Der Autor

Mani Beckmann, geboren 1965 in Alstätte/Westfalen, studierte Film- und Fernsehwissenschaft und Publizistik an der Freien Universität Berlin, arbeitet seitdem als freier Filmjournalist und Drehbuchlektor. Seit 1994 schreibt er Krimis und historische Romane, teilweise unter dem Pseudonym Tom Finnek.

 

www.editorial-zech.es/de/autoren/mani-beckmann

Inhaltsverzeichnis

Titel
Über das Buch
Der Autor
Inhaltsverzeichnis
Karte von Valle Gran Rey
Prolog
Erster Briefwechsel
Erster Teil – Gomera
Erzählung begonnen von Martin Brandt
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Intermezzo
Zweiter Briefwechsel
Zweiter Teil – Sodom
Erzählung fortgesetzt von Ute Ikemann
Der erste Tag
Der zweite Tag
Der dritte Tag
Dritter Teil – Der tote Mann
Erzählung beschlossen von Martin Brandt
1
2
3
Epilog
Dritter Briefwechsel
Impressum
Weitere Kanaren-Krimis im Zech Verlag

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1999. Textgrundlage dieses E-Books ist die mit dem gleichnamigen Titel im Zech Verlag (Teneriffa 2009) erschienene Taschenbuchauflage, erstmals veröffentlicht im E-Pub-Format im Juli 2013.

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, auch einzelner Teile, ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, öffentlichen Vortrag, Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen, z.B. über das Internet.

 

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Tel./Fax: (34) 922-302596 · E-Mail: info@zech-verlag.com

Text und Zeichnung: Mani Beckmann

Covergestaltung: Karin Tauer unter Verwendung eines Fotos von Bruno Dittrich

Konvertierung: Zech Verlag

E-Book ISBN 978-84-941501-0-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-84-934857-7-1

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Webseite:

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Karte von Valle Gran Rey

Sodom-und-Gomera-Karte

1 – Caja de Ahorros/Sparkasse

2 – Zumería/Saftbar

3 – ›Parada‹-Bar

4 – Apartamentos Gran Rey (Casa Isabella)

5 – Parroquia Los Santos Reyes/Kirche

6 – Gasolinera/Tankstelle

7 – ›Las Jornadas‹-Bar (Casa María)

8 – Praxis Dr. Álvarez

9 – Casa Mireia & Dirk

10 – ›Taka-Tuka‹-Bar

11 – Café der anderen Art

12 – Parada/Bushaltestelle

13 – Discoteca ›Esmeralda‹

14 – Campo de Fútbol/Fußballplatz

15 – Casa Brigitte

16 – El Fotógrafo

Prolog

»Wir glauben, das Publikum in Kenntnis setzen zu müssen, dass (...) wir für die Echtheit dieser geschilderten Vorkommnisse nicht bürgen können, und dass wir sogar triftige Gründe haben zu glauben, es sei nur ein Roman.«

(Choderlos De Laclos, »Die gefährlichen Liebschaften«)

Erster Briefwechsel

Frau ... an Herrn Mani Beckmann

16. Januar ...

Sehr geehrter Herr Beckmann,

herzlichen Dank für Ihren Brief vom 6. Januar, er hat mich einerseits sehr amüsiert und zugleich irritiert. In einer Justizvollzugsanstalt gibt es bekanntlich nur selten Abwechslung, das ist schließlich auch nicht ihr Sinn und Zweck, und deshalb bin ich Ihnen umso dankbarer für die ebenso erheiternden wie verstörenden Zeilen, und ich muss gestehen, ich bin überrascht: ein Angebot wie das Ihre hatte ich ganz gewiss nicht erwartet. Entweder sind Sie enorm naiv oder verdammt gerissen, ich bin mir darüber noch nicht im Klaren. Sie kommen mir also mit Literatur. Interessant.

Sie dürften zweifellos in Erfahrung gebracht haben, dass ich bereits etliche recht lukrative Angebote diverser einschlägiger Zeitschriften und Fernsehsender abgelehnt habe. All diese Damen und Herren redeten von Realitätsnähe und sozialen Bezügen, von Geschichten, die das Leben schreibe und nur das Leben selbst schreiben könne, vom öffentlichen Interesse an wahren Begebenheiten und ungeschminkten menschlichen Schicksalen. All diese Herrschaften heuchelten Anteilnahme, vergossen Krokodilstränen, zückten ihre Bleistifte und wedelten mit ihren Schecks. Und mussten unverrichteter Dinge wieder umkehren.

Sie, Herr Beckmann, haben eine andere Taktik. Obwohl oder gerade weil Sie wissen, dass ich keinerlei Interviews gebe und mich beharrlich weigere, irgendwelche Exklusivrechte an meiner »Geschichte« zu verkaufen, schlagen Sie mir vor, mich zu einer Figur eines Kriminalromans zu machen. Sie ködern mich mit Fiktion. Sie wollen nichts enthüllen, beweisen, aufdecken oder entlarven, Sie wollen lediglich ein spannende Geschichte erzählen und Lesevergnügen bereiten. (Als sei ein Mordfall vergnüglich!) Kein Wort von Geldsummen, kein Versuch, mich zu kaufen. Nein, Sie wollen mich zu einer strahlenden, tragischen oder womöglich düsteren Romanheldin machen. Zweifelhafte und vermutlich nicht sehr schmeichelhafte Unsterblichkeit in gedruckter Form, die mir allerdings und zu allem Überfluss finanziell nichts einbringen wird.

Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was mich dazu bewegt, aber ich muss gestehen, dass ich Gefallen an diesem Gedanken finde. Vielleicht ist es die ungestüme und herzerfrischende Begeisterung, mit der Sie mir Ihr Anliegen vortragen, die mich für Ihren Plan einnimmt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Sie mich zum Lachen gebracht, statt falsche Tränen der Rührung vergossen zu haben. Hätten Sie mir Geld für meine Geschichte geboten, ich hätte Ihren Brief auf der Stelle zerrissen, und Sie hätten niemals eine Antwort erhalten. Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob Sie ein Schaf oder ein Fuchs sind. Dies ist vielleicht auch gar nicht wichtig. Wider jede Vernunft (Eitelkeit ist nicht gerade eine Tugend), trotz nicht zu leugnenden Unbehagens und entgegen den dringlichen Ratschlägen meines Anwalts (der schlechte Erfahrungen mit Schriftstellern gemacht zu haben scheint) habe ich die Absicht, Ihnen ein Angebot zu machen, das Sie kaum imstande sein werden abzulehnen: Ich schenke (!) Ihnen meine Geschichte, knüpfe dieses Geschenk aber an einige strikt einzuhaltende Bedingungen.

