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Titel

Ein Sturm zieht auf …

April 1628

Da hinten am Horizont! Siehst du es?«
Während der Wind ihr dunkles Haar zerzauste, fuchtelte Marte aufgeregt mit den Armen und deutete auf das Wasser, das bei diesem stürmischen Wetter einen grünlichen Grauton angenommen hatte.

Anneke kniff die Augen zusammen. Im Gegensatz zu ihrer ein Jahr älteren Freundin verfügte sie nicht über die Sehkraft eines Falken, dennoch entdeckte sie auf Anhieb das Schiff, das zwischen dem grauen Himmel und der dunklen Ostsee aufgetaucht war.

Beinahe konnte man es mit den Gischthauben verwechseln, die die hohen Wellenberge krönten. Doch bei näherem Hinsehen erkannte man, dass es Segeltuch war, das sich im Wind blähte.

»Es wird ein Handelsfahrer sein«, schrie Anneke gegen das Tosen des Meeres an und strich sich ihre blonden Locken aus dem Gesicht. Die salzige Brise zerrte heftig an ihrem blauen Rock und ihrer weißen Bluse und ließ die Bänder ihres Mieders wild umherflattern.

Eigentlich hatte ihre Mutter verboten, dass sie sich mit Marte am Strand herumtrieb. Sie hatte Angst, dass ihre Tochter von der Brandung in die Meerestiefen gerissen würde. Doch das Meer war bei Weitem nicht die größte Gefahr hier draußen. Marodierende Soldaten und Wegelagerer trieben sich in der Gegend herum, auch am Strand, in der Hoffnung, wertvolle Gegenstände aus versunkenen Schiffen zu finden. Zwei hübsche Mädchen würden in großer Gefahr schweben, wenn sie ihnen begegneten.

Doch daran dachten Marte und Anneke hier draußen nicht. Das Meer war für sie wie eine gute Freundin. Noch nie war ihnen am Strand etwas zugestoßen. Die Möwen, die über ihren Köpfen kreisten, bewachten sie und die rauschenden Wogen spielten ihnen zu Ehren auf. Hier konnten sie für einen kurzen Moment vergessen, dass der Krieg das Land verheerte.



Bereits seit ganzen zehn Jahren zogen die Heere der kaiserlichen Allianz gegen die protestantischen Feldherren. Geschichten vom Prager »Fenstersturz« anno 1618 waren auch bis an die Ostseeküste gedrungen. Anneke und Marte hatten sie als kleine Kinder gehört.

Zunächst tobten die Kämpfe nur im Süden Deutschlands, doch der Krieg war wie ein Lindwurm, der sich in seinem Hunger nach Blut ständig voranfraß. Auch das mecklenburgische Herzogtum, die Heimat der Mädchen, blieb nicht von ihm verschont.

Es war noch nicht allzu lange her, dass Peter Blomes und Johann Jusquinus von Gosens den Dänholm von kaiserlichen Besatzern geräumt hatten, was gewiss nicht ohne Folgen bleiben würde. Gerüchte, die wie trockenes Laub durch die Straßen wirbelten, besagten, dass Wallensteins Heer nun auf Stralsund zu marschieren würde.

Aus diesem Grund war man seit Wochen dabei, die Stadtmauer zu verstärken und davor einen Wall aus angespitzten Holzpfählen zu errichten. Schlimme Geschichten über das Schicksal Neubrandenburgs trieben die Handwerker an. Tilly, der große Feldherr des Kaisers, hatte dort wie der Höllenfürst persönlich gewütet.

Die Befestigungen hier mussten halten, wenn es Stralsund und seinen Bewohnern nicht ebenso ergehen sollte.

Immerhin konnten die Kaiserlichen vom Meer her nicht kommen. Die Ostsee beherrschten die Könige des Nordens, Christian IV. von Dänemark und Gustav Adolph von Schweden. Die beiden sollten sich oft uneins sein, hatte Anneke gehört, doch wenn es hieß, gegen die Kaiserlichen zu ziehen, vergaßen die Herrscher ihren Streit.

Außerdem hatte sich der Schwedenkönig bereits einen Ruf in den deutschen wie baltischen Ländern gemacht. Man nannte ihn den »Leu aus Mitternacht«, also den »Löwen aus dem Norden«. Mit diesem Namen verbanden die Menschen die Hoffnung, dass er diesen unseligen Krieg endlich beenden würde.



»Was glaubst du, segelt das Schiff unter schwedischer oder dänischer Flagge?«, fragte Marte und trat näher an ihre Freundin heran. So mussten sie nicht mehr schreien, um einander zu verstehen.

»Vielleicht kommt es aus Russland«, entgegnete Anneke, worauf Marte entschlossen den Kopf schüttelte.

»Nein, das ganz sicher nicht. Oder hast du in letzter Zeit russische Schiffe in Stralsund anlegen sehen?«

Diese Frage konnte Anneke nur verneinen, also fuhr Marte fort. »Also ich glaube, es kommt aus Schweden. Vielleicht sind es ja auch wieder Soldaten?«

Vor Kurzem war eine Kompanie an Land gegangen, die dem Schwedenkönig als Verstärkung dienen sollte.

»Vielleicht ist es der Dänenkönig«, entgegnete Anneke. Sein Bild hatte sie einmal in der Marktbude eines Händlers gesehen, der aus dem Holsteinischen stammte.

Wieder schüttelte Marte den Kopf. »Christian von Dänemark wird nicht kommen. Der muss noch immer seine Niederlage bei Lutter verkraften. Das sagt jedenfalls mein Vater und der muss es wissen.«

Martes Vater war der Stadtsoldat Hans Hagebohm, und deshalb bekam er Nachrichten über den Krieg immer als einer der Ersten. Doch das bewahrte ihn nicht davor, dass manche Informationen nicht ganz richtig waren. Die Niederlage des Dänenkönigs pfiffen in Stralsund aber sogar schon die Spatzen von den Dächern.

»Aber vielleicht überlegt er es sich doch noch«, hielt Anneke dagegen, während sie weiterhin auf das Meer sah. »Meine Mutter sagt immer, dass Menschen ihre Meinung ändern können. Menschen haben die Kraft, Niederlagen wegzustecken und neu anzufangen.«

»Könige sind andere Menschen als unsereins, vergiss das nicht«, gab Marte zu bedenken. »Sie leben in Schlössern, tragen feine Kleider und brauchen sich keine Sorgen zu machen, woher das Brot kommt. Wenn sie eine Niederlage erleiden, trifft es ihren Stolz so hart, dass sie sich in ihre gut beheizten Gemächer zurückziehen und vor sich hin leiden, anstatt die Zähne zusammenzubeißen.«

Das glaubte Anneke nicht. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass ein Herzog oder ein König wie der Vater für alle Menschen seines Landes war. Er musste ihnen doch als leuchtendes Beispiel vorangehen, denn wenn der König schon nicht kämpfen wollte, warum sollten es dann seine Untertanen tun?

Während sie versuchte, eine Antwort auf diese Frage zu finden, kam das Schiff näher. Plötzlich leuchteten seine Segel auf.

