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Gerhard Siegl

Bergbauern im Nationalsozialismus

Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte

herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck

Band 28

Gerhard Siegl

Bergbauern im Nationalsozialismus

Die Berglandwirtschaft zwischen Agrarideologie und Kriegswirtschaft

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© 2013 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

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ISBN 978-3-7065-5725-2

Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder

Registererstellung durch den Autor

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Für Judith, Miriam und Natalja

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

1.a. Einbettung der NS-Zeit in die Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts

1.b. Nationalsozialismus und österreichische Geschichtsschreibung

2. Forschungsstand

2.a. Die NS-Agrarpolitik im österreichischen Wissenschaftsdiskurs

2.b. Die jüngere österreichische Agrargeschichtsschreibung

2.c. Zusammenfassende Bewertung

3. Strukturelle Bedingungen der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert

3.a. Veränderungen nach der NS-Machtergreifung im März 1938

3.b. Die Schaffung der Berglandabteilung

3.c. Biografische Skizze zu Anton Reinthaller

3.d. Agrarstatistik

4. Die Vereinnahmung der Landwirtschaft durch die „Blut-und-Boden“-Ideologie

4.a. Biografische Skizze zu Richard Walther Darré

4.b. Der nationalsozialistische Bergbauernbegriff und der „rassische Wert“ der österreichischen Bergbauern

4.c. Auswirkungen der NS-(Agrar-)Ideologie auf Juden in der Landwirtschaft

4.d. Hermann Wopfners Entgegnung auf Hans F. K. Günther

5. Sozialversicherung und neue Sozialleistungen

5.a. Sozialversicherung

5.b. Einführung neuer Sozialleistungen

6. Entschuldung und Aufbau

6.a. Die landwirtschaftliche Entschuldung in Deutschland

6.b. Die Erbhofentschuldung in Deutschland

6.c. Verschuldung der österreichischen Landwirtschaft

6.d. Entschuldungsmaßnahmen

6.e. Die NS-Entschuldungs- und Aufbauaktion auf ehemals österreichischem Gebiet

6.f. Die Entschuldungs- und Aufbauaktion nach 1945

7. Gemeinschaftsaufbau im Bergland

7.a. Auswahl der Aufbaugemeinden

7.b. Durchführung des Gemeinschaftsaufbaus

7.c. Finanzierung

7.d. Fallbeispiele

7.e. Biografische Skizze zu Fritz Fahringer

7.f. Der Gemeinschaftsaufbau im Bergland als Probegalopp für die „Dorfaufrüstung“

7.g. Der Gemeinschaftsaufbau nach dem Ende des Nationalsozialismus

7.h. Bewertung

8. Resümee

9. Anhang

9.a. Abkürzungen

9.b. Quellen

9.c. Literatur

9.d. Register

Vorwort

Kaum ein Zeitraum dürfte so intensiv geschichtswissenschaftlich beforscht sein wie die Zeit des Nationalsozialismus. Unablässig erscheinen neue Publikationen, die sich mit Teilaspekten der NS-Herrschaft beschäftigen. Dennoch lassen sich innerhalb dieser kurzen Geschichtsepoche, die in Deutschland zwölf Jahre (1933 bis 1945) und in Österreich sieben Jahre (1938 bis 1945) dauerte, immer wieder Arbeitsbereiche aufspüren, die bislang nicht oder nur am Rand behandelt wurden. Die Berglandwirtschaft gehört zu diesen Desiderata. Sie spielte bislang weder in der Erforschung der NS-Zeit im Allgemeinen noch in der NS-Agrargeschichte im Besonderen eine Rolle. Dies mag daran liegen, dass die Berglandwirtschaft schon von den Zeitgenossen nicht als deutsches, sondern als vergleichsweise kleines „österreichisches Problem“ interpretiert wurde, das mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 sozusagen „importiert“ wurde. Es ist daher nachvollziehbar, dass sich die Geschichtswissenschaft kaum mit der Tatsache auseinandergesetzt hat, dass Deutschland für wenige Jahre ein Berglandgebiet von beachtlichem Ausmaß verwaltete. Mit diesem Buch soll diese Lücke geschlossen werden.

Die diesem Band zugrunde liegende Arbeit wurde im Jahr 2011 an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck als geschichtswissenschaftliche Dissertation approbiert. Durch Hinweise kamen seither Archivfunde ans Tageslicht, die eine Überarbeitung der ursprünglichen Fassung erforderlich machte. Neben einer Ausweitung des Inhalts erfuhr die Arbeit aber auch Kürzungen, etwa im Dokumentenanhang.

Die Umsetzung eines Buchprojekts ist selten das Verdienst des Autors allein. Deshalb möchte ich mich zunächst bei den Personen und Einrichtungen bedanken, die zur Realisierung beigetragen haben. Dazu gehören an erster Stelle mein langjähriger Betreuer und Erstgutachter der Dissertation, Prof. Dr. Franz Mathis, sowie der Zweitgutachter assoz. Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow. Auch die Universität Innsbruck hat durch die Gewährung eines Auslandsstipendiums für die Forschung in den Berliner Archiven sowie die freie Nutzung ihrer (Bibliotheks-) Ressourcen ihren Anteil am Entstehen dieses Bandes geleistet. Staatliche wie private Archive und Bibliotheken in Österreich und Deutschland haben für diese Arbeit Materialien bereitgestellt und Abdruckbewilligungen erteilt. Mein Dank gilt weiters dem Institut für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck, das die Buchreihe „Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte“ herausgibt und das Bergbauernthema in die Reihe aufgenommen hat. Die Bundesländer Tirol, Oberösterreich, Salzburg und Vorarlberg, die Landwirtschaftskammer Österreich, die Landwirtschaftskammer Tirol und die Universität Innsbruck haben die Drucklegung finanziell unterstützt. Ohne ihre Hilfe wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Unentbehrlich für die technische Umsetzung ist natürlich der Verlag, dessen umsichtige Betreuung wesentlich zum Gelingen beigetragen hat. Einigen Personen schulde ich für Hinweise und andere Hilfestellungen Dank – sie werden an der entsprechenden Stelle namentlich genannt. Nicht zuletzt gehört mein Dank meiner Familie, die mich in allen Belangen stets auf das Beste unterstützt.