An meinem Grundsatz, keine Interviews mehr zu geben, hat sich nicht das Geringste geändert. Sollten Sie also den Wunsch haben, persönlich mit mir zu sprechen, so muss ich Sie enttäuschen. Ich werde Ihretwegen keine Ausnahme machen und sehe auch keine Veranlassung dazu. Es ist gar nicht nötig, ein weiteres Wort über meinen Fall zu verlieren, schließlich ist alles hübsch ordentlich in Wort und Bild dokumentiert und festgehalten. Und damit meine ich weder die Gerichtsakten noch die Protokolle der Polizei. (Ich vermute, Sie horchen an dieser Stelle auf?)

Mein Anwalt, Herr ..., hat ein kleines Päckchen in seinem Verwahrsam, das er Ihnen (sofern Sie und ich uns denn einigen werden) zukommen lassen wird. In diesem Päckchen befinden sich Dokumente der unterschiedlichsten Art, die anlässlich des Gerichtsverfahrens von meinem Verteidiger zusammengetragen wurden: es handelt sich um Briefe und Postkarten, von mir geschrieben oder an mich adressiert, Tagebücher oder Auszüge und Fotokopien daraus, Tonbandaufzeichnungen und Gesprächsprotokolle, Zeitungsausschnitte sowie einige Fotos und Dias. Eine wahre Schatzkiste für Krimiautoren, das kann ich Ihnen in aller Bescheidenheit versprechen. Für mich allerdings eher eine unheilvolle Büchse der Pandora.

Wenn Sie, Herr Beckmann, an einer spannenden Geschichte interessiert sind, dann werden Sie hier fündig werden. Da Sie (berufsbedingt) Gefallen an gräulichen Dingen haben, werden Ihnen die Dokumente zusagen. Mir läuft allein bei dem Gedanken eine Gänsehaut über den Rücken.

Sie brauchen die Papiere und Bänder nur chronologisch (oder wie es Ihnen sonst angemessen erscheint) zu ordnen und in entsprechende Form zu bringen. Das Material steht Ihnen zur freien Verfügung, machen Sie daraus Ihren Roman, kürzen Sie oder schmücken Sie aus, raffen oder strecken Sie, wie es Ihnen beliebt. Da die Dokumente nicht mit dem Hintergedanken der Veröffentlichung erstellt wurden, dürfte eine »Literarisierung« der Papiere unumgänglich sein. Ihnen wird schon etwas Passendes einfallen.

Doch freuen Sie sich nicht zu früh! Gerade hinsichtlich der Bearbeitung der Dokumente stelle ich meine Konditionen, über die ich nicht diskutieren oder verhandeln werde. Entweder Sie schlucken sie, oder unser Projekt ist gestorben: Ich verlange, dass sämtliche Namen (Vor- und Nachnamen!) geändert werden, damit Rückschlüsse auf die wahren Personen von vornherein ausgeschlossen sind. Dies bezieht sich, wie sich von selbst versteht, auch auf meine eigene Person. Bei der Beschreibung der Physiognomien wünsche ich ebenfalls, dass sie in auffallendem Maße von der Realität abweicht. Wenn also eine Figur meiner Geschichte groß und blond ist und eine Adlernase hat, so machen Sie daraus bitte einen pummeligen Rothaarigen mit einer Boxernase. Das mag Ihnen angesichts der Namensänderung albern und überflüssig erscheinen, es ist dennoch eine meiner Grundbedingungen. Was für die Personen gilt, trifft selbstverständlich ebenso auf die Jahreszahlen und vor allem die Orte zu. Ich wünsche, dass aus dem Roman nicht zu erschließen ist, in welchem Jahr, in welcher deutschen Stadt und auf welcher sonnigen Urlaubsinsel sich die Geschichte abspielt. Da Sie aus Berlin stammen, wäre es vielleicht ratsam und nahe liegend, die ganze Angelegenheit dorthin zu verlegen, aber das bleibt natürlich und letztlich Ihnen überlassen.

Eine weitere meiner Konditionen betrifft den Titel des zu schreibenden Romans. Mit Schrecken habe ich bei einem Gang durch die Gefängnisbibliothek feststellen müssen, dass bei etwa jedem zweiten Kriminalroman die Begriffe »Mord« oder »Tod« im Titel enthalten sind: »Mord bei Regen«, »Der Tote in der Badewanne«, »Mord im Pfarrhaus« und vergleichbarer Unfug. Sollten Sie die Absicht haben, einen ähnlich plakativen Titel zu wählen, so betrachten Sie unsere Zusammenarbeit bitte für beendet.

So, und nun der wirkliche Pferdefuß: die Hauptbedingung.

Ich erwarte und verlange, dass die Endkontrolle des anzufertigenden Manuskripts in meinen Händen liegt und dass kein einziger Buchstabe erscheint, den ich nicht vorher gelesen und gutgeheißen habe. Dabei geht es mir nicht um die Beurteilung irgendwelcher literarischen, stilistischen oder erzählerischen Fähigkeiten (ich verstehe viel zu wenig von Literatur im allgemeinen und Kriminalromanen im speziellen), sondern allein um die Einhaltung der obigen Konditionen. Halten Sie sich an unsere Abmachungen, dann werden wir wunderbar miteinander auskommen. (Ich bin nicht ganz so fürchterlich, wie ich in der Regenbogenpresse dargestellt wurde.) Jeder Vertragsbruch wird jedoch umgehend mit einem Veto meinerseits quittiert. Ich habe meinen Anwalt beauftragt, einen Vertrag entsprechend meinen Wünschen aufzusetzen. Sollten Sie nach wie vor Interesse haben, so setzen Sie sich bitte mit ihm in Verbindung. Er wird alles Weitere regeln.