»Sieh nur, das Segel«, murmelte Anneke, ohne auf die Worte ihrer Freundin einzugehen. Der Anblick zog sie ganz in seinen Bann. »Es leuchtet!«

Marte kniff die Augen zusammen. »Das ist nur ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken fällt.«

Das stimmte wohl, doch Anneke erschien es wie ein von Engeln gesandtes Licht, das dieses Schiff unter ihren Schutz stellte.

Leider verging das Leuchten ebenso schnell wie es aufgetaucht war. Die Wolken zogen sich zusammen, bis sie wie der schwarze Schlund eines Drachen wirkten, der jeden Augenblick Feuer spucken würde. Das Schiff war kaum noch auszumachen.

»Wir sollten zurückgehen«, schlug Marte vor, denn das Tosen des Windes nahm zu. Die Wellen bäumten sich auf wie wilde Pferde, die dem Strand entgegensprengten.

»Noch einen Moment!« Anneke versuchte immer noch das Schiff zu beobachten. Sie war sicher, dass sein leuchtendes Segel ein Zeichen war.

»Komm schon«, mahnte die Freundin und zerrte an ihrem Ärmel. »Du weißt, dass Wasser das Gewitter anzieht.«

Wie zur Bestätigung ihrer Worte ertönte ein dumpfes Grollen. In der Ferne fuhr ein Blitz in die See. Das Schiff berührte er nicht, aber Anneke wusste, dass die hohen Segelmasten nicht vor den Blitzen gefeit waren. Manche Leute sagten, dass sie die Blitze sogar anziehen würden, und wiederum andere behaupteten, dass das Elmsfeuer, das den sicheren Untergang eines Schiffes prophezeite, nichts anderes war als wandernde Blitze.

Würde das Schiff da hinten auf dem Wasser dieses Schicksal erleiden oder heil im Hafen ankommen?

Plötzlich schwappte eine unerwartet große Welle an den Strand. Sie überschwemmte die Füße der Mädchen und spritzte ihnen die Gischt ins Gesicht.

Anneke und Marte kreischten und sprangen aufgeschreckt zurück.

Wenig später mischte sich das Lachen der beiden in das Tosen des Sturms, während der Boden unter ihren rennenden Füßen nur so dahinflog.



welle



Stralsund wirkte mit seinen trutzigen Mauern wie eine Inselbastion. Bisher hatte es das kaiserliche Heer nicht gewagt, gegen sie anzurennen.

Der Stadt vorgelagert war die Insel Rügen, das Gewässer hinter der Landzunge, auf der Stralsund errichtet worden war, gehörte allerdings nicht zur Ostsee. Es handelte sich um die Stadtteiche, in denen man Süßwasser anstaute, um die Menschen mit Trinkwasser zu versorgen. Drei schmale Dämme führten in die Stadt.

Anneke und Marte rannten über den Knieperdamm, an dessen Ende das Kniepertor lag. Die Kniepers waren eine von Stralsunds angesehensten Familien, ihnen zu Ehren hatte man Tor und Damm so benannt.

Die beiden Wachposten, die normalerweise darauf achtgeben sollten, dass keine Störenfriede in die Stadt kamen, hatten sich jetzt aber in ihr Wachhäuschen zurückgezogen. Die Mädchen huschten durch den hohen Torbogen und scheuchten ein paar Hühner zur Seite, die sich trotz des nahenden Unwetters auf die Straße gewagt hatten. Weiter ging es über den Alten Markt und an der Nikolaikirche vorbei.

Der Sturm folgte ihnen beharrlich wie eine Hundemeute. Überall klapperten Fensterläden, Stroh flog umher und Schweine suchten quiekend das Weite. Eine Katze drückte sich fest an das Fensterbrett eines Hauses, eine weitere duckte sich in einen Busch. Hundegebell mischte sich mit Donnergrollen.

Bei der Heilgeiststraße trennten sich die Wege der Mädchen. Marte musste in die Frankenstraße, Anneke hatte es noch etwas weiter bis in die Kiebenhieberstraße.

Nur wenige Leute waren jetzt noch unterwegs. Die meisten strebten eilig ihren Häusern zu. Hüte und Hauben hatten sie tief ins Gesicht gezogen und ihre Mäntel und Umhänge flatterten wie Banner hinter ihnen her.

Die Gegend um St. Marien war recht einfach, aber Anneke lebte gern hier. Weil sie die Tochter allein großzog, hatte ihre Mutter, Johanna Thießen, kein besonders hohes Ansehen. Die meisten Nachbarn ließen sie jedoch in Ruhe oder waren ihr sogar freundschaftlich verbunden. Natürlich gab es auch den einen oder anderen, der sie schief ansah oder dumme Bemerkungen fallen ließ, aber das kam nicht allzu häufig vor.

Anneke bewunderte ihre Mutter für ihre Eigenständigkeit, dennoch wünschte sie sich ab und zu einen Mann ins Haus, damit er mit anpacken konnte. Leider war ihr Vater schon vor ihrer Geburt gestorben.

Haus konnte man ihre Wohnstätte nicht nennen, es war vielmehr eine größere Hütte, die mit Schindeln statt mit der üblichen dicken Reetschicht gedeckt war. Da die Häuser in der Nachbarschaft alle ein wenig größer waren, entstand der Eindruck, ihr Heim würde sich zwischen ihnen ducken.

Die kleine Gartenpforte klapperte und der Apfelbaum, der sich neben dem Gebäude in den Himmel reckte, wankte bedrohlich im Wind. Anneke huschte an ihnen vorbei und betrat die Hütte.

Merkwürdige Stille schlug ihr entgegen. Der Sturm zerrte an den Fensterläden, die Schindeln auf dem Dach knackten und die Balken ächzten. Aber die gewohnten Geräusche fehlten. Normalerweise klapperte ihre Mutter um diese Zeit mit den Töpfen oder machte sich auf andere Weise bemerkbar. Selbst, wenn sie irgendwo saß und im Kerzenschein strickte, war ihre Anwesenheit spürbar.

Jetzt schien sie nicht zu Hause zu sein.

Anneke war erleichtert, denn die Schelte für ihren verlängerten Spaziergang würde so noch eine Weile ausbleiben. Dann fiel ihr aber ein, dass ihre Mutter sich um sie gesorgt haben könnte. Vielleicht war sie auf der Suche nach ihr!

Unruhe stieg in Anneke auf. Bei diesem Wetter durch die Straßen zu laufen, konnte gefährlich sein. Sie selbst hatte auf dem Heimweg ein paar Mal herabfallendem Moos und Reet ausweichen müssen. Gewiss dauerte es nicht mehr lange, bis es Schindeln und Ziegel hagelte.

Die Angst um ihre Mutter war plötzlich so übermächtig, dass sie drauf und dran war, trotz des Unwetters nach ihr zu suchen.

Doch plötzlich drang ein lang gezogenes Stöhnen an ihr Ohr.

