helfe. Das habe ich aber nicht gesagt, ich wollte nicht, dass Fritzi und Jul böse auf mich sind.

Tienekes Mutter hatte im Supermarkt am Anschlagbrett einen Zettel gesehen, auf dem »Junge Zwergkaninchen zu verschenken« stand. Und weil die Adresse bei uns in der Nähe war, sind wir zu Fuß gegangen.

Tieneke hatte eine leere Spielzeugkiste mit, in die wollte sie das Kaninchen auf dem Rückweg setzen, und ich habe schnell gefragt, ob ich ihr beim Tragen helfen darf. Tieneke hat gesagt, mal sehen.

Als wir bei der Hausnummer angekommen sind, die Tienekes Mutter sich aufgeschrieben hatte, war es ein ganz kleines altes Haus mit einem riesigen Garten. »Ich habe schon gewartet!«, hat eine mittelalte Frau in einer abgeschnittenen Jeans gesagt. Aber ganz freundlich. Tienekes Mutter hatte nämlich vorher angerufen und Bescheid gesagt, dass wir kommen.

Wir sind also zusammen um das Haus herumgegangen. Der Garten war eigentlich nur eine Wiese, auf der lauter dicke Obstbäume standen, und dazwischen sind Kaninchen herumgewuselt, in einem riesengroßen Gehege. Es war fast wie bei den Teletubbies.

»Nun guckt mal, welches euch gefällt«, hat die Frau gesagt. Sie hat Tienekes Mutter erzählt, dass eins der beiden Zwergkaninchen, die ihre Kinder zu Ostern gekriegt hatten, plötzlich doch kein Weibchen mehr war.

»Dabei hat uns das sogar der Tierarzt bestätigt!«, hat sie gesagt. »Aber Sie sehen ja, was passiert ist.«

Und das haben wir wirklich gesehen. Das Gehege war aus schönem weißen Draht und sah fast so vornehm aus wie der Zaun von Voisins. Und in einer Ecke haben sechs winzig kleine Kaninchen gehockt, die hatten schwarz-weißes Fell und lange Hasenohren und haben ganz zufrieden das Gras abgefressen.

»Süß!«, hat Jul gerufen und sich vor das Gehege gekniet.

Ich fand die Kaninchen auch süß. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Kaninchen zu Anfang so winzig sind! Sie hätten wirklich leicht auf meine Hand gepasst. Und so groß ist die ja nicht.

Tieneke durfte in das Gehege steigen und sich aussuchen, welches Kaninchen sie wollte. Es gab ein schwarzes mit einem weißen Fleck auf der Nase und drei weißen Pfoten und ein ganz weißes mit kleinen schwarzen Punkten. Die anderen hatten ziemlich viel Schwarz und Weiß durcheinander.

Ich habe geflüstert, dass Tieneke das ganz weiße nehmen soll, aber da ist sie böse geworden. Sie hat gesagt, es ist ja wohl ihr Kaninchen, da kann sie ja wohl alleine entscheiden.

Schließlich hat sie gesagt, dass sie entweder das ganz schwarze will oder das ganz weiße, sie muss mal eine Minute überlegen.

»Ich will mich ja nicht einmischen«, hat die Frau mit der abgeschnittenen Jeans gesagt, »aber für Kaninchen ist es eigentlich nicht so gut, wenn sie alleine leben müssen. Die haben gerne Gesellschaft. Am liebsten würde ich sie sowieso zu zweit weggeben.«

Und man stelle sich vor, das hat Tienekes Mutter erlaubt! Da hat die Frau also das weiße und das schwarze Kaninchen in Tienekes Spielzeugkiste gesetzt und noch ein paar Karotten dazugelegt, damit sie sich wohlfühlen sollten. Und Tienekes Mutter hat ihr eine Plastiktüte mit einer Flasche Wein gegeben. Weil die Frau doch kein Geld für die Kaninchen haben wollte.

Als wir schon fast an der Pforte waren, ist plötzlich ein riesengroßes schwarzes Kaninchen aus einem Loch im Boden gehoppelt gekommen und hat sich ganz zahm vor uns hingehockt. Dabei hat es uns so lieb angeguckt.