Sie haben nun die Wahl, Herr Beckmann: »Friss, Vogel, oder stirb!«, wie es so treffend im Volksmund heißt.

Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit und fürchte sie zugleich.

Mit freundlichen Grüßen

...

Mani Beckmann an Frau ...

Berlin, 21. Januar ...

Liebe Frau ...,

ich darf Ihnen mit Freude mitteilen, dass ich heute Vormittag bei Ihrem Anwalt war, um den von ihm aufgesetzten Vertrag zu unterschreiben. Wie Sie dem entnehmen können, haben Ihre Bedingungen und Konditionen nichts an meiner »ungestümen und herzerfrischenden Begeisterung« geändert. Allerdings schien Ihr Rechtsbeistand tatsächlich nicht besonders angetan von unserem Vorhaben und machte keine großen Anstalten, sein Missfallen zu verbergen. Wie dem auch sei, das ominöse Päckchen befindet sich nunmehr in meinem Besitz, und die Arbeit kann beginnen.

Um Ihnen, liebe Frau ..., die inhaltliche Mitarbeit und Einflussnahme auf das Manuskript zu erleichtern, werde ich Ihnen nicht erst den fertigen Roman, sondern jedes einzelne beendete Kapitel zukommen lassen, damit Ihre Anmerkungen in die Arbeit einfließen können.

Nach einigem Zögern und einer kontroversen Diskussion mit meiner Lektorin habe ich mich entschieden, die Geschichte zwar streng chronologisch, aber in drei Teilen und aus zwei verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Als einführender Erzähler fungiert dabei Ihr Freund und Nachbar (den ich Martin Brandt nennen und zu einem Journalisten umfunktionieren möchte). Im Anschluss daran werden Sie selbst zu Wort kommen und den Fortgang der Geschichte präsentieren. Zwar habe ich mich noch nicht endgültig entschlossen, aber ich tendiere im Moment dazu, Sie in dem Roman Ute Ikemann zu nennen. (Sollte Ihnen dieser Name missfallen oder Ihnen ein besserer einfallen, so lassen Sie es mich bitte wissen.) Aus Gründen, die sich aus der Abfolge der Ereignisse ergeben, wird sich zum Finale erneut Martin Brandt melden und die Erzählung aus seiner Sicht beenden.

Ihr Vorschlag, die Geschichte in Berlin anzusiedeln, entspricht durchaus meinen Wünschen und Vorstellungen. Und auch hinsichtlich der Urlaubsinsel habe ich mir bereits ein paar Gedanken gemacht und mich für die Kanareninsel Gomera entschieden, auf der ich im vergangenen Jahr einen dreiwöchigen Urlaub verbracht habe und von der ich glaube, dass sie der tatsächlichen Insel (geographisch wie touristisch) nicht unähnlich ist.

Was den Titel des Romans anbelangt, so liebäugele ich im Moment mit einem kleinen Wortspiel. Was halten Sie von »Sodom und Gomera«?

Auch ich freue mich auf unsere gemeinsame Arbeit und hoffe und glaube, dass Ihre Befürchtungen unbegründet sein werden.

Herzliche Grüße und bis bald.

Mani Beckmann

Frau ... an Herrn Mani Beckmann

25. Januar ...

Sehr geehrter Herr Beckmann,

an Ihren etwas skurrilen Sinn für Humor scheine ich mich wohl erst gewöhnen zu müssen. Ich weiß nie, ob Sie etwas so meinen, wie Sie es schreiben, oder ob Sie mich auf den Arm nehmen wollen. »Sodom und Gomera«? Ist das Ihr Ernst?! Nun ja, warum eigentlich nicht? Sie werden schon wissen, was Sie tun. Ob ich das von mir auch behaupten kann, ist fraglich.

Mit freundlichen Grüßen

...

PS: Der Name Ute Ikemann gefällt mir durchaus; er ähnelt meinem tatsächlichen so wenig, wie ich es mir nur wünschen kann.

Erster Teil – Gomera

Erzählung begonnen von Martin Brandt

»›Unsere Familie ...‹, sie zögerte, und da war was in ihren Augen, das sie da nicht haben wollte. So fuhr sie atemlos fort: ›Unsere Familie ist nicht so eine Familie.‹«

Raymond Chandler, »Die kleine Schwester«

1

Das Flugzeug landete mit einer halben Stunde Verspätung um kurz vor drei Uhr nachmittags auf dem Flughafen Reina Sofia. Noch vor sechs Stunden hatte ich bei elf Grad fröstelnd im Berliner Regen gestanden und auf mein Taxi gewartet, das mich zum Flughafen Tegel bringen sollte, und nun empfing mich strahlender Sonnenschein und eine brütende Hitze auf der Kanareninsel Teneriffa.

»Auf das Wetter ist da unten immer Verlass«, hatte Ute mir versprochen und wie immer recht behalten. »Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist der Schirokko. Aber der kommt selten.«

»Aha«, hatte ich geantwortet und nicht recht gewusst, wovon sie sprach.

Ich stand in der Abfertigungshalle und sammelte mein Gepäck ein (wie nicht anders zu erwarten, war es das letzte, das auf dem Förderband erschien). Ich verstaute Jeansjacke und Pullover im Rucksack, setzte meine Sonnenbrille auf, stellte die Armbanduhr um eine Stunde zurück und begann allmählich zu begreifen, dass soeben mein erster längerer Urlaub seit Jahren begonnen hatte. Erst am Vortag hatte ich ein Last-Minute-Pauschalticket erstanden, und noch vor drei Tagen hatte ich nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass ich mich an diesem Dienstagnachmittag in der Nähe des 28. Breitengrades auf einer Insel im Atlantischen Ozean befinden würde. Eigentlich sind spontane Entscheidungen nicht gerade meine Stärke, aber diesmal ging alles ganz plötzlich und erfolgte ohne lange Planung.