Zunächst hörte es sich wie das Klagen des Windes an, dann erkannte sie, dass es die Stimme ihrer Mutter war.

»Anneke, bist du das?«

Der gequälte Tonfall ließ das Mädchen sofort zur Stube laufen. Ihr Herz pochte, als würde sie noch immer über den Knieperdamm rennen. Schon vor einigen Tagen hatte Anneke bemerkt, dass es ihrer Mutter wieder einmal nicht gut ging. Schweiß hatte ihr auf der Stirn gestanden, obwohl es draußen nicht warm war, und manchmal hatte sie sich hinsetzen und verschnaufen müssen, obwohl sie keine schwere Arbeit getan hatte.

Auf Annekes Frage, was ihr sei, hatte sie ausweichend geantwortet, dass es schon vorübergehen würde.

So, wie sie sich jetzt anhörte, hatte sich ihr Zustand sehr verschlechtert.

Und du hast dich mit Marte am Strand herumgetrieben, anstatt bei ihr zu sein!, meldete sich Annekes schlechtes Gewissen.

Anneke fand ihre Mutter in der Schlafstube. Voll bekleidet lag sie auf dem Bett. Ihr Gesicht war bleich, blaue Schatten hatten sich unter ihren Augen eingegraben. Auch ihre Lippen hatten eine merkwürdige Farbe angenommen. Schweiß klebte ihr dunkelblondes Haar am Kopf fest. Noch nie zuvor hatte sie so krank ausgesehen.

»Mutter, was ist dir?«, fragte Anneke, kniete sich neben das Bett und griff nach deren Hand, die wie erfroren war.

Johanna Thießen versuchte sich an einem Lächeln, dabei sprang ihre trockene Unterlippe auf und ein Blutstropfen quoll hervor. »Anneke, hol schnell den Medikus«, flüsterte sie und rang schwer nach Luft.

Das Herz des Mädchens krampfte sich angstvoll zusammen. Sie durfte nicht sterben!

Sogleich ließ sie die Hand der Mutter los und sprang auf. »Ich bin sofort zurück«, versprach sie und rannte zur Tür. Noch nie zuvor waren ihre Knie so weich gewesen wie in diesem Augenblick. Sogar ihr schlechtes Gewissen wurde zur Nebensache.



welle



Der Sturm war inzwischen noch stärker geworden und der Himmel war so finster, als würde gleich die Nacht hereinbrechen. Donner grollte und Blitze zuckten unter der tief hängenden Wolkendecke. Manche von ihnen waren gleißend weiß, andere blau oder violett.

Anneke zog ihr wollenes Schultertuch fest zusammen und beugte sich ein wenig nach vorn, damit die Böen sie nicht so hart trafen. Laub und Stroh prasselten ihr entgegen und setzten sich in ihrem Haar und auf ihrem Kleid fest.

Das erbärmliche Jaulen eines Hundes hallte gespenstisch über den Neuen Markt, den sie mit langen Schritten überquerte. In einem der Ställe in der Mönchstraße wieherten unruhig die Pferde.

So muss es sein, wenn das Jüngste Gericht über uns kommt, dachte Anneke, während sie sich bezwang, nicht ständig stehen zu bleiben und zum Himmel aufzuschauen. Der Gedanke, zu spät zu ihrer Mutter zurückzukehren, ihr keine Hilfe mehr bringen zu können, trieb sie an.

Der Weg in die Heilgeiststraße erschien ihr jetzt wie eine Reise ans andere Ende der Welt.

Der Medikus lebte in einem großen Haus mit Fachwerk, Erkern und Butzenscheiben. Die Efeuranke neben der Tür wurde vom Sturm ordentlich durchgezaust, sodass dem Mädchen junge Blätter und abgebrochene Knospen entgegenflogen.

Anneke erklomm die Treppe zur Haustür und betätigte den Türklopfer, der die Form eines Löwenkopfes hatte. Schritte näherten sich wenig später und ein Riegel wurde zurückgeschoben. Als sich die Tür öffnete, strömte Anneke der durchdringende Geruch von Arznei entgegen und brachte sie beinahe zum Husten.

Der Medikus war ein dünner Mann mit ergrautem Spitzbart und schütterem Haar. Das wenige Tageslicht spiegelte sich in seiner Halbglatze. Er öffnete die Tür einen Spalt breit und kniff die Augen zusammen, denn der Wind fegte ihm sogleich ins Gesicht.

»Was suchst du hier, Kind?«, fragte er, und es wirkte, als wollte der Sturm ihm diese Worte wieder zurück in die Kehle drücken. »Bei dem Wetter wirst du dir den Tod holen.«

»Meiner Mutter geht es nicht gut«, antwortete Anneke, die den Medikus von früheren Besuchen kannte. »Sie ist sehr schwach und hat Fieber.«

Der Mann öffnete die Tür so weit, dass sie eintreten konnte, dann sagte er: »Warte hier einen Moment. Ich hole nur schnell meine Tasche.«

Anneke schlüpfte durch den Türspalt. Das Zerren des Windes ließ augenblicklich nach, aber in ihrem Inneren tobte der Sturm weiter. Der Gedanke, dass ihre Mutter inzwischen sterben könnte, ließ sie erzittern.

Während der Medikus in den Tiefen seines Hauses verschwand, blickte sie sich um. Das Gebäude war nicht nur äußerlich prachtvoll, auch im Inneren konnte man sehen, dass der Hausherr ein gutes Salär erhielt. Es duftete nach teurem Holz und besonders die Schnitzereien an der Treppe, die in den ersten Stock führte, zogen Annekes Blick an. Die Ornamente, die Blüten und Blätter darstellten, waren sorgfältig gearbeitet. Zwischen ihnen blickten kleine Engelsgesichter auf den Betrachter herab und Schmetterlinge breiteten ihre hölzernen Flügel aus.

Etwas wehmütig dachte Anneke daran, dass sie zu Hause über eine wacklige Leiter auf den Dachboden klettern musste.

Wenig später kehrte der Medikus zurück. Gemeinsam traten sie hinaus in den Sturm.

»Offenbar haben sich heute sämtliche Himmelsmächte gegen uns verschworen«, brummte der Mann, während er sich bemühte, seinen Mantel zusammenzuhalten. Auch Anneke hatte jetzt noch mehr Mühe, der Sturmgewalt zu trotzen.

Nach einer Weile erreichten sie die Hütte. Das laute Klappern eines Fensterladens begrüßte sie.

Nachdem sie eingetreten waren, entzündete Anneke eine Kerze und geleitete den Medikus in die Schlafkammer der Mutter.

»Seid gegrüßt, Frau Thießen, was fehlt Euch denn?«, fragte er, während er seine Tasche auf dem Schemel neben dem Bett abstellte.

Die Frau blickte ihn matt an und deutete auf ihre Brust. In dem breiten Ehebett, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, wirkte sie ein wenig verloren. Als Kind hatte Anneke bei ihr geschlafen, doch seit sie zwölf war, besaß sie ihre eigene Kammer auf dem Dachboden.

