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Israel und Palästina
Recht auf Frieden und Recht auf Land

Für meine Frau Christiane, die sich seit langem schon für die palästinensische Sache einsetzt

S.H.

Für Mahmoud Hamchari, für Ezzedine Kalak

E.S.

Für die deutsche Ausgabe:
© 2012 Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Gesetzt aus der Liberation Serif
ISBN: 978-3-942787-14-7
www.jacobystuart.de

Stéphane Hessel
und
Elias Sanbar

Israel und Palästina
Recht auf Frieden und Recht auf Land

Mit
Farouk Mardam-Bey

Aus dem Französischen
von
Edmund Jacoby

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Inhalt

VORWORT

Kapitel 1 ZWEI ENTGEGENGESETZTE TRÄUME

Kapitel 2 VON DER SHOAH ZUR NAKBA

Kapitel 3 DER SECHSTAGEKRIEG, FÜNFUNDVIERZIG JAHRE SPÄTER

Kapitel 4 WENN DER EINE LEBT, LEBT DER ANDERE AUCH

Kapitel 5 PALÄSTINA IN DIE UNO?

Kapitel 6 VON DER POLITIK ZUR POESIE

Chronik

Vorwort

Obwohl schon hundert Jahre alt, bleibt der israelisch-arabische Konflikt brandaktuell. Man kann sogar behaupten, dass kein anderer Konflikt weltweit ebensoviele Leidenschaften und irrationale Ausbrüche provoziert und in ähnlicher Weise die großen politischen Lager spaltet, die Rechte ebenso wie die Linke. Das trifft ganz besonders auf Frankreich zu, wo die schmerzhaften Erinnerungen an die zwei großen zeitgeschichtlichen Brüche, den Zweiten Weltkrieg und den Algerienkrieg, immer wieder auf die Konfrontation im Nahen Osten zwischen Israelis und Palästinensern projiziert werden.1

Und doch: Wenn man von den extremistischsten Positionen absieht, die dem jeweils Anderen das Recht darauf absprechen, als Nation in innerem Frieden und in sicheren und anerkannten Grenzen zu leben, so hat sich doch seit einigen Jahren bekanntlich ein weltweiter Konsens über einige Prinzipien herausgebildet, in denen das Völkerrecht und das historische Recht sich weitestmöglich verbinden. Diese Prinzipien sind deshalb geeignet, den Weg zu einer dauerhaften Lösung zu eröffnen, wenn sie denn ernsthaft angewandt werden.

Aber warum scheint eine solche Lösung trotz des breiten Konsenses bis heute unerreichbar zu sein? Wie ist man in die gegenwärtige Sackgasse geraten? Muss man nicht die Lehre aus dem Fehlschlag des 1991 begonnenen Friedensprozesses ziehen und ernsthaft überlegen, ob man nicht ganz andere Wege gehen sollte? Ist die Lösung, auf dem Boden des historischen Palästina zwei Staaten zu errichten, einen israelischen und einen palästinensischen, noch immer möglich oder soll man lieber von nun an einen binationalen Staat fordern?

Es gibt nicht wenige Historiker, Politologen und Journalisten, die auf diese Fragen kompetent und und klug reagiert haben. Das Ziel dieses Buchs aber ist ein ganz anderes, auch wenn seine Autoren, Stéphane Hessel und Elias Sanbar, diese Fragen im Verlauf ihres Gesprächs beide jeweils auf ihre Weise beantworten. Ihre Vorgehensweise ist die, ihre Sichtweisen auf diesen endlosen Konflikt einander gegenüberzustellen und ihre unterschiedlichen Erfahrungen, Empfindungen und Erinnerungen auszutauschen. Diese sind zunächst natürlich völlig verschieden, in Anbetracht der unterschiedlichen Herkunft, des unterschiedlichen Alters und der unterschiedlichen Erfahrungen beider Gesprächspartner. Dabei wird sich herausstellen, dass sich beide im Hinblick auf die politischen Ereignisse auf etwas Gemeinsames verständigen können: ihr Engagement für das Recht.