Es begann damit, dass Wuttke, mein Redakteur beim »Berliner Abendblatt«, mir bei einer Kulturpreisverleihung am Samstag zu verstehen gab, es sähe in der nächsten Zeit ungünstig mit Aufträgen aus. Er wisse, dass man es als Freiberufler nicht einfach habe, und es tue ihm ja auch leid, aber so sei es halt im Journalismus. Nicht dass er mit meinen Texten unzufrieden sei, das nun gerade nicht, aber ob ich denn nicht schon einmal überlegt hätte, das Feuilleton aufzugeben und, sagen wir mal, in die Lokalberichterstattung zu wechseln. Im lokalen Sport würden zum Beispiel immer mal wieder patente Leute gebraucht. Eine verbale Ohrfeige durch die Blume!

»Das ist das Sommerloch, da sieht es immer ein wenig mau aus.« Wuttke lächelte unecht. Von wegen Sommerloch! Es war September!

Um nicht auf der Stelle loszuheulen oder ihm an die Gurgel zu springen, grinste ich unbeholfen und stammelte etwas Ähnliches wie: »Ich hatte eh vor, erst mal ein wenig Urlaub zu machen.«

»Na prima!« Er klopfte mir väterlich auf die Schulter. »Vielleicht sieht’s ja in drei, vier Wochen wieder etwas besser aus. Und ich werde auf jeden Fall bei den Kollegen von der Lokalen ein gutes Wort für Sie einlegen.« Wieder ein Schulterklopfer, dann ein aufbauendes Wort des Trostes: »Sie sind doch jung und flexibel. Ihnen gehört die Zukunft, mein lieber Brandt. Wie ich Sie beneide!« Damit war für Wuttke das Thema beendet, und er wendete sich wieder dem üppigen Büfett und der ebenso reichlich ausgestatteten Brünetten zu, die an einem Hähnchenschenkel knabberte und bewundernd an seinen Lippen hing.

Und ich war dazu verdonnert worden, in Urlaub zu fahren.

Auch wenn dies natürlich nicht der einzige und eigentliche Grund war, warum ich nun an diesem herrlichen Spätsommertag vor dem Gebäude des Flughafens Teneriffa-Süd stand und ausfindig zu machen versuchte, wie ich am besten und schnellsten zum Hafen von Los Cristianos gelangte. Schließlich war ich in quasi-detektivischer Mission unterwegs.

Ich schaute mich hilflos und suchend im Flughafengebäude um und beneidete die anderen Fluggäste, die genau zu wissen schienen, wohin sie wollten und wie sie dorthin gelangten. Zwar hatte ich mir am Vorabend einen Reiseführer besorgt und ihn sogleich in die Innentasche meiner Lederjacke gesteckt, um ihn auf keinen Fall zu vergessen und im Flugzeug zur ersten Recherche zur Hand zu haben. Doch leider hatte ich mich heute morgen entschieden, statt der winterlichen Leder- die sommerliche Jeansjacke mitzunehmen, und so ruhte der Reiseführer wohlbehalten in meiner Wohnung, während ich einigermaßen orientierungslos im sonnigen Süden gelandet war. Zu allem Überfluss war ich des Spanischen nicht mächtig und beherrschte außer den Titeln einiger spanischer Spielfilme wenig mehr als die Namen diverser karibischer Cocktails.

»Deutsch reicht da unten völlig«, hatte Ute am Sonntag gemeint, als wir uns in einem Café in der Nähe des Kreuzberger Victoriaparks zu einem französischen Frühstück getroffen hatten. »Gomera ist genau wie Mallorca, nur ganz anders.« Dann hatte sie meine Hand genommen und mich traurig lächelnd angeschaut. »Würdest du das wirklich für mich tun?«

»Für dich würde ich alles tun«, hatte ich scherzhaft geantwortet und ihr dabei nicht in die Augen geschaut, um ihr nicht zu erkennen zu geben, dass ich es keineswegs nur als Scherz gemeint hatte.

»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«

Ich grinste nickend und meinte: »Klar! Wer weiß, vielleicht finde ich ja sogar Spaß am Detektivspielen: Martin Brandt, ein Mann für alle Fälle. Außerdem war ich noch nie auf den kanarischen Inseln. Wird mal Zeit!«

Im Moment allerdings zweifelte ich daran, ein sonderlich guter Detektiv zu sein. Nicht einmal den Taxistand konnte ich ausfindig machen.

»Du Halbdackel«, hörte ich plötzlich eine piepsende Stimme hinter mir. »Wo haschden jetscht den Bruschtbeudel gelassen?« Ich drehte mich um, da ich dachte, ich sei gemeint, und sah ein etwa achtzehnjähriges, rothaariges Mädchen, das sich an dem Rucksack eines eingeschüchterten und gleichaltrigen Jungen zu schaffen machte. Schwaben, wie der Tonfall verriet. Und um zwei Jahrzehnte verspätete Blumenkinder, wie sich unschwer der Kleidung entnehmen ließ: Ledersandalen, bunte und geblümte beziehungsweise gestreifte Pluderhosen, Batikhemd und geflochtene Armbändchen. Das Mädchen hatte das Gesuchte gefunden und schnauzte ihren Freund an: »Du bisch echt ‘n Grasdackel!«

»Wisst ihr, wie ich zum Hafen komme?«, fragte ich die beiden.

»Wo willschten hin?«, fragte das Mädchen.

»Zum Hafen.« Ich war mir beinahe sicher, es gerade erst gesagt zu haben.

»Noi, wo du hinwillscht?« Das Blumenkind strich sich die mittelgescheitelten und hennagefärbten Haare hinter die Ohren.