Bevor er mit der Untersuchung begann, schickte der Medikus Anneke aus der Kammer. Verstohlen blickte sie durch den Türspalt und versuchte, ein paar Worte aufzuschnappen, doch der Arzt redete nicht viel.

»Am besten, du gehst morgen los und versuchst, ein paar Zutaten für eine kräftige Brühe zu bekommen«, sagte er, nachdem er die Schlafstube verlassen hatte. Anneke war schnell in die Küche gehuscht, damit es nicht so aussah, als hätte sie gelauscht. »Das Herz deiner Mutter ist so schwach, dass ich keinen Aderlass vornehmen kann. Sie braucht etwas, um zu Kräften zu kommen.«

»Und wie steht es mit einer Arznei für ihr Herz?«

»Nicht gut«, antwortete er und strich sich nachdenklich übers Kinn. »Es gibt gewisse Mittel, aber ich glaube nicht, dass sie deiner Mutter helfen würden. Wenn ihr Herz nicht von allein zu seiner Kraft zurückfindet …«

Anneke schnappte erschrocken nach Luft.

Das durfte nicht sein!

»Ich werde ihr eine Brühe kochen«, sagte sie entschlossen, als könnte sie damit die unausgesprochenen, bedrohlichen Worte vertreiben.

Als sie dem Medikus seinen Lohn geben wollte, schüttelte er den Kopf. »Lass es für heute gut sein, Kind. Pass auf deine Mutter auf. Sollte sich ihr Zustand verschlechtern, melde dich noch mal bei mir.«

Damit verschwand er im Unwetter.



welle



Die ganze Nacht wachte Anneke am Bett ihrer Mutter. Wie sollte sie bei diesem Wetter auch ein Auge zubekommen?

Draußen tobte der Sturm noch immer mit aller Macht. Den klappernden Fensterladen hatte sie inzwischen gesichert, doch die Wände und der Dachstuhl ächzten unter den Windstößen, als könnten sie ihnen nur mühsam Widerstand leisten.

Dem Gewitter, das noch immer einen Blitz nach dem anderen über den schwarzen Himmel jagte, war verspätet der Regen gefolgt. Zunächst nur ein leichtes Nieseln, jetzt prasselten dicke Tropfen auf den Strelasund nieder.

Zu allem Überfluss zeigte sich, dass das Dach der Hütte nicht mehr dicht war. Ob der heutige Sturm ein paar Schindeln abgerissen hatte, oder ob die Schäden schon länger vorhanden waren, konnte Anneke nicht mit Gewissheit sagen.

Sie starrte auf die Pfütze, die sich rasch bildete, dann ging sie in die Küche und holte ein irdenes Gefäß, das sie unter das Rinnsal stellte.

Tropf, tropf, tropf machte es stetig, doch schon bald verwandelte sich das helle Geräusch in ein tieferes Platschen, dessen Gleichförmigkeit Annekes Lider schwer werden ließen.

Einen Moment noch widerstand sie Morpheus’ Armen, doch dann konnte sie sich nicht länger wehren und schlief neben dem Bett der Mutter ein. Den Ruf des Nachtwächters, der trotz Sturm und Regen durch die Straßen ging, um Mitternacht zu verkünden, hörte sie nicht mehr.



welle



Der nächste Morgen versprach schönes Wetter. Der Sturm hatte die Wolken verjagt und einen blitzblanken dunkelblauen Himmel hinterlassen, dessen Ränder mit prächtigem Morgenrot gesäumt waren. Tauben kreisten um die Türme der drei großen Kirchen der Stadt, verfolgt von einigen Falken, deren schrilles Kreischen durch die angrenzenden Gassen hallte.

Anneke lief in aller Frühe zum Marktplatz, um Zutaten für eine kräftige Brühe einzuholen. Die unausgesprochenen Worte des Medikus verfolgten sie dabei, doch es gelang ihr, sich einzureden, dass eine gute Brühe ihrer Mutter wieder auf die Beine helfen würde.

Viel Geld hatten sie nicht mehr, aber in einem Gefäß auf dem Küchenschrank hatte sie noch ein paar Silberlinge gefunden. Dafür würde sie sicher ein Huhn bekommen, und wenn sie den Händler freundlich bat, hackte er dem Vogel vielleicht auch gleich den Kopf ab.

Die Morgenluft, die vom Hafen herüberwehte, war frisch und roch nach Seetang und Fisch. Hier und da wurde ein Fenster geöffnet und der Inhalt eines Nachttopfes ergoss sich platschend auf die Straße. Beißender Gestank breitete sich aus.

Anneke sprang rasch zur Seite und setzte ihren Weg dann fort.

Sie erinnerte sich noch gut daran, als ihre Mutter sie zum ersten Mal dorthin mitgenommen hatte, anstatt sie wie sonst bei der Nachbarin zu lassen.

Die Buden waren ihr allesamt riesig vorgekommen, bei einigen reichte sie selbst nicht mal bis zur Warenauslage.

Das hatte sich inzwischen geändert. Sie war wie Bohnenkraut in die Höhe geschossen und überragte mittlerweile so manche erwachsene Frau. Manchmal fragte sie sich, ob diese Größe von ihrem Vater kam, denn sie hatte inzwischen auch ihre Mutter überholt.

Die Glocke, die zum Morgengebet angeschlagen wurde, schickte ihren Klang weit über die Dächer der Stadt und ließ die Falken und Tauben verstummen. Sicher konnte man das Geläut auch ein Stück weit auf See hören, dort, wo die Fischer bereits mit ihrem Tagwerk begonnen hatten.

Anneke und ihre Mutter gingen zu solch früher Stunde nie in die Kirche. Sie zogen den abendlichen Gottesdienst vor, wo die Menschenmenge so dicht war, dass sie nicht weiter auffielen und der Pastor ihnen keine strafenden Blicke zuwerfen konnte.

Das tat er des Öfteren, und er hatte sogar einmal versucht, Johanna Thießen wegen Hexerei anzuklagen. Aber dieser Vorwurf war fallen gelassen worden, ganz plötzlich. Später munkelten die Leute, dass jemand ein gutes Wort für Annekes Mutter eingelegt hätte. Die argwöhnischen Blicke waren jedoch geblieben. Und obwohl sie es sich gegenüber ihrer Tochter nur selten anmerken ließ, lebte in Johanna noch immer die Angst, dass sie erneut vor den Rat gerufen werden konnte.

Der Marktplatz vor dem Stralsunder Rathaus war an diesem Morgen zwar gut besucht, aber es fehlten einige Buden. Seit sich die Kaiserlichen in diesen Landen herumtrieben und Rostock vor den Truppen kapituliert hatte, traute sich so mancher fahrende Händler nicht mehr auf den Weg hierher. Das Gerücht, dass vor Kurzem zwei Händler von Landsknechten aufgespürt und totgeschlagen worden waren, machte die Runde. Außerdem fürchtete so mancher Reiter in Kampfhandlungen zu geraten. Es war schon schlimm genug, dass man jeden Tag damit rechnen musste, dass der Krieg einem alles nahm. Dem Unglück geradewegs entgegengehen wollte niemand.