Im Verlauf der Diskussion erklären beide, sowohl der Überlebende, Stéphane Hessel, als auch der Flüchtling, Elias Sanbar, weshalb sie in der Vergangenheit und in der Gegenwart ihre jeweiligen Positionen bezogen haben. Stéphane Hessel, Mitglied der Résistance und Häftling in Buchenwald, dann Diplomat bei der UNO in ihrer Gründungsphase, erinnert an die allgemeine Stimmung am Ende des Zweiten Weltkriegs, die außerordentlich günstig für die Schaffung eines jüdischen Staats in Palästina war. Er selbst war davon überzeugt, dass die UNO entsprechend handeln sollte. Auch wenn er seitdem seine Haltung hinsichtlich der Legitimität des Staates Israel nicht verändert hat, haben ihn der Sechstagekrieg, die Besatzung und die Kolonisierung der besetzten Territorien durch Israel in den letzten Jahren dazu gebracht, sich für das Recht des palästinensischen Volks auf einen ebenfalls unabhängigen und souveränen Staat einzusetzen – so wie es die Resolutionen der Vereinten Nationen vorsehen.

Elias Sanbar wiederum war erst ein Jahr alt, als seine Eltern die Stadt Haifa verlassen mussten und in den Libanon flüchteten. Er beschreibt sein Leben im Exil und sein Engagement für die Sache der Palästinenser im Widerstand; er beschreibt den Kampf seiner Leute dafür, dass Palästina seinen Namen wiedererhält, und er unterstreicht seine Überzeugung, dass es keine Versöhnung zwischen den beiden Völkern geben kann ohne die Wiederherstellung der historischen Wahrheit und den entschiedenen Respekt vor dem Recht. Stéphane Hessel und Elias Sanbar glauben beide nicht, dass Friede möglich ist, wenn man den Konflikt als einen religiösen Konflikt oder als völlig einmalig betrachtet. Wenn ihr Buch eine Botschaft hat, so ist es diese: Palästinenser und Israelis müssen ihren Konflikt aus der Sphäre des Heiligen, der Religion, herausführen und ihre Probleme in der Sprache profaner Politik formulieren. Auf diese Weise können auf das Palästinenserproblem – mit demselben Recht kann man auch von einem Israelproblem sprechen – wieder die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts angewandt werden. Beide, Israelis und Palästinenser, könnten dann nicht nur einen Friedensvertrag unterschreiben, sondern, was noch weit wichtiger ist, sich miteinander versöhnen.

Farouk Mardam-Bey

Kapitel 1

ZWEI ENTGEGENGESETZTE TRÄUME

Farouk Mardam-Bey: Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelangte die Palästinafrage auf die Tagesordnung der UNO, die gerade erst, im Juni 1945, also nur einen Monat nach dem Sieg der Alliierten, gegründet worden war. Der Zionismus, das heißt der jüdische Nationalismus, der die Gründung eines Staates zum Ziel hatte, war damals bereits fünfzig Jahre alt. Am Anfang war er die Bewegung einer Minderheit unter den Juden. Doch der Zionismus gewann an politischer Glaubwürdigkeit, nachdem Großbritannien, unmittelbar bevor es 1917 Palästina besetzte, den Zionisten in der berühmten Balfour-Deklaration zugesagt hatte, sie bei der Schaffung einer »jüdischen Heimstätte« im Heiligen Land zu unterstützen.

Seitdem hatte sich der Zustrom jüdischer Einwanderer beschleunigt, und infolge der Welle des Antisemitismus in Europa während der dreißiger Jahre hatte er sich noch einmal verstärkt. Im selben Maße wuchsen auch die Spannungen zwischen dem Jischuw (der jüdischen Gemeinschaft), der die Unterstützung der Briten genoss, und den Arabern Palästinas. Doch wäre über das Schicksal Palästinas wahrscheinlich anders entschieden worden als 1948 durch die UNO, wenn einerseits die Nazis nicht den Krieg für die systematische Vernichtung der europäischen Juden genutzt hätten – und wenn andererseits Europäer wie Amerikaner nicht aus schlechtem Gewissen entschlossen gewesen wären, die Juden für ihr schreckliches Schicksal zu entschädigen, indem sie den Überlebenden, die in ihren Augen von der zionistischen Bewegung repräsentiert wurden, einen unabhängigen und souveränen Staat in Palästina anboten.