Ich bereute bereits, die beiden angesprochen zu haben. Kommunikation mit Süddeutschen war immer so anstrengend, sie dachten so grundsätzlich anders als ich. Ich wiederholte also: »Los Cristianos.«

»Der Hafen«, antwortete sie, »das hascht schon gesagt.«

Allmählich glaubte ich zu verstehen, worauf das Mädchen hinauswollte, und sagte: »Ich möchte gern nach Gomera.«

»Da wollen wir auch hin. Kannscht gleich mitkommen.« Sie nickte mir zu und winkte einem Taxi. »Zu dritt isch billiger.«

Bevor ich mich recht versah oder dagegen wehren konnte, saß ich mit dem Schwabenpärchen in einem klapprigen Toyota und fuhr an der unansehnlichen und durch betonierte Hotelanlagen verschandelten Südküste Teneriffas entlang gen Westen. Das verspätete Hippiemädchen (sie hieß Sandra, nannte sich aber Sunny oder Sandy) redete ohne Unterlass auf mich ein, während ihr blond gelockter und schlaksiger Begleiter (den Sandy als Michael oder besser: Mike beziehungsweise Micki vorstellte) die ganze Zeit über keine Silbe sagte. Er starrte dümmlich vor sich hin und schaukelte mit dem Oberkörper (Hospitalismus, vermutete ich). Während der Taxifahrt erfuhr ich, dass die beiden aus Böbingen an der Rems stammten, im Frühjahr Abitur gemacht hatten und im kommenden Monat ihr Studium in Berlin beginnen wollten: Sandy hatte sich für Germanistik entschieden (»Deutsch als Fremdsprache?«, hätte ich beinahe gefragt, ließ es dann aber), und Micki wollte Psychologie studieren (ausgerechnet!). Allerdings erhielt ich auch einige nützliche Informationen über die Insel Gomera.

Ich zeigte Sandy die Postkarte, die Ute mir mitgegeben hatte, und deutete auf den Stempel mit dem Schriftzug »La Calera«. Sandy nahm mir die Karte aus der Hand, las interessiert die Adresse und fragte: »Wer ischen Ute Ikemann?«

Ich antwortete, das ginge sie gar nichts an, und tippte erneut auf den Stempel.

»Des isch im Valle«, erklärte Sandy desinteressiert und kümmerte sich wieder um die handschriftlichen Zeilen auf der Karte. Sie las den Text und die Unterschrift und fragte: »Und wer isch Julia?«

Obwohl sie es mir nicht sehr leicht machte, erfuhr ich von Sandy, dass La Calera ein Ortsteil der Gemeinde Valle Gran Rey war, unweit der Südwestküste der Insel. Das Tal des großen Königs (so lautete wohl die Übersetzung) bestand aus einem guten Dutzend kleinerer Dörfer und Siedlungen und war das Zentrum des Tourismus auf Gomera, vor allem des Alternativtourismus.

»Alle sind da so grell abgefahren und voll cool, viele Freaks und Aussteiger und Leute wie wir«, wie Sandy nicht ohne Genugtuung betonte. »Die sind ungeheuer easy drauf, weischt?«

Klar gebe es auch normalos und sogar einige wenige Pauschalreisende (dass meine Wenigkeit ebenfalls zu diesen gehörte, verschwieg ich tunlichst), aber insgesamt sei das Valle doch noch »ziemlich freakig und voll krass, gell!«

Das Taxi hielt, Micki zahlte die 2.500 Peseten (er tat dies wortlos), und Sandy forderte von mir die Hälfte des Fahrpreises, indem sie sagte: »Fifty-fifty, ganz reell!« Als sie meinen fragenden Blick sah, fügte sie achselzuckend hinzu: »Wir sind zwei Parteien: du und wir. Also jeder die Hälfte.«

Kopfschüttelnd gab ich ihr 1.500 Peseten und war etwas erstaunt, als sie sie einsteckte, ohne Anstalten zu machen, mir den Rest herauszugeben.

Wieder sah sie mein Stirnrunzeln und meinte in vorwurfsvollem Ton: »Bisch du etwa ‘n Pfennigfuchser?«

Ich lächelte nachsichtig und verneinte ihre Frage.

»Siehscht?«, fragte Sandy. »Da vorn isch auch schon die Fähre, wo nach San Sebaschtián fährt.«

»San Sebastián?«

»Des isch die Hauptstadt von Gomera. Und der Hafen. Das Valle isch auf der anderen Seite der Insel.«

Auch während der gut einstündigen und erstaunlich schaukelfreien Schifffahrt mit der »Ferry Gomera« gelang es mir nicht, den Redeschwall meiner neuen Bekannten zu bremsen oder auf eine andere Person (zum Beispiel ihren apathisch schweigenden Freund) zu lenken. Sie erzählte vermeintlich ulkige Anekdoten von vergangenen Urlaubstrips (sie reiste zum vierten Mal »ins Valle«), schwärmte von dem mojo bei Maria (eine Art Soße oder Dip, angeblich eine kulinarische Spezialität auf der Insel), dozierte über die »Guanchen«, die geheimnisumwitterten Ureinwohner der Kanaren, und berichtete von der so genannten Schweinebucht und den Freaks und Späthippies, die dort direkt am Wasser in Höhlen lebten, sich von Joints und freier Liebe ernährten und denen sich Sandy und Micki (selbstredend) auf der Stelle anschließen wollten.

Mein erster optischer Eindruck von der Insel Gomera war ein höchst angenehmer. Nach der Fahrt durch das monoton ockerfarbene und trostlose Ödland an der Südspitze Teneriffas und weil ich Postkarten von sandigen Mondlandschaften anderer Kanareninseln gesehen hatte, war ich nicht wenig überrascht, als ich vom Schiff aus eine erstaunlich grüne, bergige und relativ kleine Insel sah.

»Niedlich, gell?«, sprach Sandy aus, was mir gerade durch den Kopf ging.

Ich nickte und erwiderte: »Sieht aus wie Lummerland.«

»Eine Insel mit zwei Bergen«, begann sie sogleich zu trällern und grinste mich an. »Aber eine Lok wie in Lummerland gibt’s hier nicht. Wir müssen leider den Bus nehmen.«

Die Haltestelle, zu der Sandy ihre beiden männlichen Begleiter wie eine Entenmutter ihre Küken geleitete, befand sich direkt an der Mole. Bevor ich auch nur einen Blick auf die Hafenstadt hatte werfen können, saß ich bereits auf den brütend heißen, kunstoffbeschichteten Sitzen des öffentlichen Busses, der in einem waghalsigen Tempo die Berge erklomm, um die neuen Gäste auf die gegenüberliegende westliche Seite der Insel zu transportieren. Die Busfahrt dauerte knappe zwei Stunden und war ebenso kurvenreich wie schwindelerregend. Trotz zunehmenden Drucks auf den Ohren und eines unwohligen Grummelns in der Magengegend bewunderte ich den Ausblick auf die bewaldeten Hügel und Täler. Je höher wir kamen, desto nebliger wurde es, und als wir schließlich einen dichten und verwunschen anmutenden Wald aus Lorbeerbäumen und riesigen Heidegehölzen durchquerten, befanden wir uns in einer dicken Wolkensuppe.