Innsbruck, im Sommer 2013

Gerhard Siegl

1. Einleitung

„Deutschland mit oder ohne Bergbauern?“, diese Frage stellte Anton Reinthaller im Jahr 1944, zu dieser Zeit Unterstaatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Landesbauernführer in Niederdonau und Leiter der Berglandabteilung. Seine Frage war die Überschrift für einen Aufsatz in der Zeitschrift „Deutsche Agrarpolitik“, die vom Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, Herbert Backe, herausgegeben wurde. Backe bat Reinthaller durch einen Beamten des Reichsamts für das Landvolk, einen Beitrag über „die biologische Bedeutung des Bergbauerntums“ zu verfassen.1 Das kommende Heft der Zeitschrift sollte „revolutionäre Forderungen erheben“ und die Bergbauernfrage als „Menschenproblem ersten Ranges“ ansprechen. Für das Schreiben des Manuskripts in der Länge von vier bis sechs Seiten wurden Reinthaller zwei Monate Zeit gewährt. Sein offensichtlich rechtzeitig eingelangter Text von sechseinhalb Seiten Länge mit dem oben genannten Titel wurde für den Druck jedoch deutlich verkürzt und sprachlich stark verändert. In der Maiausgabe 1944 erschien Reinthallers Beitrag dann auch unter einer anderen Überschrift: „Bauern auf kargen Böden“.2 Ob die vorgenommenen Modifikationen mit Reinthaller besprochen wurden, ist nicht überliefert. Die konkreten Änderungen interessieren hier wenig – das Manuskript wurde von Zahlenmaterial und Details befreit, es wurde pathetischer formuliert und mit mehr Imperativen versetzt. Da wie dort jedoch führte Reinthallers Grundsatzfrage zu einer positiven Antwort im Sinne der Bergbauern: Der Nationalsozialismus brauche die Bergbauern erstens aus ökonomischer Sicht, weil sie einerseits großes und durch steigende Marktleistung bereits bewiesenes Steigerungspotential in der Milch- und Viehwirtschaft besäßen und andererseits, weil die Produkte der Berglandwirtschaft angeblich eine „qualitativ höhere Wertigkeit“ hervorgebracht hätten als jene der Landwirtschaft im Flachland. Zweitens wäre die Berglandwirtschaft auch durch ihre „biologische Leistung“, also aufgrund des den Bergbauernfamilien nachgesagten angeblichen Kinderreichtums, wertvoll für das Deutsche Reich. Damit seien die Unterstützungsleistungen des Reichs an die Bergbauern gerechtfertigt, denn sie wären, wie der unbekannte Überarbeiter von Reinthallers Beitrag formulierte, die „besten Blutspender der Nation“ und ein „nicht unbeachtliche[r] Wirtschaftsfaktor“ – und somit „ein nationales Heiligtum“!3

Wenige Jahre zuvor – kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich – wurde der „Bergbauer“ noch als „nicht zu übersehendes“ „österreichisches Problem“ bezeichnet.4 Wie der Autor ausführte, wären die Almflächen „zum größten Teil in schlechter Verfassung“, manche bergbäuerliche Arbeiten „oft mit Lebensgefahr verbunden“, sei die Verschuldung der Betriebe stark und das Getreide stehe oft im Schnee oder müsse grün geerntet werden. Die Problemlage der Berglandwirtschaft wurde auf die allgemeine Krise der Landwirtschaft seit Mitte der 1920er Jahre, aber auch auf die österreichische „Systemzeit“ zurückgeführt, denn die österreichische Verwaltung der 1930er Jahre habe es laut reichsdeutscher Diktion verabsäumt, die Bergbauernwirtschaft besser zu unterstützen.5 Erst mit dem „Anschluss“ Österreichs sei das „Bergbauernproblem“ für das Deutsche Reich „akut“ geworden.6

Der Weg vom „österreichischen Problem“ zum „nationalen Heiligtum“ war dann doch überraschend kurz. Kritische Stimmen in Berlin, die meinten, eine Förderung der österreichischen Berglandwirtschaft wäre unwirtschaftlich, setzten sich nicht durch und verstummten noch im Jahr der Machtübernahme. Die „Blut-und-Boden“-Proponenten fanden mit ihrer rassisch aufgeladenen Argumentation für die Erhaltung der Berglandwirtschaft vor allem in der NSDAP Gehör und es gelang ihnen, größere Summen zur finanziellen Förderung der Bergbauern zu lukrieren. Aber auch die Ideologen konnten ihre Pläne nicht vollständig zur Ausführung bringen. Denn die Kriegswirtschaft und -lage schuf schließlich Fakten, die von niemandem übergangen werden konnten. Und so war die Berglandwirtschaft während der NS-Zeit von der Kriegswirtschaft auf der einen und der „Blut-und-Boden“-Ideologie auf der anderen Seite geprägt und gleichzeitig zwischen diesen beiden Polen hin- und hergerissen. Wie diese Aussage im Detail zu verstehen ist, möchte dieser Band unter anderem darlegen.

Das primäre Anliegen dieser Arbeit ist es, den Zeitabschnitt des Nationalsozialismus in Österreich von März 1938 bis Mai 1945 mit speziellem Augenmerk auf die in der Berglandwirtschaft tätigen Menschen zu rekonstruieren und zu interpretieren. Diese kurze Epoche hat eine Unzahl von Veränderungen und Neuerungen, auch für die alpine Landwirtschaft, hervorgebracht. Der Nationalsozialismus wollte in alle Bereiche des Lebens eindringen und setzte den gesamten Staatsapparat wie auch die Bevölkerung für die Erreichung seiner ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Ziele in Bewegung. Die Auflösung oder Gleichschaltung alter Strukturen und die Etablierung des Führerprinzips auf allen Ebenen wurde von der Einführung neuer, reichsdeutscher Strukturen und Gesetze begleitet.