»Meine Güte!«, hat Tienekes Mutter erschrocken gesagt. »Ich hab ja gar nicht gewusst, dass es so riesige Kaninchen gibt.«

»Das ist unser alter Stallhase«, hat die Frau gesagt. »Der lebt nicht mit den anderen zusammen. Der hat sich unter dem Garten einen Bau gegraben.«

»Na hoffentlich«, hat Tienekes Mutter gesagt.

Das hab ich aber nicht nett gefunden. Ich glaube, der Stallhase wollte auch gerne Freunde haben. Und mit den anderen Kaninchen zusammen spielen.

Auf dem Nachhauseweg haben wir uns zuerst ein bisschen gestritten, wer die Kiste tragen durfte, aber dann hat Tieneke gesagt, auf der einen Seite darf sie die ganze Zeit, weil es ja ihre Kaninchen sind. Und wir anderen können uns auf der anderen Seite abwechseln. Sie sagt immer, wann die Nächste darf.

Bis nach Hause bin ich dreimal drangekommen und Jul und Fritzi nur zweimal. Da war Jul ziemlich böse. Aber Tieneke hat gesagt, sie kann ja nichts dafür, dass der Weg so kurz ist.

Wir durften alle mit in Tienekes Zimmer gehen, da sollten die Kaninchen in der Kiste wohnen, bis draußen im Garten der Stall und das Gehege fertig waren. Aber Tieneke hat uns nicht erlaubt, dass wir die beiden auch mal auf den Arm nehmen. Sie hat gesagt, dass es ihre Kaninchen sind, und darum müssen sie sich erst mal an sie gewöhnen. Wenn wir sie jetzt auch nehmen, denken sie nachher noch, dass wir ihre Mutter sind.

»Du tickst ja nicht richtig!«, hat Jul gesagt. »Sehen wir aus wie ein Kaninchen? Das glaubst du ja wohl selber nicht, dass die denken würden, dass wir ihre Mutter sind!«

Aber so hatte Tieneke es ja natürlich gar nicht gemeint. Und bestimmt hat Jul das auch gewusst. Sie wollte Tieneke nur ärgern.

»Sie meint ja gar nicht, dass wir ihre Mutter sind!«, hab ich darum gesagt. »Sie meint Frauchen, oder, Tieneke?«

Aber da hat Jul sich gegen die Stirn geschlagen und gesagt, dass sie jetzt geht, weil sie es hier mit lauter Idioten zu tun hat.

»Das sind ja wohl keine Hunde!«, hat sie gesagt. »Bei Hunden heißt das nur Frauchen!«

»Und bei Kaninchen!«, hab ich böse gesagt. »Du weißt das ja gar nicht!«

Aber da war Jul schon gegangen. Und Fritzi ist natürlich wieder hinterhergelaufen. Das tut sie meistens.

Da waren Tieneke und ich mit den Kaninchen alleine, und Tieneke hat gesagt, Gott sei Dank. Jetzt können wir uns ganz in Ruhe Namen überlegen. Da hätte Jul sich bestimmt nur immer eingemischt.

Wir haben einen Zettel genommen und eine Liste gemacht. Ich durfte schreiben, weil Tieneke sich ja um die Kaninchen kümmern musste.

Es ist wirklich komisch, wie viele gute Kaninchennamen uns eingefallen sind. Wir hatten Schwarzfellchen und Weißfellchen und Schwarzpfötchen und Weißpfötchen und Purzel und Wurzel und Puschel und Wuschel und Zwergenhase. Zwergenhase hab ich vorgeschlagen, und ich finde, es klingt so lieb und ein kleines bisschen verzaubert.

Tieneke wollte aber nicht, weil es nur ein Name für ein Kaninchen war. Und sie hatte ja zwei.

Ich hab gesagt, sie kann das andere dann ja Riesenhase nennen, aber sie hat mir nur einen Vogel gezeigt.

Als Tienekes Vater nach Hause gekommen ist, haben wir ihn gefragt, und er hat gesagt, er würde die beiden Django und Rambo nennen. Und Tienekes Mutter irgendwas mit Beethoven. So heißt ein Hund in einem Film.

Da haben wir gewusst, dass es nichts nützt, wenn man sie fragt, weil sie überhaupt nichts davon verstehen, wie Kaninchen heißen müssen.