Deshalb schlage ich Ihnen vor, unser Gespräch an diesem Zeitpunkt der Geschichte zu beginnen. Auf die ferneren Ursprünge des Konflikts können Sie ja, wenn nötig, später zu sprechen kommen. 1945 war eine neue Welt im Begriff zu entstehen. Optimisten wie Sie, Stéphane Hessel, der Sie diese Entwicklungen ganz von Nahem verfolgen konnten, setzten all ihre Hoffnungen auf die Vereinten Nationen: Um »künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren«, wie es in ihrer Charta heißt, verpflichteten sich in der Tat 51 unabhängige und halbunabhängige Staaten feierlich, Recht und Gerechtigkeit zu achten und ihnen Achtung zu verschaffen. Als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sich zwei Jahre später, 1947, für die Teilung Palästinas aussprach und damit die Schaffung des Staats Israel legitimierte, meinte er, damit ein Unrecht wiedergutzumachen. Doch für die Palästinenser, und ganz allgemein für die Araber, hat er damit ein neues Unrecht geschaffen.

Stéphane Hessel: Schon immer habe ich Franklin Roosevelt fast bedingungslos bewundert. Weil er schon vor dem Kriegseintritt der USA die Krise der dreißiger Jahre überwunden hatte, weil er seinem Land den Willen verliehen hatte, die große siegreiche Demokratie zu sein, und weil er sich im Dezember 1941 damit durchgesetzt hatte, die Vereinigten Staaten an der Seite der Alliierten in den Krieg eintreten zu lassen. 1944 befand ich mich im Rahmen der Mission Gréco, des Aufbaus eines Funknetzes der Résistance, für die Geheimdienste des Kämpfenden Frankreich in Paris. Dort wurde ich am 10. Juli von der Gestapo verhaftet. Ich wurde nach Buchenwald deportiert, und nachdem ich wie durch ein Wunder dem Henkerstrick entgangen war, konnte ich aus dem Lager Dora, wo ich vom 8. Februar bis 5. April festgehalten wurde, fliehen und erreichte die alliierten Streitkräfte bei Hannover.

Befreit und voller Begeisterung über den Sieg der Alliierten, meinte ich den Beginn einer neuen Weltära zu spüren. Als geborener Deutscher mit einem ganz besonderen Abscheu gegen Herrn Hitler sagte ich mir: Jawohl, wir werden zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine Organisation haben, die den Anspruch erhebt, weltumspannend zu sein, nämlich die Vereinten Nationen, die alle Nationen aufzunehmen bereit sind. Und die überdies, anders als ihr Vorgänger, der Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg, nicht nur dazu dienen sollen, Krieg zu vermeiden, sondern auch der Menschenwürde Respekt zu verschaffen, die so sehr mit Füßen getreten worden ist. Mit Füßen getreten durch die Art und Weise, wie die faschistischen Führer die eigenen Landsleute behandelten.

Was es mit der Vernichtung der Juden Europas, der Shoah, auf sich hatte, wussten wir damals nur sehr ungenau, und es spielte daher für uns noch keine besonders große Rolle. Allerdings fragte ich mich, wie groß die Katastrophe wohl gewesen sein müsse, nachdem ich in Dora gesehen hatte, wie die Menschen aussahen, die man von Auschwitz quer durch Deutschland dorthin transportiert hatte: Sie waren in einer unbeschreiblich elenden Verfassung – in meinen Erinnerungen2 schreibe ich, dass der Anblick dieser Juden auf uns wirkte, als kämen sie aus einer anderen Welt. Sie wurden weiter ins KZ Bergen-Belsen gebracht, wo viele von ihnen umgekommen sind.

Also sagte ich mir: Bravo Roosevelt, bravo de Gaulle – zu letzterem war ich im März 1941 wieder gestoßen –, die Welt, die wir bauen werden, wird das Gegenteil dessen sein, was wir unter dem Faschismus erlebt haben!