Auf dem Marktplatz versammelten sich nun vorrangig Bauern und Kaufleute aus der Umgebung. Nur wenige kamen aus Greifswald oder Strelitz und boten Stoffe und andere kleine Dinge feil. Da diese Waren ohnehin zu kostbar für Anneke waren, trat sie gleich an den Stand eines Bauern, den sie hier jede Woche sah. Auf seinem Karren, der unweit des Standes abgestellt war, türmten sich zahlreiche Käfige. In diesen grob aus Holz und Draht zusammengezimmerten Gebilden saßen Hühner. Meist mussten sich drei oder vier einen Käfig teilen, einige waren allein. Unter ihnen entdeckte Anneke ein paar stolze Hähne, die zwischendurch heiser krähten.

»Guten Morgen, Mädchen, was darf es sein?«, fragte der Bauer freundlich. Er war sehr groß und kräftig und trug eine einfache Leinentracht, die mit einem Leibgurt zusammengehalten wurde. Die Stiefel an seinen Füßen hatte er offenbar gerade erst erworben, denn ihr Leder glänzte noch.

»Ich hätte gern ein Huhn«, antwortete Anneke und deutete auf die Käfige. »Könntet Ihr ihm gleich den Kopf abschlagen? Meine Mutter ist krank und ich bringe es nicht über mich.«

Der Bauer lachte auf. »Das lernst du noch! Was wärst du für eine Hausfrau, wenn du nicht mal einem Huhn den Hals umdrehen könntest! Aber du bist ja noch jung. Such eins aus, ich schlachte es.«

Anneke trat vor die Hühnerkäfige. Manche Tiere hatten rotes Gefieder, manche weißes, einige von ihnen waren schwarz gesprenkelt. Sie blickten das Mädchen aus ihren orangefarbenen Augen an, als flehten sie um ihr Leben.

Mitleid mit den Tieren überkam sie. Anneke brachte es plötzlich nicht mehr über sich, das Todesurteil für ein bestimmtes Huhn zu fällen.

»Gebt mir bitte das da«, sagte sie und deutete auf eines der weißen Hühner. Es hatte vereinzelte schwarze Tupfen, als hätte jemand etwas Tinte auf die Federn gespritzt. »Aber lasst den Kopf lieber dran.«

Der Bauer runzelte verwundert die Stirn. »Willst du es jetzt doch selbst versuchen?«

Anneke verneinte und setzte hinzu: »Ich … ich werde es der Nachbarin bringen. Die rupft es und nimmt es auch gleich für mich aus.«

Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf. Aber er verkniff sich einen Kommentar. »Gut, wie du willst.«

Damit griff er das Huhn und zog es an den Flügeln aus dem großen Käfig. Die Henne kreischte und hörte erst auf, als sich der Deckel eines kleineren Käfigs über ihr schloss.

»Den Käfig bringst du mir aber wieder!«, setzte der Bauer hinzu.

Anneke nickte. Das Huhn stieß ein wütendes Gackern aus und versuchte, die Flügel auszubreiten, was ihm aber nicht gelang.

Nachdem sie bezahlt hatte, trug Anneke den Käfig über den Markt. Noch immer zeterte das Huhn.

»Sei froh, dass ich dir nicht gleich den Kopf habe abschlagen lassen«, sagte das Mädchen, als ihr das heisere Gackern zu viel wurde. Sie hob den Käfig auf Augenhöhe und nun verstummte das Tier. Es legte den Kopf mal nach links, dann wieder nach rechts, als hätte es die Worte verstanden. Anneke nahm den Käfig wieder herunter.

Obwohl sie eigentlich vorgehabt hatte, so schnell wie möglich zurückzukehren, blieb sie vor einem Stand stehen. Auf der Auslage türmten sich Stoffe in allen möglichen Farben. Bunte Bänder flatterten an seinen Pfosten.

Sie wünschte sich, ihrer Mutter solch ein Band mitnehmen zu können, damit sie es sich in ihre langen Haare flechten konnte. Vielleicht würde sie das mehr aufmuntern als das Huhn …

»Anneke!«, rief plötzlich eine Stimme, und als sie sich umwandte, erblickte sie Marte. Sie trug einen Korb mit Kohl und Pastinaken. Offenbar hatte ihre Mutter sie zum Einkaufen geschickt.

»Was willst du mit dem Huhn?«, fragte sie und deutete auf den Käfig.

»Eine Hühnerbrühe für meine Mutter kochen!«, antwortete Anneke, worauf das Tier einen klagenden Laut ausstieß, als könnte es seine Besitzerin verstehen. »Sie ist krank und der Medikus meinte, dass sie Stärkung benötige.«

»Aber sollte es dann nicht besser kopflos sein?«

Auf diese Worte stieß die Henne ein erschrockenes »Gack« aus, fast so, als hätte sie Marte verstanden.

»Hühnerköpfe sind das Beste!«, behauptete Anneke, denn sie wollte nicht zugeben, dass sie sich gescheut hatte, das Tier töten zu lassen.

»Aber nicht, wenn man sie dran lässt«, entgegnete Marte. »Mein Vater hat neulich ein Huhn mit seinem Schwert geköpft. Das ging so schnell, dass es gar nicht gemerkt hat, kopflos zu sein. Es sprang auf und lief noch einige Ellen weit über den Hof. Kopflos!«

Anneke sah sie ungläubig an. »Und wie soll das gehen?«

»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Marte. »Aber du kennst doch sicher auch die Geschichte vom Störtebeker.«

Ja, die kannte Anneke. Klaus Störtebeker war ein Seeräuber, der vor vielen hundert Jahren die Ostsee unsicher gemacht haben sollte. Als man ihn und seine Bande schließlich fing und hinrichten wollte, erbat er vom Gericht, alle seiner Leute freizulassen, an denen er kopflos vorübergehen konnte. Die Richter ließen sich darauf ein, glaubten sie doch nicht, dass ihm das gelingen würde. Der Henker schlug ihm den Kopf ab, und tatsächlich stand Störtebeker auf und ging an insgesamt zehn Männern vorbei, bevor man ihn mit einem Holzklotz zu Fall brachte.

Plötzlich tönte eine Stimme über die Köpfe der Umstehenden hinweg.

»Marte, wo steckst du nur?«

Anneke sah sie zwar nicht, wusste aber, dass es Martes Mutter war. Offenbar war ihre Freundin zum Korbtragen angestellt worden.

»Ich muss los«, sagte Marte bedauernd. »Treffen wir uns heute Nachmittag am Strand?«

»Ich weiß noch nicht«, seufzte Anneke schweren Herzens.

»Wenn es nicht geht, komme ich zu dir! Deine Mutter freut sich bestimmt über Besuch.«

Anneke nickte. Ihre Mutter mochte Marte. Vielleicht würde ihr Besuch sie etwas aufheitern.

»Also, wir sehen uns!«, rief Marte ihr zu und verschwand in der Menschenmenge.