»Des isch vom Passatwind«, erklärte Sandy, ohne dass ich sie um Erklärung gebeten hätte. »Die Wolken gibsch aber nur hier auf der Oschtseite.« Sie sah sich genötigt, weitere Erläuterungen folgen zu lassen und sich über Klima, Vegetation und Wasservorkommen auf der Insel auszulassen. Während Sandy zischelnd und ausschweifend auf mich »einschwätschte«, was das Zeug hielt und ich mit Respekt und Unbehagen in die tiefen Schluchten starrte, dachte ich an den vergangenen Samstagabend zurück, den Abend, an dem ich von Utes Zwillingsschwester erfahren hatte.

Ich hatte Ute in ihrer Wohnung abholen wollen, um mit ihr zu einer Galaveranstaltung zu gehen (ebenjene Festivität, auf der ich dann meinen Job verlor), doch in dem Moment, da sie die Wohnungstür öffnete, wusste ich, dass Ute unsere Verabredung vergessen hatte. Sie lugte vorsichtig durch einen Spalt ins Treppenhaus und stierte mich lange und ungläubig an, wahrscheinlich wegen meiner allzu schnieken Gala-Ausstattung, in der ich mich selbst zuvor im Spiegel kaum erkannt hatte. Sie lächelte verlegen und fragte: »Martin?«

Sie sah gut aus, unglaublich gut sogar. Eigentlich. Ihre Haut war sonnengebräunt, das dunkelblonde Haar etwas kürzer und heller, schulterlang und durch die Sonne gebleicht. Unzählige Sommersprossen zierten ihr sehr schmales Gesicht, sie schien in den zwei Wochen abgenommen zu haben. Es stand ihr, sie sah blendend aus. Und dennoch stimmte irgendetwas mit ihr nicht. Sie wirkte verstört und starrte mich an, als sähe sie ein Gespenst. Wer weiß, wäre ihre Sonnenbräune nicht gewesen, vielleicht wäre sie bleich um die Nase gewesen. Sie trat von einem Bein aufs andere und machte keine Anstalten, mich in die Wohnung zu lassen.

»Du hast den Ball vergessen?«, fragte ich.

»Den Ball?«

»Ja, den Ball.«

»Ach so, der Ball. Ich weiß nicht.«

Ein Dialog, wie aus einer Derrick-Folge. Allmählich machte ich mir ernstlich Sorgen um meine Nachbarin. Wir hatten uns schon vor Wochen, noch vor ihrem Urlaub, für den heutigen Samstagabend verabredet. Sie hatte mich geradezu angebettelt, sie zur Kulturpreisverleihung in den Zoo-Palast mitzunehmen. Im Gegensatz zu mir liebte Ute schicke Galas und hochoffizielle Empfänge, und mir bereitete es unbändiges Vergnügen, in ihrer Begleitung zu sein. Mit Ute als Partnerin wagte ich mich sogar aufs Tanzparkett.

»Entschuldige.« Mit einem verkrampften Lächeln im Gesicht öffnete sie die Tür, damit ich eintreten konnte. »Komm rein!«

Ich trottete hinter ihr her durch den schmalen Flur. Zwei Koffer standen an der Garderobe, der eine verschlossen, der andere geöffnet, aber noch nicht ausgepackt. In der Wohnung war es stickig und duster, es roch abgestanden und muffig, die Jalousien waren heruntergelassen, die Fenster geschlossen.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte sie: »Tut mir leid, die Maschine hatte ein paar Stunden Verspätung, ich bin erst heute Abend angekommen.«

»War’s schön?«

»Hm, na ja. Urlaub halt.«

Komische Antwort!

Ich folgte ihr ins Wohnzimmer und setzte mich aufs Sofa, während sie zum Fenster ging, es auf Kippe stellte und die Jalousien hochzog, um frische Luft hereinzulassen. Auf dem Tisch lagen Fotoalben und Tagebücher, in denen sie geblättert zu haben schien. Sie sah meinen Blick, kramte hastig die Alben zusammen und verstaute sie neben dem Sofa. Dann stand sie vor mir, verschränkte die Arme und schwieg.

»Was hast du getrieben?« Ich deutete auf die Fotoalben: »Vergangenheitsbewältigung oder schon die ersten Urlaubsfotos eingeklebt?«

»Was? Wieso? Nein!« Wieder schaute sie mit diesem verängstigten Blick, den ich noch nie an ihr bemerkt hatte. Nichts zu sehen von ihrem verschmitzten Grinsen und dem Funkeln in ihren grünen Augen, das sonst ihr Markenzeichen war und mich jedes Mal zum Schmelzen brachte.

»Hey, was ist denn mit dir los?«, fragte ich besorgt.

»Mit mir? Nichts. Gar nichts. Was soll sein? Wahrscheinlich bin ich in Gedanken immer noch auf Gomera.«

»Gomera?«, wunderte ich mich. »Ich dachte, du warst auf Kreta?!«

»Ja, natürlich, Kreta, wo sonst?« Sie stand vor mir, schaute durch mich hindurch, als sei ich gar nicht vorhanden, und rieb sich nervös die Hände, spielte mit einem Ring an ihrem Mittelfinger, den ich ebenfalls noch nicht an ihr gesehen hatte. Ein großer, ovaler, roter Stein in Goldfassung, ziemlich auffällig.

»Rubin?« Ich deutete auf ihre Hand.

»Nein, Granat«, antwortete sie knapp. »Im Urlaub gekauft.«

Ute zitterte am ganzen Körper, drehte immer hektischer an ihrem Ring. Und plötzlich begann sie jämmerlich zu schluchzen und zu weinen, es brach regelrecht aus ihr heraus.