Die Landwirtschaft gehörte zu den ersten Bereichen, die unmittelbar von der neuen Gesetzgebungswelle betroffen waren. Mit dem Reichsnährstand und der Marktordnung wurden die straff organisierten reichsdeutschen Agrarstrukturen schon bald nach der Machtübernahme eingeführt. Gleichzeitig partizipierte die nunmehr „ostmärkische“ Landwirtschaft an staatlichen Fördergeldern, die es unter österreichischer Verwaltung nicht oder nur in Form von nicht ausreichend dotierten Unterstützungsleistungen gegeben hatte. Die wirtschaftliche Komponente machte aber nur einen Teil der Veränderungen aus. Auch sozialpolitisch kam mit der Erweiterung sozialversicherungsrechtlicher Bestimmungen und der Einführung von Sozialleistungen einiges Neues für die Bewohner des alpinen ländlichen Raumes. Im Bereich der fiskalischen Neuerungen war beispielsweise die Einführung des Einheitswertsystems für die Landwirtschaft von Bedeutung. Alle Veränderungen bzw. Neuerungen zu nennen und zu behandeln, wäre unmöglich. Die Auswahl der zu bearbeitenden Themen war daher von zwei Faktoren abhängig: Zum einen von der Relevanz in der zeitgenössischen landwirtschaftlichen Praxis, zum anderen vom Grad der Nichtbeachtung durch die bisherige Forschung. Aus diesem Grund findet beispielsweise die für die landwirtschaftliche Praxis zwar wichtige, aber sehr gut erforschte Marktordnung mit ihren weiter reichenden Zusatzfragen nach den Anpassungsstrategien und Handlungsspielräumen der betroffenen Akteure hier wenig Erwähnung, ebenso wird das Reichserbhofgesetz nur gestreift. Breiten Raum nehmen hingegen jene Aktivitäten des NS-Regimes ein, die sich mit der Berglandwirtschaft auseinandersetzten. Institutionell steht hier die Schaffung der Berglandabteilung im Blickpunkt, die nach der Auflösung des österreichischen Landwirtschaftsministeriums ins Leben gerufen wurde. Als Unterabteilung des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (RMfEL) eingerichtet, wurde die Berglandabteilung vom vormaligen österreichischen Landwirtschaftsminister Anton Reinthaller geleitet. Weiters wird der ideologische Stellenwert der Bergbauern sowie die auf den ländlichen Raum ausgerichtete Sozialpolitik untersucht. Auf wirtschaftlich-praktischem Gebiet stehen der „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ und die „Entschuldungs- und Aufbauaktion“ im Fokus. In diesen „Aktionen“, die direkt vor Ort umgesetzt wurden bzw. werden sollten, prallten die widersprüchlichen Zielsetzungen des Reichs in Form der „Blut-und-Boden“-Ideologie auf der einen und den kriegs- und ernährungswirtschaftlichen Anforderungen an die Landwirtschaft auf der anderen Seite auf die reale Lebenswelt der Bauernhöfe. Dieses Spannungsfeld führt zur forschungsleitenden Fragestellung: Wie wirkte sich die Machtergreifung der Nationalsozialisten auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Landbevölkerung in den bergbäuerlichen Regionen Österreichs aus?

Als Untersuchungszeitraum dient im Wesentlichen die Zeit von 1938 bis 1945. Für die Einbettung in größere Zusammenhänge ist es fallweise notwendig, über die Zäsur der NS-Herrschaft hinwegzuschauen. Etwas schwieriger ist die Verortung des geografischen Rahmens. Bereits in den 1930er Jahren hat die österreichische Verwaltung die Zonen des Bergbauerngebiets festgelegt (siehe Kapitel 4.b.). Diese erste taxative Auflistung aller Gemeinden, die ins Bergbauerngebiet fielen, wurde in der NS-Zeit geringfügig erweitert. Zunächst einmal war die Zugehörigkeit zum Bergbauerngebiet ein Indiz für eine naturräumliche Ungunstlage. Diese Ungunstlage war Basis für die unterschiedliche wirtschaftliche Förderung von landwirtschaftlichen Betrieben. Wer innerhalb dieser Zone seinen Betrieb führte, profitierte in größerem Ausmaß von staatlichen Unterstützungsleistungen. Das betraf die Förderprogramme sowohl der österreichischen als auch der reichsdeutschen Agrargesetzgebung. Grundsätzlich nahmen die alpinen bergbäuerlichen Regionen in der nationalsozialistischen Agrarpolitik schon allein wegen ihrer Topografie eine Sonderstellung ein. In Deutschland hatte man mit solchen Lagen wenig Erfahrung. Zwar gab es auch im südbayerischen Raum und in Baden-Württemberg Bergbauerngebiete, die allerdings mit jenen im zentralalpinen Raum kaum vergleichbar waren. Erst mit dem Hinzukommen der umfangreichen österreichischen Bergbauerngebiete nach dem März 1938 wurde eine reichsweite administrative Herauslösung des Berglandgebietes und eine Sonderstellung innerhalb der Agrarwirtschaft angedacht. Dabei machten die ehemals österreichischen Bergbauerngebiete den geografischen Löwenanteil der neuen Unterabteilung Berglandwirtschaft (Dienststelle des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft) aus. Deshalb liegt auch der Fokus dieses Buches auf den österreichischen Bergbauern. Die Berglandgebiete im „Altreich“ und in einigen eroberten Gebieten werden nur gestreift.

War der alpine Raum eine neue Herausforderung für die deutsche Agrarverwaltung, so war umgekehrt die auf rassischen Überlegungen basierende ideologische Überhöhung der Bauern ein neues Phänomen für die ehemals österreichischen Bergbauern. Die reichsdeutsche „Blut-und-Boden“-Ideologie versuchte, das Sozialprestige der Bauern als vermeintlicher „Blutsquell des deutschen Volkes“ (siehe Fußnote 758) zu heben. Allerdings ließ die Realität der Kriegswirtschaft mit Fortschreiten der NS-Herrschaft immer weniger Raum für die Verfolgung utopisch-ideologischer Modelle.

Aus der Schnittmenge dieser zentralen Topoi – der Topografie des Zentralalpenraumes und damit einhergehende agrarwirtschaftliche Besonderheiten für die reichsdeutsche Agrarverwaltung, der „Blut-und-Boden“-Ideologie und den kriegs- und ernährungswirtschaftlichen Anforderungen – geht der Kern der hier angestellten Überlegungen hervor. Die Interessenlagen der Einzelbereiche waren durchaus unterschiedlich, zum Teil sogar diametral entgegengesetzt, und brachen in dieser heterogenen Form auf die ländliche Bevölkerung des Alpenraums herein. In der Schnittmenge dieser Interessenlagen hat sich der ökonomische und soziale Alltag der betroffenen Bevölkerung abgespielt.