Nachdem Anneke noch einen sehnsuchtsvollen Blick auf den Stand mit den bunten Bändern geworfen hatte, verließ auch sie den Marktplatz.



welle



Als Anneke die Gartenpforte ihrer Hütte erreicht hatte, kam ihr die Nachbarin entgegen. Sie war eine der Frauen, mit denen ihre Mutter des Öfteren einen Schwatz hielt und die sich nicht darum kümmerte, ob es einen Mann im Haus gab oder nicht.

Magda Fehrmann war eine robuste und lebensfrohe Frau. Stets lag auf ihren Wangen ein gesundes Rot, stets waren ihre Kleider, obwohl einfach, sauber und ordentlich. Ihr braunes Haar war schon von einigen Silberfäden durchzogen, dennoch strahlten ihre grün gesprenkelten Augen wie die eines jungen Mädchens. Seit einigen Jahren war sie Witwe, dachte aber nicht daran, wieder zu heiraten. Das hatte sie mit Johanna Thießen gemein.

In diesem Augenblick verschwamm die Farbe ihrer Augen jedoch unter Tränen und ihre Wangen glühten regelrecht. Schluchzend drückte sie sich den Schürzenzipfel in die Augen und sagte: »Sei tapfer, Anneke.«

Diese Worte genügten, um Arme und Beine des Mädchens schlagartig kalt werden zu lassen. Ihr Herz begann zu flattern wie ein angstvoller Vogel und ihre Kehle schnürte sich zu, dass sie die Frage, die durch ihren Kopf schoss, nicht aussprechen konnte.

Dennoch gab Magda ihr sogleich die Antwort. »Gott hat deine Mutter zu sich geholt.«

Früher, besonders dann, wenn ihre Mutter krank war, hatte sich Anneke zuweilen ausgemalt, wie sie auf solch eine Nachricht reagieren würde. Es überraschte sie, dass sie in diesem Augenblick erstarrte, anstatt sich kreischend zu Boden zu werfen. Gewiss lag es daran, dass sie nicht glauben wollte, was sie da hörte.

Sie war nicht mehr als eine Stunde weg gewesen! Ihre Mutter konnte doch in der kurzen Zeit nicht gestorben sein! Zumal ihre Wangen heute morgen, als sie nach ihr gesehen hatte, sogar einen rosigen Schein gehabt hatten. Oder hatte die Morgensonne ihrem müden Verstand etwas vorgegaukelt?

»Ich will sie sehen!«, rief sie und wie von einer unsichtbaren Hand angestoßen stürmte sie mit dem Hühnerkäfig ins Haus. Vielleicht hat sich die Nachbarin getäuscht, dröhnte es durch ihren Verstand. Es war doch möglich, dass sie nicht richtig hingeschaut hatte.

In der Schlafkammer angekommen stellte sie den Käfig neben der Tür ab und stürzte zum Bett. Ihre Mutter lag auf den schweißdurchnässten Kissen, ihr Haar klebte an ihrer Stirn und ihren Wangen. Da sie schon zuvor sehr blass gewesen war, wirkte sie, als würde sie nur schlafen. Einziges Zeichen, dass ihre Seele in den Himmel gefahren war, waren die fehlenden Atemzüge.

»Mutter?«, fragte Anneke und fasste sie bei den Schultern. »Mutter, wach auf. Du kannst nicht sterben! Das darfst du einfach nicht.«

Der Körper ihrer Mutter, obgleich noch beweglich, war ohne Leben, das wurde Anneke nach einigen Momenten schmerzhaft bewusst. Sie hob ihren Oberkörper ein wenig an und barg ihr Gesicht an der lauwarmen Wange und nun rollte eine Träne aus ihrem linken Auge.

»Dein Herz weint, wenn die erste Träne aus dem linken Auge fällt«, hatte ihre Mutter immer gesagt. Jetzt weinte ihr Herz wirklich und der Schmerz war stärker als alles, was sie zuvor gefühlt hatte.

Ihre Mutter erwachte nicht mehr. Anneke legte ihren Oberkörper wieder auf das Bett zurück.

Erst jetzt merkte sie, dass Magda ihr gefolgt war.

»Ich wollte nach ihr sehen«, erklärte sie. »Als sich auf meinen Ruf hin nichts rührte und ich sie auch nicht auf dem Hof fand, bin ich ins Haus gegangen …«

Anneke strich über die bläulichen Lippen und die kalten Wangen der Toten. Die Traurigkeit wütete in ihrer Brust. Noch eine Stunde, ein Tag, ein Jahr, kam ihr der Gedanke vom Markt wieder in den Sinn. Warum hatte Gott ihr das nicht gewährt?

»Ich gebe der Totenwäscherin Bescheid«, hörte sie Magda sagen, und obwohl sie dicht hinter ihr stand, hörte sich ihre Stimme an, als käme sie aus weiter Ferne. »Und ich bringe auch die anderen Frauen mit. Sie werden sich um sie kümmern.«

Die Frau ging und Anneke sank neben dem Bett zu Boden. Das Gesicht ihrer Mutter verschwand hinter einem Tränenschleier.

Während sie so dasaß und weinte, wurde alles um sie herum bedeutungslos. Sie hörte nicht einmal, dass ihre Nachbarin mit den anderen Frauen das Haus betrat.

»Lass uns unsere Arbeit machen, Anneke.« Magda Fehrmann legte ihr die Hand auf die Schulter. Das Mädchen nickte und erhob sich dann, um vom Bett zurückzutreten.

Die Totenfrau, die an ihr vorüberging, war ein altes, zahnloses Weib in schwarzen Kleidern. Sie würdigte Anneke keines Blickes, und darüber war diese auch froh, denn allein ihr Anblick und der seltsame Geruch, der sie umgab, ließen sie erschauern.

Einige hielten sie für eine Hexe, andere meinten, dass sie, nachdem ihr Mann gestorben war, den Tod gefreit hätte, damit sie jene, die er holte, nicht gar so schrecklich aussehen ließ. Es hieß, dass die Totenfrau in der Lage war, jeglichen Schrecken, den der Gevatter auf dem Gesicht des Toten hinterlassen hatte, mildern oder verschwinden lassen könne. Gleichwohl war sie diejenige, die sicherstellen musste, dass die Seele den Leib verlassen hatte und nicht darin gefangen war.

Mit einer langen Nadel pflegte sie in die Fußsohlen der Toten zu stechen, damit sie nicht aus Versehen lebendig ins Grab wanderten.

Als Anneke das Metallstück aufblitzen sah, wandte sie sich ab. Sie konnte nicht zusehen. Unter den mitleidigen Blicken der anderen Frauen, die der Totenfrau gefolgt waren, rannte sie aus dem Haus und schließlich in Richtung Meer.

Der Strand war mit angeschwemmtem Seetang und Muscheln bedeckt, die unter ihren Schuhen knirschten, als sie darüber schritt. Anneke fragte sich, ob sie es fühlen könnte, wenn sich die scharfkantigen Muschelschalen in ihre nackten Füße graben würden. Wahrscheinlich würde sie es gar nicht merken.