Und was die Sowjetunion betrifft, so wussten wir sehr wohl, dass die Schauprozesse manipuliert waren, in denen Stalin in den Jahren 1936 bis 1938 die Veteranen der Revolution von 1917 hatte verurteilen lassen. Wir wussten auch, dass die Bevölkerung terrorisiert wurde, aber wir sagten uns: Es war Krieg, und es war in Wahrheit die Rote Armee, die ihn gewonnen hat. Wir, die Deportierten in den Lagern, wussten genau, wie langsam sich unsere Befreier im Westen näherten und wie schnell dagegen die Rote Armee vorrückte. Wir hatten ehrlich gesagt zwei Helden: Roosevelt, weil er die Idee der Vereinten Nationen gehabt hatte, und die Rote Armee – nicht Stalin, sondern die Rote Armee –, weil sie Sieg um Sieg errang.

Erst nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis begannen wir, die Überlebenden, nach und nach zu begreifen, was mit den Juden Deutschlands – zuerst den Juden Deutschlands – und dann mit den Juden des gesamten besetzten Europa geschehen war. Ich war ja als Deutscher geboren, und ich wusste, welche bedeutende Rolle Juden in diesem Land Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auf allen Gebieten gespielt hatten, in der Wirtschaft ebenso wie im Theater, in der Literatur und der Bildhauerei … Ganz offensichtlich dienten sie dann als Sündenbock; es war ziemlich leicht, sie für die Schuldigen daran zu erklären, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte. Ich sollte sehr bald Gelegenheit haben, mehr über die Verbrechen der Nazis zu erfahren.

Im Februar 1945 kam ich in New York an. Léon Poliakov3, ein Onkel meiner Frau, arbeitete damals eng mit Edgar Faure4 zusammen, dem französischen Chefankläger am Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. So kam es, dass ich mit einem Mal sehr gut über die Naziverbrechen informiert war, und ich entdeckte, wie einzigartig in den Annalen der Geschichte die systematische Auslöschung der Juden war.

Wir, die siegreichen Vereinten Nationen, hatten uns in New York versammelt, um über die Zukunft unserer Welt nachzudenken – eine Zukunft, die auf den Menschenrechten, auf der Würde jedes einzelnen Menschen, auf der Ablehnung des Faschismus und des Totalitarismus gründen sollte (Hannah Arendt gehörte übrigens zu denen, die mit der Hilfe meines Freundes Varian Fry5 Frankreich noch rechtzeitig verlassen konnten). Deshalb sagten wir uns, dass wir der unerträglichen Lage der Juden, für die die Deutschen verantwortlich waren, ein für allemal ein Ende setzen müssten. Wir waren verpflichtet, eine Lösung für sie zu finden. Das Judentum musste seine alte Stärke, seinen Glanz zurückerlangen können. Natürlich wünschten wir uns, dass endlich alle demokratischen Länder Juden aufnehmen würden, vor allem die Vereinigten Staaten, die sich noch kurz vor dem Krieg als ziemlich antisemitisch erwiesen hatten. Wir wollten, dass es künftig einen Platz für die Juden geben sollte. Doch sollte man deshalb einen Staat für die Juden schaffen? Dies war nicht von vornherein evident.

Die berühmte Balfour-Deklaration von 1917, benannt nach dem damaligen britischen Außenminister, sprach von einer nationalen Heimstätte der Juden in Palästina. Aber war das die beste Lösung?, fragten wir uns.

Ich war ein schlechter Jude, weil ich es nur väterlicherseits war, was bereits nicht gut ist, und darüber hinaus, weil mein Vater sich nur für die griechische Mythologie interessierte. Er hat mich nie meine Bar-Mitzwa feiern lassen und nie in die jüdische Religion eingeführt, sondern nur in die moralischen Werte des Judentums, die ihm teuer waren –, ihm, der ein Bewunderer Kafkas war und ein enger Freund von Walter Benjamin und Gershom Scholem …

Das Judentum spielte eine Rolle für ihn, und für mich auch. Doch nun, in New York, fragte ich mich trotzdem, ob diese Heimstätte für die Juden wirklich dort, in Palästina, errichtet werden musste? Und ich war ehrlich gesagt etwas misstrauisch gegenüber unseren britischen Freunden. Ich bewunderte Winston Churchill sehr, der für uns den Krieg gewonnen hatte, ich bewunderte ebenfalls die britische Politik, die eine Politik des Gleichgewichts war.