Ich sprang erschrocken auf, wusste nicht, ob und wie ich mich ihr nähern sollte, und nahm sie schließlich ungeschickt in die Arme. Ich hielt sie fest, streichelte ihren Rücken und ertappte mich dabei, wie ich an ihren Haaren schnupperte. Sie rochen immer noch ein wenig nach Sonne und Salz. Ich konnte Utes Herz schlagen fühlen, und mein eigenes raste vor Aufregung. Atemlos fragte ich: »Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?«

»Julia!«, rief sie tränenerstickt. »Sie hat geschrieben!«

»Wer ist Julia?«

»Meine kleine Schwester.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, befreite sich aus meiner Umarmung, drückte aber dankbar meine Hand und meinte: »Tut mir leid.«

»Du hast eine Schwester?«

Sie zuckte mit den Schultern und nickte dann andeutungsweise, sah mich aber nicht an. Es war offenkundig, dass die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, nicht sonderlich angenehm waren. Sie seufzte leise: »Mm-hm.« Dann sagte sie: »Julia ist meine Zwillingsschwester.«

»Im Ernst? Davon hast du nie etwas erwähnt.«

»Das hat schon seine Gründe«, erwiderte sie sibyllinisch.

Ich wohnte bereits seit zwei Jahren Tür an Tür mit Ute, war ebenso lange mit ihr befreundet und hatte bislang gedacht, sie ziemlich genau zu kennen oder doch einiges über sie und ihre familiären Verhältnisse zu wissen. Sie hatte mir von ihren verstorbenen Eltern erzählt, von ihrem Vater, der Bürgermeister in einer Kleinstadt an der holländischen Grenze gewesen war, von ihrem jüngeren Bruder Jonas, der in den USA studierte und jedes Jahr zu Weihnachten eine kitschige Postkarte schickte und sich ansonsten rar machte. Und von ihrem Ex-Mann Dirk natürlich, der sich vor einigen Jahren mit einer hübschen Spanierin auf und davon gemacht hatte. Aber eine Schwester hatte sie nie erwähnt. Geschweige denn eine Zwillingsschwester!

»Und was schreibt sie?«, wollte ich wissen.

Ute ging, sich immer noch die Tränen trocknend, zu ihrem Sekretär, kramte in Briefen, die auf der Ablage gehäuft waren, und kam mit einer Postkarte zurück. Sie hielt sie mir hin und sagte: »Lies selbst!«

Ich betrachtete kurz das Foto auf der Rückseite: Nacktbadende auf schwarzem Sandstrand vor rötlich schimmernden Felsen. Ich drehte die Karte um und las:

»Liebe Ute, viele herzliche Grüße von der sonnigen Insel Gomera sendet Dir Deine Schwester Julia. Das Wetter ist herrlich, ich faulenze den ganzen Tag, liege am Strand und trinke frisch gepressten Orangensaft. Ich hoffe, wir sehen uns bald einmal. Alles Liebe, tausend Küsse. Deine Julia.«

Diese harmlose Karte war also der Grund, weshalb Ute weinend und völlig aufgelöst vor mir stand? Und einen Kulturball vergessen hatte, auf den sie sich wochenlang wie ein kleines Kind gefreut hatte? Ich sah Ute fragend an.

»Das kannst du nicht verstehen«, rief sie. »Diese Karte ist ein Hilfeschrei.«

Ich staunte und las erneut. Entweder war die Postkarte in einem Geheimcode geschrieben, oder Ute hatte Halluzinationen. Oder ich hatte schlicht nicht genug Phantasie. »Ein Hilfeschrei? Wie kommst du darauf?«

»Julia würde mir niemals eine solch banale Karte schicken. Nicht nach sechs Jahren.« Ute schluckte und starrte zu Boden. »Nicht nach allem, was gewesen ist!« Sie schluckte erneut und verstummte.

Ich sah ihr ins Gesicht, sah die traurig schauenden, rotgeränderten Augen, das nervöse Zucken ihrer Mundwinkel, das unbeholfene Lächeln, das nicht gelingen wollte. Wenn ich nun darüber nachdachte, so musste ich mir eingestehen, dass es vor allem dieser hilfeflehende Blick gewesen war, der mich dazu gebrachte hatte, mich überhaupt auf die ganze Sache einzulassen.

»La Calera!«, sagte dieser Blick. Und dann noch einmal: »La Calera!«

Sandys Stimme riss mich unsanft aus meinen Gedanken: »He, Martin, aufwachen, du bisch da!«

»Wie? Was?« Ich rieb mir die Augen und versuchte, mich zu orientieren. Ich blinzelte durch die Frontscheibe des Busses und sah direkt aufs Meer und in die untergehende Sonne. Von dem verwunschenen Wald und den Passatwolken war nichts mehr zu sehen. Ich räusperte mich und fragte: »Wo sind wir?«

»Hier isch Calera. Du muscht raus! Sonscht darfscht die Strecke vom Strand zurücklaufen.«

»Danke!« Ich stand auf, um mein Gepäck zusammenzusuchen. »War nett, euch kennenzulernen.«

Sandy gab mir einen Kuss auf die Wange und drohte: »Bisch bald!«

Und dann geschah das Wunder.

Ich gab Micki die Hand, und plötzlich öffnete dieser den Mund und sprach!

Er sagte: »Hier läuft man sich eh ständig über den Weg, ist gar nicht zu vermeiden. Entweder an der Saftbar oder bei Maria. So groß ist der Ort ja nicht.« Ebenso überraschend wie die Tatsache, dass er überhaupt redete, war der Umstand, dass er dabei keinerlei Akzent erkennen ließ.

»Wir werden sehen.« Ich stieg aus und begab mich auf die Suche nach der »Casa Brigitte«, in der das Reisebüro für mich ein apartamento gebucht hatte.

La Calera war ein sehr hübscher, malerisch am Berghang gelegener Ort, noch nicht verbaut, sondern relativ ursprünglich erhalten, mit weißgetünchten Häuschen, schmalen Gassen, gewundenen Wegen und Treppen und wundervoller Aussicht aufs Meer. Auf den Hafenort Vueltas zur Linken, die Strandsiedlung La Playa zur Rechten und die Bananenplantagen dazwischen.