An der Stelle, an der sie immer Marte traf, ließ sie sich in den Sand fallen und begann hemmungslos zu weinen. Der Wind umfing sie dabei und die Wellen rauschten, als wollten sie sie beruhigen. Möwen kreisten über ihr und stießen ein paar schrille Rufe aus, doch Anneke bekam es nicht mit.

Erst als jemand gegen ihre Schulter tippte, blickte sie auf. Marte stand hinter ihr. Durch das Tosen der Wellen hatte sie sie nicht kommen gehört.

»Ich war bei deinem Haus, aber da sagte man mir, dass du gerade fortgelaufen wärst«, erklärte sie. »Ich dachte mir, dass du hierher kommen würdest.«

»Meine Mutter ist gestorben«, antwortete Anneke mit rauer Stimme. »Kurz nachdem wir uns auf dem Markt getroffen haben.«

Marte sagte darauf nichts. Sie legte nur ihren Arm um Anneke.

Schweigend blickten beide Mädchen auf die See hinaus. Ein Segel tauchte diesmal nicht auf.

»Du kannst zu uns kommen, wenn du möchtest«, sagte Marte schließlich.

Anneke reagierte nicht. Sie blickte auf das Meer, sah es aber nicht mehr. Stattdessen hatte sie das Bild ihrer Mutter vor sich und begann sich zu fragen, ob dies nicht nur ein böser Traum war, aus dem sie erwachen konnte, wenn sie sich nur fest genug in den Handrücken kniff.

»Vater hat sicher nichts dagegen und Mutter freut sich über jedes weitere Kind«, fuhr Marte fort und diesmal erreichten ihre Worte den Verstand ihrer Freundin.

»Danke, aber ich werde erst mal versuchen, allein zurechtzukommen«, entgegnete Anneke und ihre Stimme fühlte sich an wie ein Kloß, der sich in ihrer Kehle drehte. »Ich muss mich um die Hütte kümmern, immerhin gehörte sie meiner Mutter. Sie würde nicht wollen, dass sie verfällt oder andere Leute dort einziehen.«

Marte wollte schon sagen, dass sie die Hütte behalten und trotzdem zu ihnen ziehen konnte. Aber sie sprach es nicht aus. Sie wusste, dass ihre Freundin nicht darauf eingehen würde, um das Andenken und Erbe der Mutter zu ehren.

Also schwieg sie und hielt sie weiterhin in ihrem Arm, während Anneke nun wieder begann, leise vor sich hin zu weinen.



welle



Als Anneke am späten Nachmittag zur Hütte zurückkehrte, waren die Totenfrau und ihre Helferinnen verschwunden. Nur die Nachbarin war noch da. Sie saß am Küchentisch und strickte. Was aus dem grauen Wollgebilde an ihren großen Nadeln werden sollte, war allerdings nicht zu erkennen.

»Ah, da bist du ja wieder«, sagte sie, als Anneke durch die Tür trat. »Ich habe auf dich gewartet. Warst bei Marte, stimmt’s? Die hat jedenfalls nach dir gefragt.«

Anneke nickte der Einfachheit halber. Zu erklären, dass Marte sie am Strand gefunden hatte, war ihr zu umständlich.

»Nun, dann kann ich wohl wieder gehen«, sagte Magda Fehrmann dann und erhob sich. Nadeln und Wolle wanderten in den Korb, der neben dem Tisch stand. »Deine Mutter ist versorgt, morgen früh kommen die Totengräber. Achte ja auf die Kerzen, damit dein Haus nicht niederbrennt. Ich habe zwischendurch immer wieder nach ihnen geschaut.«

»Dein Haus.« Anneke erschien das seltsam. Und sie wusste auch nicht, wie sie die Totenwache halten sollte.

»Wenn du möchtest, kannst du heute Abend zu mir kommen«, sagte die Frau, als sie zur Tür ging. »Warme Grütze und Brot habe ich immer für dich. Und wenn du mir das Huhn da bringst, bereite ich es dir zu.«

Das Huhn! Sie hatte es ganz vergessen. Der Käfig stand noch immer neben der Feuerstelle, das Huhn selbst hatte sich hingehockt, als wollte es ein Ei legen.

»Ich danke Euch«, sagte Anneke, auch wenn sie sicher war, dass sie das Angebot der Nachbarin nicht annehmen würde. Sie könnte sicher keinen einzigen Bissen hinunterbekommen, denn ihr Magen kam ihr wie zugeschnürt vor.

Die Nachbarin verharrte noch einen Moment lang auf der Schwelle, als könnte sie sich nicht entschließen hinauszugehen. Dann gab sie sich einen Ruck und wenig später fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Anneke starrte ihr einen Moment lang nach, dann ging sie zu dem Huhn. Es stieß ein lang gezogenes Klagen aus, fast so, als fürchte es, dass Anneke es jetzt schlachten wollte.

»Keine Sorge, ich schlachte dich nicht«, sagte das Mädchen und tippte gegen den Käfig des Tiers. »Es hat jetzt keinen Zweck mehr.«

Die Henne gackerte trotzdem. Offenbar hatte sie Hunger.

Anneke erinnerte sich, dass sie noch etwas Korn auf dem Dachboden hatten, also verließ sie die Küche und ging nach oben. Als sie mit einer Schürzentasche voller Weizen zurückkehrte, blieb sie, ohne dass es ihr bewusst war, an der Tür der Schlafkammer stehen. Die Kerzen dort brannten ruhig und legten einen warmen Schein auf die Gestalt, die auf dem Bett lag. Ihre Mutter trug ein weißes Hemd. Unter die starren Hände hatten die Frauen ihr ein Sträußlein Krokusse gelegt.

Anneke wurde schlagartig klar, dass sie es nicht über sich bringen würde, in der Nacht neben dem Bett Wache zu halten. Ihre Mutter wirkte wie eine Puppe aus Wachs. Sie ansehen zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu, sodass sie glaubte, ersticken zu müssen.

Sie kehrte in die Küche zurück und streute der Henne ein paar Körner in den Käfig und stellte ihr eine Schale Wasser hin. Darauf schien diese nur gewartet zu haben, denn sie machte sich sogleich gierig darüber her.

Anneke hockte sich daneben, und während sie beobachtete, wie Korn um Korn in dem gelben Schnabel verschwand, hoffte sie, dass die Seele ihrer Mutter noch irgendwo war und sie beschützte.



welle



Lautes Gackern holte Anneke aus dem Schlaf. Sie musste neben dem Herd eingenickt sein. Der Geruch nach verkohltem Holz und Asche drang in ihre Nase und ließ den Schreck durch ihre Glieder fahren.

Die Kerzen!

Augenblicklich sprang sie auf und stürmte in die Schlafkammer ihrer Mutter. Glücklicherweise waren die Kerzen erloschen. Das flüssige Wachs hatte die Flammen erstickt und war auf den Boden getropft.