Aber ich misstraute Großbritannien wegen seiner Haltung zu den Vereinten Nationen. Die Briten hatten eine solche Organisation nicht gewollt. Es war Roosevelt, der sie den Briten aufgezwungen hatte, so wie er sie Stalin aufgezwungen hatte. Nun hatten die Briten aber den Schlüssel zu jeder möglichen Entscheidung über die Zukunft Palästinas in der Hand.

Sie waren seit 1920 die Mandatsmacht, die das Land im Namen des Völkerbunds verwaltete. Doch da jedes solche Mandat natürlich zur Unabhängigkeit führen sollte, wie es in Syrien und im Libanon der Fall gewesen war, blieb die Zukunft Palästinas unklar: Sollte es ein unabhängiger Staat werden, und wenn ja, was für ein Staat? Was sollte aus der von Balfour versprochenen »nationalen Heimstätte« für die Juden werden? Und war es inzwischen nicht so, dass diese Heimstätte, in die sich die Juden aus aller Welt flüchten konnten, bereits existierte, und dass es sie zu schützen galt? Dies waren die Fragen, die sich die Diplomaten zu Beginn der Verhandlungen über die Zukunft Palästinas nach dem Ende des britischen Mandats stellten.

Elias Sanbar: Natürlich habe ich diese Zeit nicht selbst erlebt, aber sie hat mich seit jeher interessiert. Ein Teil der Argumente, mit denen gerechtfertigt wird, dass Palästina uns weggenommen wurde, geht davon aus, dass den Opfern der Nazibarbarei Gerechtigkeit widerfahren sollte. Doch nur wenige Menschen wissen, wie sich die Kriegsjahre für die Palästinenser darstellten. Paradoxerweise waren dies die einzigen »glücklichen« Jahre für sie. Ich höre noch heute meinen Vater sagen: »Die Großen trugen anderswo ihre Konflikte aus, die Welt hatte uns vergessen.« Merkwürdige Jahre, in denen das Land einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte – obwohl Flugzeuge der Achsenmächte regelmäßig meine Heimatstadt Haifa bombardierten, wo sich die Raffinerie für das aus dem Irak hierhin gebrachte Erdöl befand. Dies war der Anwesenheit von Tausenden alliierten Soldaten zu verdanken, die ernährt werden mussten und die konsumierten, während sie auf den Beginn größerer Operationen gegen die Truppen Vichy-Frankreichs warteten, die die Nachbarländer Libanon und Syrien kontrollierten. Mit einem Mal hatten die Palästinenser, die buchstäblich noch keinen Tag Frieden seit dem Ende des Ersten Weltkriegs erlebt hatten, den Beweis, dass ein normales Leben möglich war, sobald man sie vergaß.

Natürlich war das nur ein Zwischenspiel in der endlosen Reihe von Revolten, Demonstrationen, Generalstreiks und Zusammenstößen mit der zionistischen Bewegung sowie von Repressalien und Ausnahmegesetzen, die Großbritannien, die Kolonialmacht in Palästina, verhängte. Einer Periode fortgesetzter Unruhen, die zwischen 1935 und 1939 in einem allgemeinen bewaffneten Aufstand gipfelten – die Palästinenser nennen ihn die »große Revolution von ‘36« –, an dessen Ende der größte Teil des Landes von aufständischen Untergrundkämpfern kontrolliert wurde. Die Briten waren daher gezwungen, Palästina regelrecht zurückzuerobern.

Dieser neue Krieg wurde seit 1938 von General Montgomery geführt, dem späteren Sieger über Rommel bei el-Alamein in der libysch-ägyptischen Wüste. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939, die vitale Notwendigkeit für London, die Situation zu beruhigen und sich nicht mit einem zusätzlichen Krisenherd zu belasten, sowie das von Churchill in einem Weißbuch gemachte Versprechen, nach dem Krieg den palästinensischen Unabhängigkeitsbestrebungen entgegenzukommen, führten dazu, dass die Palästinakrise »ausgeklammert« wurde, also zu einem Moratorium.