Ich stapfte keuchend und müden Schrittes die unzähligen Treppenstufen hinauf und fand das »Haus Brigitte« am obersten Rand des Dorfes. Die Besitzerin, eine grauhaarige, etwa fünfzigjährige Deutsche mit leichtem Hamburger Akzent, wartete bereits auf mich und fragte, warum ich nicht mit dem Kleinbus des Reiseveranstalters gefahren sei. Die hätten am Flughafen auf mich gewartet, um mich zur Insel und ins Valle zu bringen.

»Kleinbus?«, war alles, was ich schnaufend erwidern konnte.

»Ja, sicher. Wofür hast du denn pauschal gebucht?«

»Ach so«, sagte ich und dachte: Hätte ich das gewusst! (Dieser Urlaub war meine erste Pauschalreise.) Dann setzte ich hinzu: »Ich hoffe, Sie haben nicht allzu lange auf mich gewartet.«

»Halb so wild. Und du kannst Gitte zu mir sagen, wir duzen uns hier alle.«

Sie gab mir ein Zeichen, ihr die Treppe hinauf zu folgen, und zeigte mir das Apartment im dritten Stock: es hatte eine Dusche, ein großes Bett und einen ebensolchen Balkon mit atemberaubenden Seeblick. Was wollte ich mehr?!

Der Urlaub konnte beginnen.

2

Das Restaurant »Las Jornadas«, das von allen Touristen und Einheimischen nur »Casa Maria« genannt wurde, lag strategisch äußerst günstig, nahe am Strand und mit Blick auf die untergehende Sonne, für die es nun allerdings schon zu spät war. Das zweistöckige Gebäude stand direkt an der einzigen Straße, die in den Ortsteil La Playa hinunterführte (von meinem Apartment aus ein Fußweg von etwa fünfzehn Minuten). Wer zu den Stränden wollte (außer dem Dorfstrand gab es noch einen Nacktbadestrand, die Playa Inglés), musste an Marias Laden vorbeiflanieren und sich von deren Gästen begutachten lassen. Die Straße hatte etwas von einem Laufsteg. Man sah und wurde gesehen.

Ich machte es mir auf der schmalen Terrasse gemütlich, beobachtete das Treiben um mich herum und überlegte, wie ich nun weiter vorgehen wollte. Ute hatte mir zwei Fotos mitgegeben. Das eine zeigte Julia in ihrer Berliner Wohnung und war vor etwa sieben Jahren aufgenommen worden. Sie hatte sehr kurze Haare und einen mürrischen Gesichtsausdruck, ansonsten aber war sie tatsächlich das exakte Abbild ihrer um wenige Minuten älteren Schwester. Das andere Foto war eine aktuelle Automatenaufnahme von Ute (mit schulterlangem Haar). Wahrscheinlich war es am günstigsten und aussichtsreichsten, so dachte ich mir, die Bedienungen in Restaurants und Kneipen zu fragen. Barkeeper hatten erfahrungsgemäß ein ziemliches gutes Erinnerungsvermögen. Und Julia Ikemann war eine Frau, an die man sich erinnern würde (so glaubte und hoffte ich).

Der Kellner, ein nordisch aussehender Mann mit blondem Schnauzer, kam an meinen Tisch, nahm stumm meine Bestellung entgegen und ignorierte es schlichtweg, als ich ihm die Fotos präsentieren wollte. Auch wenige Minuten später, als er das Essen brachte, reagierte er nicht auf meine Bemühungen, ihn auf die Bilder aufmerksam zu machen. Nicht gerade ein Sanguiniker.

Der Koch des Ladens jedoch schien weniger leidenschaftslos zu sein, er hatte mir ein Essen bereitet, an das ich mich noch lange Zeit erinnern würde. Das Thunfischsteak war sauer mariniert, die papas (Kartoffeln) runzlig, ungeschält und in höchstem Maße salzig, die rote Soße (mojo rojo) extrem scharf und triefend vor Knoblauchöl. Mein Magen würde einige Zeit brauchen, um sich an die deftige gomerische Küche zu gewöhnen.

Um meinen Innereien die bevorstehende Verdauungsarbeit ein wenig zu erleichtern, ging ich nach dem Essen an den Tresen und bestellte, wie Sandy es mir ans Herz gelegt hatte, einen sol y sombra (halb Brandy, halb Anislikör), den mir ein junger Mann mit schläfrigem Gesichtsausdruck vor die (bereits sonnenverbrannte) Nase setzte. Sein eigenes Riechorgan war ein echtes Prachtexemplar, gebogen wie eine Haifischflosse und ebenso herausragend. Es erinnerte mich an die Profile römischer Legionäre in den Asterix-Comics.

Ich kramte das Foto von Julia heraus, zeigte es dem Barkeeper und stammelte: »Usted ... äh ... vista ... esta chica?«

Das ergab wahrscheinlich keinen rechten Sinn, aber wenn er nicht gänzlich debil war, sollte der Barmann erahnen können, was ich wollte. Doch er zeigte keinerlei Reaktion, starrte mich nur regungslos an, sagte kein Wort. Lediglich die Nasenflügel seines Riesenzinkens vibrierten. Ich versuchte es mit dem Passfoto von Ute. Die gleiche Nicht-Reaktion des Barkeepers, das gleiche gelangweilte Vibrieren der Nasenflügel, er schüttelte nicht einmal den Kopf. Wahrscheinlich war es den Bediensteten dieses Etablissements strengstens untersagt, mit den Gästen zu reden oder auch nur gestisch mit ihnen zu kommunizieren.

»Gracias.« Ich nahm mein Getränk und trollte mich.

»De nada«, knurrte der Legionär. Es klang nicht sehr freundlich.

An meinem Tisch saß derweil ein deutsches Pärchen, das sich angeregt unterhielt. Ich setzte mich an meinen Platz und nickte ihnen zu. Sie nickten nicht zurück, hatten offenkundig Wichtiges zu besprechen. »Du, weißt du«, sagte der Typ mit weinerlichem Tonfall, »das hat schon auch wehgetan.« Er war einige Jahre jünger als seine Begleiterin, Mitte Zwanzig vielleicht, trug einen Prinz-Eisenherz-Haarschnitt und ein Kassengestell auf der Nase. »Ich fand’s irgendwo ein Stückweit nicht in Ordnung, wie du mir bei der letzten Sitzung über den Mund gefahren bist.«