Nachdem sie erleichtert aufgeatmet hatte, erfasste sie erneut Beklommenheit. Ihre Mutter hatte sich über Nacht verändert. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Augen in die Höhlen gesunken. Sie wirkte jetzt wie eine alte Frau. Von der Kunst der Totenfrau war nicht mehr viel zu sehen.

Als sie sich dem Bett nähern wollte, wurden draußen Stimmen laut. Nur einen Atemzug später hämmerte jemand gegen die Tür.

»Anneke, bist du da?«

Das Mädchen lief zur Tür.

Bei den morgendlichen Besuchern handelte es sich um den Tischler und die Sargträger. Sie trugen ihre besten Wämse und zogen sich die Hüte vom Kopf, als sie das Mädchen erblickten. Auf den ersten Blick hätte man sie für wohlhabende Bürger halten können, doch diese Männer gehörten den unehrlichen Berufsständen an. Sie arbeiteten als Ratsdiener, Gerber oder Schäfer. Eine alleinstehende und arme Frau wie ihre Mutter konnte nicht erwarten, von angesehenen Zunftleuten zu Grabe getragen zu werden.

»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte der Pastor, der mit dem Gebetbuch unterm Arm als Letzter durch die Gartenpforte trat. Anneke hätte eigentlich darauf »In Ewigkeit, Amen« antworten sollen, aber ihre Augen blieben an dem Sarg hängen, den die Männer auf dem Weg abgestellt hatten. Es war eine einfache Kiste aus Fichtenbrettern. Das Holz roch, als sei es gerade erst zurechtgesägt worden.

Anneke trat beiseite und ließ die Männer ihre Arbeit verrichten. Der Pastor wandte sich derweil an sie: »Es tut mir leid um deine Mutter, Anneke.«

Tut es nicht, dachte sie, als sie ihn ansah. Er dachte wohl, seine Worte trösteten sie, und fuhr fort: »Aber sei gewiss, deine Mutter wandelt unter den goldenen Toren Jerusalems und sitzt zur Rechten Gottes.«

Auch das meinte er nicht ehrlich. Nur allzu oft hatte der Pastor gegen Frauen, die in vermeintlicher Schande lebten und Bastarde gebaren, gewettert.

Anneke zuckte zusammen, als die Sargträger in der Schlafkammer begannen, die Nägel ins Holz zu schlagen.

Immerhin brachte das Hämmern den Pastor dazu, mit seiner nutzlosen Trostrede aufzuhören. Das Huhn im Käfig protestierte ein paar Mal gegen den Krach, verstummte dann aber und plusterte sich voller Unbehagen auf.

Nachdem sie ihre Arbeit beendet hatten, trugen die Männer den Sarg aus dem Haus.

Anneke war noch nie bei einem Begräbnis gewesen, aber sie wusste, dass auf dem Kirchhof bereits eine Grube wartete. Dieser Gedanke ließ sie aufschluchzen und nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr halten. Weinend folgte sie den Männern und dem Pastor durch die Straßen.

Es waren nicht viele Menschen, die sich dem Trauerzug anschlossen. Marte erschien mit ihrem Vater. Ihre Mutter war zu Hause geblieben, weil sie auf die kleinen Geschwister achtgeben musste. Außerdem kamen die Frauen, die bei ihrer Mutter die Totenwache gehalten hatten, und Magda Fehrmann.

Am Kirchhof von St. Martin machte der Zug halt.

Der massige Turm ragte so hoch in den Himmel, dass man glauben konnte, seine Spitze würde an den Wolken kratzen. Ja, es hieß gar, dass er das höchste Gebäude der Welt sei.

Der Anblick übte immer eine gewisse Faszination auf Anneke aus, doch trösten konnte er sie in diesem Augenblick nicht.

Auf ein Zeichen, das der Pastor dem Küster gegeben hatte, wurden die Glocken angeschlagen. Ihr unvermittelter Klang scheuchte ein paar Tauben aus dem Kirchturm, die gurrend über den Friedhof hinwegflatterten. Anneke fragte sich, ob die Seele ihrer Mutter mit ihnen flog.

Der Pastor las jetzt einen Psalm vor, doch die Worte drangen nicht bis in Annekes Verstand vor. Etwas irritierte sie und sie blickte kurz zur Seite. Durch den Tränenschleier erkannte sie eine Gestalt, die ihr fremd erschien.

Es war ein schwarz gekleideter Mann, der sich gerade den Hut vom Kopf zog und in ihre Richtung sah. Hatte sie seinen Blick gespürt? Sie war nicht sicher, ob sie ihn hier schon einmal gesehen hatte. In Stralsund lebten viele Menschen und die Gesichter jener, mit denen sie nicht häufiger zu tun hatte, blieben kaum in ihrer Erinnerung haften.

War er jemand, den ihre Mutter gekannt hatte? Er wirkte jedenfalls nicht so, als sei er bloß zufällig vorbeigekommen. Dann wäre er sicher bald weitergegangen. Doch das tat er nicht. Er musterte die Trauergemeinde mit ernster Miene, und als er Annekes Blick bemerkte, nickte er ihr kurz zu.

Das Mädchen wandte den Blick verwirrt wieder ab. Warum grüßte er sie? Wer war er und was wollte er hier?

Nach der Aussegnung wurde der Sarg in die Grube gelassen. Anneke warf ihm drei Handvoll Sand hinterher und ihre Tränen tropften in die Grube. Dann trat sie zurück.

Gemeinsam sprachen sie nun das Vaterunser, dann war die Beerdigung schon vorüber und die Totengräber konnten sich ans Werk machen.

»Hast du den Mann gesehen?«, fragte Anneke ihre Freundin Marte, als sich der Trauerzug wieder dem Tor des Kirchhofes näherte.

Diese blickte sie erstaunt an. »Welchen meinst du?«

»Na den, der etwas abseits gestanden hat. Den Mann mit dem Federhut.«

Marte zog die Augenbrauen zusammen und überlegte. »Nein, den habe ich nicht gesehen.«

»Er stand dort an der Seite.« Anneke deutete auf die Stelle, die nun verwaist war. »Er trug schwarze Kleider und die Feder an seinem Hut war schneeweiß. Aus irgendeinem Grund wollte er wohl nicht näherkommen.«

»Und wo ist er jetzt?« Marte reckte suchend den Hals. Doch auch sie konnte den Mann nicht mehr entdecken.

»Ich weiß es nicht«, gab Anneke zurück und zog fröstelnd ihr grobes Schultertuch zusammen. Das unvermutete Auftauchen dieses fremden Mannes beunruhigte sie.

»Vielleicht war da nur jemand neugierig«, winkte Marte ab.

Doch Anneke glaubte das nicht. Der Mann hatte nicht so gewirkt, als wollte er bei der Beerdigung einer Unbekannten zusehen. Hatte ihre Mutter vielleicht Schulden bei ihm?

Schließlich löste sich die Trauergemeinde auf. Der Pastor sagte ein paar tröstende Worte zu ihr, aber Anneke hörte nur halbherzig hin. Nichts, was er sagte, konnte die Trauer in ihrem Herzen lindern.

Als er fort war, nahm Marte sie schweigend in den Arm.