Mit dem Sieg der Alliierten traten die Vereinigten Staaten, die Schutzmacht und die Verbündeten der zionistischen Bewegung, in das regionale Kräftespiel ein. Dies bedeutete für das palästinensische Volk, dass es sich um seine Zukunft ängstigen musste. Stéphane, Sie haben an die enormen Hoffnungen erinnert, die viele in diesen Jahren gespürt haben. Für die Palästinenser jedoch war alles wieder beunruhigend geworden. Was für ein Schicksal erwartete das Land nun nach dem Ende des Weltkriegs, nachdem die Bewegung von Ben Gurion besser bewaffnet war denn je? Und vor allem nachdem die Idee, in Palästina eine nationale Heimstätte der Juden zu schaffen, die sich auf die Überzeugung gründete, dass den Opfern der nationalsozialistischen Barbarei Gerechtigkeit widerfahren solle, beinahe überall auf der Welt als legitim betrachtet wurde? Die palästinensische Gesellschaft war nun davon überzeugt, dass der letzte Akt des Dramas bevorstand. In dieser Situation, exakt im November 1947, wurde erneut der Grundsatz einer Teilung des Landes zur Lösung des Konflikts aufgestellt. Erneut, weil eine britische königliche Untersuchungskommission, die Peel-Kommission, bereits 1937 erfolglos eine ähnliche Lösung empfohlen hatte. Doch die Verhältnisse in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren völlig verschieden. Der Machtverlust des zwar siegreichen, aber erschöpften britischen Empire, der Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Weltmacht, der Zustrom jüdischer Überlebender nach Palästina, die neuerlangte Legitimität des Zionismus, der als der alleinige Träger und Verteidiger der Rechte der jüdischen Opfer angesehen wurde – all dies bewirkte, dass die Idee einer Teilung, die nun in der UNO und nicht in der britischen Regierung diskutiert wurde, sich schließlich am 29. November 1947 mit der Annahme der Resolution 181 durchsetzte. Sie empfahl die Teilung Palästinas in einen arabischen Staat auf 42,88% des Territoriums und einen jüdischen Staat auf 56,47% des Territoriums sowie die Internationalisierung der Stadt Jerusalem – 0,65% des Territoriums.

Ben Gurion, der damals der maßgebliche Führer der zionistischen Bewegung in Palästina war, nahm die Empfehlung an. Die Palästinenser dagegen lehnten sie ab. Diese Fakten sind bekannt. Sie werden seitdem sogar Jahr für Jahr von den Befürwortern der heutigen Besatzungspolitik, natürlich am Jahrestag, lauthals beschworen, um zu erklären, dass die Palästinenser, die heute eine Lösung auf der Grundlage zweier Staaten anstreben, eines israelischen und eines palästinensischen, die Seite an Seite in Frieden und guter Nachbarschaft auf dem Boden des historischen Palästina existieren, nur die Empfehlung von November 1947 hätten zu akzeptieren brauchen … Als ob ein unter fremder Besatzung lebendes Volk auf ewig dazu verdammt wäre, für eine verpasste historische Chance zu büßen, als ob die nicht nachlassende Verhandlungsbereitschaft der zionistischen und dann der israelischen Führung stets auf einen exakt im selben Augenblick entstandenen palästinensischen Irredentismus gestoßen sei.

Sind die Palästinenser einem Irrtum aufgesessen, haben sie einen Fehler in dem Sinne gemacht, wie ihre Kritiker das verstehen? Es ist wichtig, hier auch darauf zu antworten. Leider, denn ich kann kaum die vielen Male zählen, in denen jeweils im November Zeitschriften und Zeitungen mich aufgefordert haben, auf diesen Vorwurf zu reagieren …

In Wahrheit war das, was damals geschehen ist, eine Machtprobe zwischen dem gefürchteten taktischen Geschick Ben Gurions und der Stimmung unter den Palästinensern, dass die Teilung ein schreiendes Unrecht besiegelte. Nämlich, dass ein Volk dazu gezwungen werden sollte, die Hälfte des seit Jahrhunderten von ihm bewohnten Landes aufzugeben, als Entschädigung für Verbrechen, die von anderen Völkern in Europa begangen worden waren. Resultat der Teilung war ein Krieg, von dem sich schon bei den ersten Kampfhandlungen herausstellte, dass er geplant war und dass er nicht der Verteidigung diente, sondern der von Massakern begleiteten Vertreibung und Umsiedlung der palästinensischen Bevölkerung.