Schließlich hat Tieneke gesagt, das schwarze heißt Puschelchen und das weiße Wuschelchen. Und das hab ich auch gut gefunden.

Zu Hause hab ich beim Abendbrot erzählt, dass Tieneke zwei kleine Zwergkaninchen gekriegt hat und dass sie Puschelchen und Wuschelchen heißen, und Petja hat gesagt, was das denn wohl für bescheuerte Namen sind.

»Puschel-chen und Wuschel-chen!«, hat er mit so einer ganz hohen, spitzen Stimme gesagt. »Ach-chen je-chen, wie-chen süß-chen

Maus ist vor Lachen fast vom Stuhl gefallen, aber Mama hat gesagt, sie findet, Puschelchen und Wuschelchen sind zwei sehr schöne Kaninchennamen.

Da hab ich gedacht, dass ich es ja wenigstens mal versuchen kann, und hab gefragt, ob ich vielleicht auch ein Kaninchen darf. Nur ein einziges, das kann dann ja mit Puschelchen und Wuschelchen spielen. Schließlich hat die Frau noch zwei Babykaninchen über.

Aber Mama hat gesagt, das kommt leider nicht infrage. Bei Tieneke ist es was anderes, die ist schließlich ein Einzelkind, und da ist es gut, wenn sie wenigstens ein Tier zum Spielen hat. Aber ich habe ja Petja und Maus.

Da bin ich richtig böse geworden und in mein Zimmer gegangen. Als ob Petja und Maus so gut wären wie ein Kaninchen! Das kann Mama ja wohl nicht wirklich meinen. Ich wäre tausendmal lieber ein Einzelkind, wenn ich dafür ein Kaninchen haben dürfte.

Ich finde, Erwachsene verstehen manchmal nicht so viel vom Leben. Nicht mal Mama.

Wir bauen einen Kaninchenstall und finden einen toten Vogel

Am nächsten Morgen hat Fritzi bei mir geklingelt und gesagt, ihr Vater baut einen Käfig für Puschelchen und Wuschelchen, und wenn ich will, darf ich helfen. Das wollte ich natürlich.

Ich bin also auf den Garagenplatz gegangen, da standen schon Tieneke und Jul, und wir waren auch nicht mehr verkracht. Das sind wir zum Glück nie so besonders lange.

Der Vater von Fritzi und Jul heißt Michael und kennt sich von allen Vätern am besten mit Handwerkssachen aus. Er hatte schon Bretter besorgt und Schrauben und Nägel, und wir durften beim Ausmessen helfen und beim Festhalten und sogar beim Sägen. Das war aber ziemlich anstrengend.

Als wir schon fast fertig waren, sind die Jungs auch noch gekommen und wollten mitmachen. Michael hat gesagt, nur wenn Tieneke es erlaubt. Schließlich sind es ihre Kaninchen und ihr Käfig.

Tieneke hat gesagt, dass sie dürfen. Wir hatten sowieso keine so dolle Lust mehr. Fritzi hatte einen Splitter im Finger, und ich hatte sogar eine Blase. Vom Sägen. Michael hat gesagt, das gehört dazu, ein Handwerker ohne Schrunden ist gar kein richtiger Handwerker.

Da war ich fast ein bisschen stolz, dass ich eine Schrunde hatte. Weil es auch so ein besonderes Wort ist.

Als der Stall fertig war, haben wir ihn ganz hinten am Zaun in Tienekes Garten aufgestellt. Dann haben wir aus Leisten und Kaninchendraht noch Teile zum Zusammenstecken für ein Gehege gebaut. Schließlich sollen Puschelchen und Wuschelchen nicht immer nur in ihrem Haus hocken müssen. Immer wenn es nicht regnet, dürfen sie auch draußen sein und ihre schöne Freiheit genießen, hat Tieneke gesagt. Ihre kleinen Kaninchen sollen es ja gut haben bei ihr.

Als das Gehege fertig war, haben wir die Spielzeugkiste mit Puschelchen und Wuschelchen in den Garten getragen. Gerade als wir sie in ihr neues Zuhause setzen wollten, hat Vincent »Stopp!« gerufen. Er hat gesagt, auf ein neues Haus muss man mit Champagner anstoßen. Das hat seine Mutter auch getan, als sie in den Möwenweg gezogen sind.