Methodisch basiert diese Arbeit auf drei Säulen: Erstens auf der historischen Methode mit ihrer klassischen Dreiteilung in Heuristik, Kritik und Interpretation7, zweitens auf der Quantifizierung zur Bewältigung des in den Quellen vorgefundenen Zahlenmaterials und drittens auf der Methode des historischen Vergleichs, der sowohl synchron (Österreich–Deutschland) wie auch diachron (Zwischenkriegszeit–NS-Zeit–Nachkriegszeit) zur Anwendung kommt. Auf dem Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung (Heuristik) wurde zum einen die seit Ende des Zweiten Weltkriegs erschienene geschichtswissenschaftliche Sekundärliteratur ausgewertet und zum anderen die zeitgenössische Literatur konsultiert. Zudem wurde das umfangreiche Archivmaterial herangezogen. Die wichtigsten Archivalien für die zu behandelnden Themenfelder lagern in Berlin im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde bzw. in der Zweigstelle Hoppegarten (hier vor allem die Bestände des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, des Reichsnährstands, des Reichsamts für Agrarpolitik und des Reichsfinanzministeriums) und im Österreichischen Staatsarchiv in Wien, wo im Archiv der Republik die Bestände der Unterabteilung Bergland verwahrt werden. Im Tiroler Landesarchiv befinden sich die Bestände der Behörde des Reichsstatthalters in Tirol und Vorarlberg. Hier sind in erster Linie die Unterlagen der Abteilung Landwirtschaft (Landstelle) und die Akten der Gauleitung von Interesse (nähere Angaben zu den benutzten Archivbeständen siehe Kapitel 9.b.).

Das Buch ist in neun Kapitel untergliedert. Auf die Einleitung und die Aufbereitung des Forschungsstandes folgt in Kapitel drei bis sieben die Darstellung der ausgewählten Aspekte. In Kapitel acht werden die Einzelergebnisse in Zusammenhang gebracht und einer Interpretation unterzogen. Abschließend folgt der Anhang mit dem Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis und einem Orts- und Personenregister.

1.a. Einbettung der NS-Zeit in die Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts

Seit es in Österreich einigermaßen verlässliches und vergleichbares Statistikmaterial gibt, lässt sich die Wirtschaftsstruktur in Zahlen ablesen.8 Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) liefert Informationen über den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die in einer bestimmten räumlichen und zeitlichen Einheit in einer Volkswirtschaft produziert werden. Für Österreich hat Felix Butschek das BIP ab 1913 ermittelt. Seine in Branchen gegliederte Aufstellung lässt sich in die drei großen Wirtschaftssektoren zusammenziehen. Es sind dies der Primärsektor (Land- und Forstwirtschaft), der Sekundärsektor (Bergbau, Industrie, Gewerbe) und der Tertiärsektor (Dienstleistungen). Neben dem Produktionsvolumen wird als zweiter wichtiger Indikator für die wirtschaftliche Befindlichkeit einer Region die Zahl der in den einzelnen Sektoren tätigen Arbeitskräfte herangezogen. Es wird angenommen, dass in vorindustriellen Wirtschaftsstrukturen der Anteil des Agrarsektors gemessen an der Wirtschaftskraft und der Anzahl der Arbeitskräfte gleichermaßen bei ca. 70 bis 80 Prozent lag.9 Für die österreichischen alpinen Regionen, wo die Industrialisierung verspätet und abgeschwächt Einzug hielt, kann dieser Wert mit lokalen Abweichungen noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts angenommen werden. In Tabelle 1 wird allerdings nicht nur der alpine Raum, sondern das gesamte heutige österreichische Staatsgebiet herangezogen.

Tabelle 1: Erwerbstätige in Österreich nach Wirtschaftssektoren 1869 bis 1991:

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Grafik 1: Erwerbstätige in Österreich nach Wirtschaftssektoren 1869 bis 1991 in absoluten Zahlen:

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Grafik 2: Erwerbstätige in Österreich nach Wirtschaftssektoren 1869 bis 1991 in Prozentanteilen:

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Die Beschäftigtenzahlen in der Landwirtschaft sind von knapp 54 Prozent im Jahr 1869 auf unter sechs Prozent im Jahr 1991 gesunken. Dabei handelte es sich um eine kontinuierliche Abnahme mit zwei leichten Auffälligkeiten, nämlich der verlangsamten Entwicklung während der Weltkriege und der Zwischenkriegszeit sowie einer Beschleunigung der Abnahme in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die absoluten Zahlen sanken erst in den 1920er Jahren deutlich unter den Wert von ca. 1,5 Millionen. Spiegelverkehrt zur Beschäftigtenzahl in der Landwirtschaft verhielt sich jene des Tertiärsektors. Sie ist in etwa im selben Ausmaß, wie die Kurve der Landwirtschaft gesunken ist, angestiegen. In den frühen 1950er Jahren schnitten sich die Kurven, jene des Tertiärsektors nahm seither stark zu und überholte um 1970 auch den Sekundärsektor.10 Letzterer stieg von knapp 24 Prozent im Jahr 1869 mit Ausnahme eines Knicks in den 1930er Jahren relativ konstant bis in die 1970er Jahre auf über 43 Prozent, seither sank der Beschäftigtenanteil aber auf 30 Prozent und damit unter das Niveau von 1910. Die absolute Zahl der im Sekundärsektor Beschäftigten nahm aber weiterhin zu.

In Bezug auf den Beschäftigtenanteil in den Wirtschaftssektoren kann zusammenfassend konstatiert werden, dass der Agrarsektor bis weit ins 20. Jahrhundert der dominierende Wirtschaftszweig war, dann aber sehr schnell und deutlich durch den Tertiärsektor abgelöst wurde. Der Sekundärsektor war in Österreich nur für kurze Zeit, von den 1940er bis in die 1970er Jahre, der Wirtschaftszweig mit den meisten Beschäftigten.

Die Entwicklung des Bruttoinlandprodukts

Tabelle 2: BIP in Österreich nach Wirtschaftssektoren nominell (in Mio. Schilling) und in Prozent von 1913 bis 1994:

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Grafik 3: BIP in Österreich nach Wirtschaftssektoren nominell von 1913 bis 1994:

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Grafik 4: BIP in Österreich nach Wirtschaftssektoren in Prozent von 1913 bis 1994:

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Die Entwicklung des österreichischen BIP wies in dieser Berechnungsform (nicht von Geldwertschwankungen bereinigt) steil nach oben. Allerdings geht aus den Zahlen hervor, dass sich der Anstieg des Primärsektors im Vergleich zu den beiden anderen Sektoren auf einem verhältnismäßig niedrigen Niveau bewegte. In absoluten Zahlen zeigten zwar alle drei Sektoren eine wachsende Tendenz, prozentuell ausgedrückt verloren aber der Primärsektor wie auch der Sekundärsektor deutlich an Wert. Vom gestiegenen Wirtschaftsvolumen profitierte der Tertiärsektor, der ohnehin sowohl absolut wie auch prozentuell seit 1913 an der Spitze lag, am stärksten. Im Vergleich zu den Beschäftigtenzahlen, wo der Agrarsektor bis Mitte des 20. Jahrhunderts klar führend war, zeigte das BIP, dass die Wirtschaftsleistung des Primärsektors, zumindest im 20. Jahrhundert, nur einen geringen Anteil an der Gesamtleistung ausmachte. Den Höhepunkt erreichte sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit 16,4 Prozent. Obwohl die Landwirtschaft – zumindest seit Beginn der Messbarkeit – nur einen kleinen Teil zum BIP beisteuerte, band sie sehr viele Arbeitskräfte an sich. Erst mit der boomenden Mechanisierung ab den 1950er Jahren und der damit einhergehenden Steigerung der Arbeitskräfteproduktivität konnte die Landwirtschaft Arbeitskräfte in bedeutendem Ausmaß freisetzen bzw. abgeben. Hatte der Agrarsektor in den 20 Jahren von 1890 bis 1910 einen Verlust von zehn Prozent oder ca. 150.000 Personen von der Gesamtzahl der Arbeitskräfte zu beklagen (von 1,52 auf 1,37 Mio. Menschen), so war es in den 20 Jahren von 1950 bis 1970 ein Verlust von 60 Prozent oder ca. 656.000 Personen (von 1,1 auf 0,4 Mio. Menschen).

Die beiden grafisch dargestellten Parameter, die Beschäftigtenzahl und der Anteil am BIP (Grafik 2 und 4), belegen deutlich, dass die 1950er Jahre für die Landwirtschaft die entscheidende Wendezeit waren. Während Sekundär- und Tertiärsektor die treibenden Kräfte für den starken wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit waren, fiel der Primärsektor zurück. Es folgte eine lange Abschwungphase, bis sich die Zahlen auf niedrigem Niveau einpendelten. Die Landwirtschaft war innerhalb kurzer Zeit von einer maßgebenden Wirtschaftskraft zu einem unbedeutenden Wirtschaftssektor gesunken, allerdings nur volkswirtschaftlich und das Beschäftigtenausmaß betreffend. Die Rolle der Landwirtschaft in der österreichischen Kultur und Identität wird noch immer als prägend empfunden. Das starke Sinken der beiden Kurven ab den 1950er Jahren darf auch nicht als Krisenerscheinung fehlinterpretiert werden. Vielmehr war das Gegenteil der Fall, auch die Landwirtschaft profitierte von der Hochkonjunktur, wie das stets steigende, allerdings hinter den anderen Sektoren zurückbleibende BIP zeigt. Es begann ein Prozess stetig sinkender Betriebs- und Beschäftigtenzahlen bei gleichzeitig steigender Mechanisierung und Produktivität. Ernst Hanisch bezeichnete die Zeit um die Mitte des 20. Jahrhunderts als „Transformationsphase des Übergangs vom ‚Bauern‘ zum ‚Farmer‘ “, also von einer „historischen Sozialfigur“ zum Typus des marktwirtschaftlich ausgerichteten Unternehmers.11 Die NS-Zeit war Teil dieser Transformationsphase, war aber geprägt bzw. wurde sogar zerrissen durch beide Strömungen: Die ideologische (Über-) Betonung von Familie, Tradition und bäuerlicher Lebensweise („Blut-und-Boden“) verlangsamte einerseits die Transformation, während andererseits durch die kriegsvorbereitenden bzw. kriegswirtschaftlichen Maßnahmen der Übergang zum „Farmertum“ beschleunigt wurde.

Eine rein strukturgeschichtliche Betrachtung der NS-Zeit würde freilich viel zu kurz greifen. Man würde sogar Gefahr laufen, sie „zu übersehen“, wie die oben dargestellten Grafiken nahelegen. Zumeist „verschwindet“ die NS-Zeit zwischen zwei Datenpunkten, die dann interpoliert und in einer, je nach Größe des Maßstabes, überaus stringenten und kontinuierlich verlaufenden Zahlenreihe dargestellt werden können. Weder der Verlauf der Beschäftigtenzahlen noch die Entwicklung des BIP geben Aufschluss über den Charakter der Epoche der NS-Zeit oder deren Bedeutung für die österreichische Wirtschafts- bzw. Agrargeschichte. Zugleich spiegelt dieser Befund wider, dass die NS-Zeit auf die langfristigen Wirtschaftsstrukturen keinen Einfluss übte. Die eineinhalb Jahre der Friedenswirtschaft (März 1938 bis August 1939), die bereits unter dem Zeichen der Kriegsvorbereitung standen, waren zu kurz für nachhaltige Veränderungen, und während des Krieges ging es der Agrarwirtschaft in der Hauptsache darum, die Ernährungslage und die Strukturen aufrechtzuerhalten.

Der grobmaschige, makrohistorische Blick auf Wirtschaftsstrukturen verwehrt den Blick auf das Besondere dieser Zeit, das nur ein feineres Raster erfassen kann. Die Analysemethoden der Mikrogeschichte mit der Vergrößerung des Maßstabes, der Anwendung der so genannten „dichten Beschreibung“, womit eine hohe Dichte von historischem Quellenmaterial gemeint ist, und dem Konzept des „außergewöhnlichen Normalen“, das im Prinzip auf einer unkonventionellen Auswahl, Anordnung und Bewertung von Quellen basiert, würden ein theoretisch fundiertes und anerkanntes Werkzeug bieten, um einen Blick in die Tiefe der Geschichte zu werfen. Ihr Ausgangspunkt liegt im Kleinen, im Individuum oder in einer Dorfgemeinschaft, von wo aus durch Kontextualisierung immer weitere Kreise gezogen werden und schließlich versucht wird, zu allgemeinen Aussagen auf einer höheren Ebene (Makroebene) zu gelangen.12 Die vorliegende Arbeit ordnet sich aber weder der Makro- noch der Mikrogeschichte zu. Für das eine fehlt die empirische Basis von quantifizierbarem seriellen Quellenmaterial13, für das andere der individuelle Ansatz mit einem kleinen Ausgangspunkt. Im Sinne jener Theoretiker, die Mikro- und Makrogeschichte versöhnlich miteinander in Beziehung zu setzen versuchten, soll hier eine Mischform angewandt werden, die die großen Strukturen nicht aus den Augen verliert, aber auch Raum für Anpassungsstrategien der landwirtschaftlichen Bevölkerung, Handlungsspielräume, Machthierarchien innerhalb der Agrarbevölkerung, sprich: für mikrohistorische Überlegungen, offen lässt.