Ich möchte gern zu diesem Thema die schrecklichen, das künftige Blutbad ankündigenden Worte eines Diplomaten nach der Abstimmung über die Teilungsresolution vor der UNO zitieren, nämlich die des pakistanischen Delegierten Zafrulla Khan: »Dies war eine schwerwiegende Entscheidung. Der Vorhang ist gefallen. […] ›Wir haben das Gute getan, so wie Gott es uns hat sehen lassen‹ – dies waren die Worte des amerikanischen Präsidenten. Tatsächlich hat er eine zureichende Zahl von Delegierten, unseren Kollegen, davon überzeugen können, das Recht auf dieselbe Weise wie er zu sehen, und sie von ihrer eigenen Sichtweise abgebracht. Unsere Herzen sind voll Trauer, doch unser Gewissen ist ruhig. […] Imperien entstehen und vergehen. […] Heute spricht man nur noch von den Amerikanern und den Russen. […] Niemand vermag vorauszusehen, ob die Vorlage, die von diesen beiden großen Ländern unterstützt worden ist, sich als wohltätig oder als verhängnisvoll erweisen wird. Und dennoch fürchten wir, dass die wohltätigen Folgen, wenn sie sich denn feststellen lassen, nur von geringem Gewicht gegen die Schäden sein werden, die diese Teilung nach sich ziehen wird.«

Angesichts dieser Worte muss man zu erklären versuchen, warum die westliche Welt ohne die geringsten Gewissensbisse das Verschwinden eines Landes und eines Volks von der Landkarte unterstützt oder stillschweigend geduldet hat. Gewiss, die Palästinenser unterlagen einem Kolonialregime, und die Umsiedlung eines kolonisierten Volks – dem man im Übrigen den Status eines Volks verweigerte – war nichts besonders Schwerwiegendes in der immer noch allgegenwärtigen Kolonialwelt. Außerdem war Europa selbst in diesen Jahren nach Kriegsende die Bühne großer Bevölkerungsbewegungen; dies ließ die Umsiedlung der Palästinenser, selbst wenn sie gewaltsam geschah, noch banaler erscheinen. Und schließlich liegt es auf der Hand, dass die Überlebenden der »Vernichtung der europäischen Juden«, um es mit den Worten von Raoul Hilberg, der historischen Autorität auf diesem Gebiet, zu sagen, keinerlei Lust verspürten, von neuem unter denen zu leben, die ihre Peiniger gewesen waren. Dieses hatte viel mit der damals vorherrschenden Stimmung zu tun, nämlich, dass die Geburt eines jüdischen Staates die richtige und »angemessene« Antwort auf die Nazis war, etwas »absolut Gutes« gegen das »absolut Böse«.

Dies macht verständlich, wieso das Unglück der Palästinenser, völlig unabhängig von einer Annahme oder Ablehnung der Teilung, in den Augen der Welt nicht sehr schwer wog. Ich möchte auch den Vertreter Palästinas vor der UNO zitieren, Jamal-al-Husseini, der niemand anderes als der Großvater mütterlicherseits unserer Freundin Leila Shahid war, die über viele Jahre hinweg die Sache der Palästinenser in Frankreich vertreten hat.