1.b. Nationalsozialismus und österreichische Geschichtsschreibung

„Es stellte sich heraus, daß etwas nicht stimmt mit dem einfachen Bild von Österreich, das 1938 das erste Opfer des nationalsozialistischen Deutschen Reiches geworden war und sonst gar nichts.“14

Dieser Befund aus den 1990er Jahren zeigt einen grundlegenden Wandel der österreichischen Selbstwahrnehmung auf: Die bis in die 1980er Jahre weitgehend fraglos hingenommene „Opferthese“ wich, ausgelöst durch die „Waldheim-Debatte“ und das Gedenkjahr 1988 (50 Jahre „Anschluss“), einer differenzierteren geschichtswissenschaftlichen Betrachtung der Jahre 1938 bis 1945. Es bedurfte mehrerer Anstöße von innerhalb und außerhalb der österreichischen Historikerzunft, ehe verstärkte Diskussionen über Österreich und die Rolle der Österreicherinnen und Österreicher während des Nationalsozialismus losbrachen. Die ungebrochene gesellschaftliche Dominanz der „Opferthese“ und das Verharren im Glauben, der Nationalsozialismus sei primär ein Problem Deutschlands, hatte sogar zu politischer Einflussnahme des damaligen Außenministers und des Generaldirektors der Österreichischen Nationalbank auf die Zeitgeschichteforschung geführt.15 Diese „merk- und denkwürdigen, unerhörten Manipulationsversuche“16 führten in Verbindung mit den genannten Anlassfällen dazu, dass die NS-Zeit ins Zentrum der historischen Forschung rückte. Erst jetzt war in Österreich, das bis dahin als „selbstgenügsames Gebilde […] ohne Geschichte und offene Fragen“17 persifliert wurde, eine profunde zeitgeschichtliche Aufarbeitung der NS-Zeit gesellschaftlich, institutionell und finanziell möglich, wenngleich nicht immer erwünscht.

Die Jahre zwischen dem Ende der NS-Zeit und den 1980er Jahren können, was die Erforschung des Nationalsozialismus in Österreich betrifft, im Großen und Ganzen als „dunkle Jahrzehnte“ bezeichnet werden, in denen der Opfermythos gepflegt und mit wenigen Ausnahmen die nationalsozialistische Vergangenheit verdrängt wurde. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt, geprägt von Wiederaufbau und dem Wunsch nach staatlicher Souveränität, wurde aus pragmatisch-politischen Gründen ein einseitiges Geschichtsbild verfestigt und zementiert. Das Verdrängen und Vergessenwollen einer „mit peinlichen Gefühlen“18 verbundenen Vergangenheit war bis zu einem gewissen Grad auch eine psychologische Voraussetzung für die kollektive Identitätsstiftung der Zweiten Republik. Die österreichische Geschichtswissenschaft beschäftigte sich mit Fragestellungen, die sich der „Opferthese“ anpassten und die trennenden, abgrenzenden Aspekte zwischen Österreich und dem Nationalsozialismus betonten. Für das neue Österreichbild negative Implikationen wie beispielsweise die „Anschlusseuphorie“, die aktive Mittäterschaft bei der Judenverfolgung oder die Rolle der Österreicher in der Wehrmacht, der SS und anderen Verbänden wurden ausgeblendet, „externalisiert“. Auch als sich Österreich längst als politisch, wirtschaftlich und sozial stabiles Land etabliert hatte, wurden „Opferthese“ und „Okkupationstheorie“ von den staatstragenden politischen Parteien noch immer zur Staatsdoktrin erklärt, später jedoch als „Lebenslüge“19 der Zweiten Republik bzw. als „eine Variante der europäischen nationalen Gründungsmythen“20 bewertet. Mit der Flut an neuen wissenschaftlichen Publikationen zur NS-Zeit seit Beginn der 1990er Jahre erfuhr die „Opferthese“ (auch „Opfermythos“) eine Abschwächung und wurde seither als „Opfer-Täter-Diskurs“ wahrgenommen.21 Neue Forschungsparadigmen erreichten die österreichische Wissenschaftslandschaft und lösten umfangreiche Forschungstätigkeit zum Nationalsozialismus aus. Neue Fragestellungen und neue Methoden öffneten den geschichtswissenschaftlichen Diskurs, der durch die „neue Opferforschung“ und die „neue Täterforschung“ an Tiefe gewann. Das Blickfeld erweiterte sich von den NS-Machthabern bzw. den politischen und staatlichen Strukturen der NS-Herrschaft hin zu den Akteuren auf allen Ebenen der Gesellschaft. Im Verlauf dieser Entwicklung gewann unter anderem auch die Erforschung der österreichischen Agrargeschichte während der NS-Zeit an Bedeutung.

1ÖStA, AdR, RMfEL, UA Bergland, Karton 56, Ordner „Schriftenwechsel des UStSekr. Ing. A. Reinthaller“, NSDAP Reichsleitung, Reichsamt für das Landvolk an Unterstaatssekretär Anton Reinthaller vom 17. Februar 1944 mit der Aufforderung an Reinthaller, einen Beitrag für die Zeitschrift „Deutsche Agrarpolitik“ zu verfassen.

2Reinthaller, Anton: Bauern auf kargen Böden, in: Deutsche Agrarpolitik 2 (8/1944), S. 217–219.

3Reinthaller: Bauern auf kargen Böden, S. 219.

4Dittmer, Hans: Der Bergbauer – ein österreichisches Problem, in: Der Diplomlandwirt 19 (9/1938), S. 305–307, hier S. 305.

5ÖStA, AdR, RMfEL, UA Bergland, Karton 56, Ordner „Schriftenwechsel des UStSekr. Ing. A. Reinthaller“, Manuskript „Deutschland mit oder ohne Bergbauern?“.

6ÖStA, AdR, RMfEL, UA Bergland, Karton 17, Gemeinschaftsaufbau allgemein, Reinthaller an die Parteikanzlei der NSDAP in München, Geschäftszahl IX B 3 – 2269 vom 13.10.1941.

7Budde, Gunilla; Freist, Dagmar: Verfahren, Methoden, Praktiken, in: Budde, Gunilla; Freist, Dagmar; Günther-Arndt, Hilke (Hg.): Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, Berlin: Akademie Verlag, 2008, S. 158–177, hier S. 160.

8Zu den Problemen der Agrarstatistik bis ins frühe 20. Jahrhundert siehe Sandgruber, Roman: Österreichische Agrarstatistik 1750–1918 (Materialien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2), Wien: Verlag für Geschichte und Politik, 1978.

9Landsteiner, Erich: Landwirtschaft und wirtschaftliche Entwicklung 1500–1800. Eine Agrarrevolution in der Frühen Neuzeit?, in: Cerman, Markus; Steffelbauer, Ilja; Tost, Sven (Hg.): Agrarrevolutionen. Verhältnisse in der Landwirtschaft vom Neolithikum zur Globalisierung (Querschnitte, Bd. 24), Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag, 2008, S. 173–205, hier S. 173.

10Seither sprechen Wirtschaftswissenschafter von einer „Tertiärisierung“ oder „Dienstleistungsgesellschaft“.

11Hanisch, Ernst: Die Politik und die Landwirtschaft, in: Bruckmüller, Ernst; Hanisch, Ernst; Sandgruber, Roman; Weigl, Norbert (Hg.): Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Band 1: Politik – Gesellschaft – Wirtschaft, Wien: Ueberreuter, 2002, S. 15–189, hier S. 16.

12Zur Konzeption und Entwicklung der Mikrogeschichte siehe neben vielen anderen: Ginzburg, Carlo; Poni, Carlo: „Was ist Mikrogeschichte?“, in: Geschichtswerkstatt 6 (1985), S. 48–52; Ginzburg, Carlo: Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 169–192; Schlumbohm, Jürgen (Hg.): Mikrogeschichte – Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel? (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 7), Göttingen: Wallstein Verlag, 1998; Ulbricht, Otto: Mikrogeschichte: Versuch einer Vorstellung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), S. 347–367; Ulbricht, Otto: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt-New York: Campus Verlag, 2009; Lanzinger, Margareth: Mikrogeschichte, in: Beiträge zur Historischen Sozialkunde, Sondernummer: Neue Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft 1 (2002), S. 48–52; Scheutz, Martin: „… irgendwie Geschichte ist es doch“. Mikrogeschichte in der österreichischen Frühneuzeitforschung, in: Scheutz, Martin; Strohmeyer, Arno (Hg.): Was heißt „österreichische“ Geschichte? Probleme, Perspektiven und Räume der Neuzeitforschung (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 6), Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag, 2008, S. 73–92.

13Im Gegensatz zu Niederösterreich sind beispielsweise in Tirol die „Hofkarten“ aus der NS-Zeit verloren gegangen.

14Ziegler, Meinrad; Kannonier-Finster, Waltraud (unter Mitarbeit von Marlene Weiterschan): Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit (Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek, Bd. 25), Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 21997, S. 30.

15Botz, Gerhard: Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung: Probleme mit der NS-Vergangenheit, in: Botz, Gerhard; Sprengnagel, Gerald (Hg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt-New York: Campus Verlag, 22008, S. 89–104.

16Frei zitiert nach Botz: Verdrängung, S. 90–91.

17Coudenhove-Kalergi, Barbara: Die österreichische Doppelseele, in: Rathkolb, Oliver; Schmid, Georg; Heiß, Gernot (Hg.): Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis, Salzburg 1990, S. 56–61, hier S. 59.

18Ziegler/Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis, S. 33.

19Forster, David: „Wiedergutmachung“ in Österreich und der BRD im Vergleich, Innsbruck-Wien-München: Studienverlag, 2001, S. 114–117.

20Botz, Gerhard: Nachhall und Modifikationen (1994–2007): Rückblick auf die Waldheim-Kontroversen und deren Folgen, in: Botz, Gerhard; Sprengnagel, Gerald (Hg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt-New York: Campus Verlag, 22008, S. 574–635, hier S. 625.

21Botz: Nachhall, S. 588–596.

2. Forschungsstand

Nach 1945 wurde der Themenkreis „Landwirtschaft/Agrarpolitik während der NS-Zeit“ in zahlreichen Publikationen berührt. In geschichtswissenschaftlichen Werken nahm er den unterschiedlichsten Stellenwert ein. Der folgende Literaturüberblick repräsentiert eine subjektive Auswahl und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht darum, die „Wertigkeit“ des Untersuchungsgegenstandes in der historischen Forschung von seiner Genese bis in die Gegenwart zu verorten.

Der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende, als mit der Untersuchung der deutschen Kriegswirtschaft begonnen wurde. Im United States Strategic Bombing Survey (USSBS) wurde der Versuch unternommen, die Folgen der Bombardierung der deutschen Rüstungsindustrie zu eruieren und die Auswirkungen auf den Kriegsverlauf zu rekonstruieren. Die Erkenntnisse aus dieser Studie sollten im noch andauernden Krieg im Pazifik verwertet werden.22 Das Interesse an der deutschen Kriegswirtschaft, vor allem an der Industrie und im Speziellen an der Rüstungsindustrie war mit diesem Bericht geweckt worden und sollte auch nicht mehr abreißen. In die darauf folgende Kontroverse waren namhafte Ökonomen und Historiker involviert, die Fragestellungen betrafen das „deutsche Rüstungswunder“ nach 1942, das „deutsche Wirtschaftswunder“ in den 1930er Jahren und ganz allgemein die Situation der Rüstungsindustrie mit der strittigen Fragestellung: „Kriegswirtschaft im Frieden“ contra „Friedenswirtschaft im Kriege“.23 Die Forschung war auf die Industrie fokussiert, andere Wirtschaftsbereiche, wie auch die Landwirtschaft, wurden ausgeblendet. Theresia Bauer begründete diese Tatsache damit, „daß aus der Sicht der industriell dominierten Bundesrepublik sowohl der Agrarpolitik als auch der Gruppe der Bauern eine nur vergleichsweise geringe gesellschaftliche Bedeutung zugerechnet wird.“24