Seine Rede datiert vom 26. April 1948. Damals wütete in Palästina der Krieg, und tausende Palästinenser, darunter auch meine Familie, waren bereits in arabische Nachbarländer geflohen. Husseini lehnte die Teilung ab, doch zugleich machte er folgenden Vorschlag: Die damals in Palästina lebenden 600 000 Juden sollten in einem unabhängigen Palästina dieselben Bürgerrechte haben wie die 1 400 000 Palästinenser. Dieser Vorschlag ist aus fast allen historischen Darstellungen verschwunden. Diejenigen, die den Wahrheitsgehalt dessen, was ich sage, bezweifeln, können sich in den UNO-Archiven vergewissern, wo es ein Filmdokument der Rede gibt. Husseinis Beitrag gipfelte in diesen Worten: »Die Teilung ist geographisch unpraktikabel: acht Landesteile, drei Regierungen, vierzig Grenzen, zehn Korridore […] Diese Art von Teilung ist so etwas wie eine neue Balkanisierung. […] Die Jewish Agency gibt vor, die Araber hätten alle ihnen unterbreiteten Vorschläge in den letzten fünfundzwanzig Jahren zurückgewiesen. Die Araber haben nur solche Lösungen zurückgewiesen, die sie entgegen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker mit ihrer Vernichtung als Volk bedrohten.«

Man kann die Geschichte nicht von vorn beginnen, doch es ist wichtig zu sagen, dass dieser Konflikt mit einem schrecklichen Unrecht begonnen hat, das in Palästina begangen wurde, um ein anderes wiedergutzumachen, das seinen Ursprung in den Schrecken der Lager der Nazis hatte.

Stéphane Hessel: Was uns, die wir damals in New York saßen, als die Verhandlungen bei den Vereinten Nationen begannen, erstaunte, das war das Größenverhältnis zwischen der kleinen jüdischen Gemeinschaft und der riesigen arabischen Welt. Wir dachten nicht in Begriffen wie »Palästina« oder »Palästinenser«, sondern betrachteten die gesamte arabische Welt, die wir – ich glaube, ganz zu unrecht, aber so dachten wir damals – einer gewissen Komplizenschaft mit den Nazis verdächtigten. Der Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, der auch der einflussreichste palästinensische Führer war, hatte mit Hitler und Mussolini kollaboriert. Wir sagten uns: Diese armen Juden sind auf die abscheulichste Weise massakriert worden, und nun verlangen sie mit rührender Bescheidenheit nur 55% des Gebiets, in dem ihre Religion wurzelt. Warum nur will der riesige Islam ihnen das mit allen Mitteln verwehren? David Ben-Gurion, dessen Intelligenz wir keineswegs unterschätzten, kam uns überzeugend vor, wenn er ein für die Gründung eines Staats hinreichend großes Territorium verlangte, und die 55% erschienen uns als das Minimum.

Und was antwortete man uns von der arabischen Seite? »Keine Frage, wir werden gegen jede Teilung kämpfen.« Die Zionisten waren also gewarnt, und sie waren besser organisiert; sie verfügten über eine Armee und über Terrororganisationen, die alle Welt bewunderte, weil sie sich so tapfer schlugen. Und gegen wen kämpften sie? Für uns stand fest: gegen die Briten. Diese waren hin- und hergerissen zwischen zwei Lagern: Auf der einen Seite hatten sie den Juden eine »nationale Heimstätte« versprochen, auf der anderen mussten sie die Befindlichkeiten ihrer Verbündeten und Schützlinge in der arabischen Welt berücksichtigen. Scheinbar fand der Konflikt zwischen Juden und Briten statt. Und aus diesem Grunde haben wir damals das nicht verstanden, was die Palästinenser die Nakba nennen, das heißt, die Katastrophe, die für sie der Verlust Palästinas bedeutete.

An dieser Stelle komme ich auf das zurück, was Sie gesagt haben. Die Araber, das waren kolonisierte Völker. Nicht ihnen wurde Palästina weggenommen, sondern den Briten. Wir fanden es völlig natürlich, mehr als die Hälfte dieses uralten Landes, das sich noch unter britischer Vormundschaft befand, den Juden zu geben, die es brauchten, um sich zu versorgen und sich eine Zukunft zu schaffen. Die Araber Palästinas brauchten doch nur irgendwoanders hin zu gehen in der riesigen Welt des Islam, und sie konnten sich doch nicht beklagen, nachdem die Vereinten Nationen nach mühsamen Verhandlungen die Teilung Palästinas zwischen ihnen und den Juden beschlossen hatten.