Während in Deutschland bis in die 1970er Jahre vereinzelt Spezialstudien mit zum Teil geringem Umfang zur NS-Agrarpolitik geschrieben wurden25, erschien das erste Standardwerk zu diesem Thema im Jahr 1976 von John Farquharson in London.26 Auch Friedrich Grundmann, der im Jahr 1979 ein grundlegendes Werk zum Reichserbhofgesetz ablieferte, empfand Farquharsons Buch als „erste, insgesamt überzeugende Gesamtstudie zur Agrarpolitik im ‚Dritten Reich‘ “.27 Grundmann leitete das mangelnde Interesse an der Agrargeschichte aus dem Systemkonflikt Kapitalismus – Kommunismus ab, der die Aufmerksamkeit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auf die Rolle der Industrie und die soziale Lage der Arbeiter in der NS-Zeit lenke. In der Tat fokussierten marxistische wie nichtmarxistische Wirtschaftshistoriker im geteilten Nachkriegsdeutschland ihren Blick auf das Verhältnis Kapital (Großkapital, Industrie) zu Politik (NSDAP, Faschismus). Unter dieser Prämisse wurde diskutiert, ob während der zwölfjährigen NS-Herrschaft das „Primat der Politik“ oder das „Primat der Wirtschaft“ dominierte bzw. ob und wann das eine an die Stelle des anderen trat.28 Auf die Agrarpolitik als „Nebenschauplatz“ nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik wurde in dieser Diskussion kaum eingegangen. Damit wurde zwar der Logik des Kapitalismus konsequent Rechnung getragen, der die traditionelle Landwirtschaft zu einer Agrar-„Industrie“ umzuformen trachtete, dennoch darf die Relevanz des Agrarsektors während der NS-Zeit, vor allem im 1938 noch agrarisch geprägten Österreich, nicht unterbewertet werden. Trotzdem waren es in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht Historiker, sondern vor allem Protagonisten der NS-Agrarbürokratie, die zu Bereichen der NS-Agrarpolitik publizierten. Der prominenteste Vertreter in Österreich war August Lombar, ehemaliger stellvertretender Leiter der Landstelle Wien, der 1953 das Buch „Entschuldung und Aufbau der österreichischen Landwirtschaft“ herausbrachte. Der Inhalt dieses teilweise apologetischen und parteilichen Werks war bis Ende der 1980er Jahre gültige Lehrmeinung.29 Weitere problematische Darstellungen stammen von Heinz Haushofer, während der NS-Zeit Leiter der Abteilung IV (Landwirtschaft, Wirtschaft und Arbeit) in der Behörde des Reichsstatthalters in Niederdonau, und Hans-Joachim Riecke, Unterstaatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft in Berlin.30 In den unmittelbaren Nachkriegsdarstellungen versuchten die ehemaligen Akteure zum Teil, ihre Tätigkeiten „politisch reinzuwaschen“31 und gegen Angriffe, zuallererst von der Anklagebehörde im Nürnberger Wilhelmstraßenprozess gegen den Ex-Minister für Ernährung und Landwirtschaft, Walther Darré, zu verteidigen.

Neben diesen Werken von Vertretern der NS-Agrarpolitik beschäftigten sich bald nach Kriegsende zwei Wiener Dissertanten mit der österreichischen Agrarwirtschaft der jüngsten Vergangenheit, allerdings waren weder Walter Lipmann32 (Handelswissenschafter) noch Rene Alfons Haiden33 (Rechts- und Staatswissenschafter) Historiker. Mit dieser Erkenntnis wird auch ein Stück Wissenschaftsgeschichte deutlich: Das Fach „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ war ebenso wie das Fach „Zeitgeschichte“ an den Universitäten noch nicht etabliert und die Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit war noch stark historistisch geprägt. Es verwundert daher nicht, dass sich Wissenschafter anderer Fachrichtungen der unmittelbar zurückliegenden Agrargeschichte annahmen. Das fehlende Interesse der Fachhistoriker an der Agrargeschichte der NS-Zeit ist aber nicht ausschließlich durch die nicht vorhandene institutionelle Verankerung der dafür „zuständigen“ Wissenschaftsdisziplinen erklärbar. Es war auch die von Österreich vertretene und für die Identitätsfindung des Landes so wichtige „Opferthese“, die in Wissenschaft und Politik den Willen lähmte, die Zeit von 1938 bis 1945 geschichtswissenschaftlich aufzuarbeiten. Weite Teile der NS-Vergangenheit wurden über Jahrzehnte verdrängt und erst die 1980er Jahre brachten im Zuge der Waldheim-Debatte eine Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu sensiblen Themen der österreichischen NS-Vergangenheit.34 Ein signifikanter Anstieg agrarhistorischer Forschungen war allerdings auch dann noch nicht erkennbar.

In Deutschland dürfte die Situation der NS-Agrarforschung ähnlich gelagert gewesen sein. Noch im Jahr 1986 beklagte der deutsche Agrarhistoriker Horst Gies35 das „erstaunliche Desinteresse am Verhältnis Landbevölkerung und Nationalsozialismus“36, obwohl anlässlich des 50. Jahrestages der NS-Machtergreifung eine Menge wissenschaftlicher Literatur erschienen war.37 Wie schon zahlreiche Autoren vor ihm merkte auch Gies an, dass das Desinteresse angesichts des 1933 noch hohen Anteils der in der Land- und Forstwirtschaft Erwerbstätigen (28,9 % in Deutschland) unberechtigt sei und der Primärsektor offenbar zugunsten wichtigerer Fragen „übersehen“38 wurde. Im Jahr 1985 erschien ein internationaler Sammelband mit 18 Aufsätzen zur Landwirtschaft und Agrarpolitik im Zweiten Weltkrieg39, worin neben anderen der ostdeutsche Agrarhistoriker Joachim Lehmann, der schon zahlreiche Aufsätze zu diesem Thema verfasst hatte, einen Beitrag publizierte. Die erste von einem Deutschen geschriebene Gesamtdarstellung zur NS-Agrarpolitik kam von Günter Fahle im Jahr 198640, zehn Jahre nach Farquharsons Standardwerk. Erst die 90er Jahre sollten in Deutschland eine dichtere Anzahl von agrarhistorischen Werken zum Nationalsozialismus hervorbringen. Neben einigen sehr umfangreichen Regionalstudien41 sind vor allem die Werke von Gustavo Corni und Horst Gies anzuführen. Gemeinsam haben sie 1994 eine repräsentative Quellenedition herausgegeben42 und drei Jahre später das bisher umfangreichste Buch zur deutschen Ernährungswirtschaft von 1933 bis 1945 veröffentlicht43, das sich auf eine profunde Quellenarbeit stützt und vor allem Aufbau, Organisation und Amtsführung der agrarischen Behörden beschrieb, aber wenig auf die soziale „Die völlig unzureichende Aufmerksamkeit, die die deutsche und internationale Historiographie diesem Thema gewidmet hat, war eines der Motive, das die Autoren dieser Studie herausgefordert hat, ihre seit vielen Jahren andauernden Forschungsaktivitäten zu bündeln“45