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Henry James

Im Käfig

 

und andere Erzählungen

 

 

Aus dem Englischen

von Gottfried Röckelein, Elke Link,

Sabine Roth und Ingrid Rein

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage 2015)

 

© 2015 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

»Daisy Miller« © 1998 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg; »Eine ­transatlantische Episode« © 1993 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, ­Cadolzburg; »Die Drehung der Schraube« (unter dem Titel Das Geheimnis von Bly) © 2000 by ars ­vivendi verlag GmbH & Co. KG, ­Cadolzburg; »Im Käfig« © 1991 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung eines Fotos von © John Cooper / Trevillion Images

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

 

eISBN 978-3-86913-612-7

 

Inhalt

 

 

Daisy Miller

Daisy Miller, 1879

Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein

 

 

Eine ­trans­atlantische ­Episode

An International Episode, 1879

Aus dem Englischen von Elke Link und Sabine Roth

 

 

Die Drehung der Schraube

The Turn of the Screw, 1898

Aus dem Englischen von Ingrid Rein

 

 

Im Käfig

In the Cage, 1898

Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein

 

Der Autor

 

Daisy Miller

 

I

In der Kleinstadt Vevey in der Schweiz gibt es ein besonders gemütliches Hotel. Selbstverständlich gibt es dort viele Hotels, denn die gastliche Aufnahme und Unterhaltung von Touristen ist es, wovon der Ort in der Haupt­sache lebt, der, wie sich viele Weitgereiste erinnern werden, am Rande eines auffallend blauen Sees gelegen ist – eines Sees, den einmal gesehen zu haben eine Pflichtübung für jeden Touristen darstellt. Das Ufer des Sees prä­sentiert sich als eine durchgängige und beeindruckende Anordnung von Etablissements der erwähnten Art, und zwar jeder Kategorie, angefangen beim Grand Hotel neuester Fasson mit kreideweißer Vorderfront, hundert Balkonen und einem Dutzend flatternder Fahnen auf dem Dach, bis hin zur kleinen schweizerischen Pension alten Stils mit einer rosafarbenen oder gelben Hauswand, an der, in offen­bar deutschen Lettern, der Name der Herberge geschrieben steht und in deren Garten es in der Ecke einen klobigen Pavillon gibt. Eines der Hotels in Vevey allerdings ist berühmt, ja gilt sogar als Klassiker, weil es sich von vielen seiner nachbarlichen Parvenüs dadurch abhebt, dass es sowohl Luxus als auch Gediegenheit ausstrahlt. Den ganzen Monat Juni hindurch sind in dieser Gegend amerikanische Touristen ganz besonders zahlreich vertreten; man könnte sogar sagen, dass Vevey im besagten Zeitraum einige der typischen Eigenheiten eines amerikanischen Kur- oder Badeorts annimmt. Da sieht man Bilder und hört man Laute, die eine Vision von Newport, ein Echo aus Saratoga heraufbeschwören. Da huschen »fesche« Mädchen hierhin und dorthin, da rauschen die Musselinvolants, es klimpert und wummert die Tanzmusik schon am Vormittag, und man vernimmt den Klang hoher Stimmen Tag und Nacht. Von alldem bekommt man einen Eindruck in dem ausgezeichneten Gasthof Trois Couronnes, wo die Phan­tasie einen fortträgt nach Newport ins Ocean House oder in die Congress Hall nach Saratoga. Es muss gleichwohl hinzugefügt werden, dass es in den Trois Couronnes auch noch andere Attraktionen gibt, die doch sehr im Widerspruch stehen zu derartigen Eingebungen: tadellos auftretende deutsche Kellner, die wie Legationsräte aussehen; russische Prinzessinnen, die im Garten sitzen; polnische Knaben, die von ihren Hauslehrern bei der Hand genommen und spazieren geführt werden; die Aussicht auf den schneebedeckten Grat der Dents du Midi und auf die pittoresken Türme von Schloss Chillon.

Ich könnte nicht sagen, ob es eher die Übereinstimmungen oder die Unterschiede waren, die jenem jungen Amerikaner durch den Kopf gingen, der, vor zwei oder drei Jahren, gerade im Garten der Trois Couronnes saß, eini­germaßen müßig um sich blickte und ein paar der anmutigen Objekte betrachtete, die ich gerade erwähnte. Es war ein schöner Sommermorgen, und auf welche Weise auch immer der junge Amerikaner seine Umgebung in Augenschein genommen haben mag, so muss sie ihm doch ganz reizend vorgekommen sein. Er war tags zuvor mit dem klei­nen Dampfschiff aus Genf eingetroffen (Genf war schon seit Langem sein stän­diger Aufenthaltsort), um seine Tante zu besuchen, die im Hotel wohnte. Seine Tante litt jedoch unter Kopfschmerzen – seine Tante litt so gut wie immer unter Kopfschmerzen –, und im Moment hatte sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und inhalierte Kampfer, sodass er selbst nach Herzenslust umherstreifen konnte. Er war ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt. Wenn im Kreis seiner Freunde die Rede auf ihn kam, dann hieß es meist, er sei in Genf »zu Studienzwecken«. Wenn im Kreis seiner Feinde die Rede auf ihn kam, dann hieß es – was soll’s, er hatte ja gar keine Feinde. Er war ein ungemein sympathischer Mensch und allgemein beliebt. Was ich eigentlich sagen sollte, ist schlicht, dass, wenn gewisse Per­sonen von ihm sprachen, dieselben andeuteten, der Grund für seinen ausgedehnten Aufenthalt in Genf liege darin, dass er einer dort lebenden Dame ganz außerordentlich zugetan sei – einer ausländischen Dame, einer Person, die älter war als er. Nur ganz wenige Amerikaner – wenn ich es recht bedenke, eigentlich gar keiner – hatten diese Dame je zu Gesicht bekommen, über die einige seltsame Geschichten in Umlauf waren. Wie dem auch sei: Winterbourne ketteten alte Bande an die kleine Kapitale des Kalvinismus; als Junge war er hier zur Schule geschickt worden, und anschließend hatte er es sogar mit einem Studium versucht, das heißt probeweise die graue, altehrwürdige protestantisch-theologische Akademie an dem steilen und steinigen Bergabhang besucht – Umstände, aus denen sich eine stattliche Anzahl von Jugendfreundschaften ergab. Mit vielen von ihnen pflegte er die Beziehung noch immer, was ihm große Freude bereitete.

Nachdem er an die Tür seiner Tante geklopft und den Bescheid erhalten hatte, sie sei unpässlich, war er zu einem Spaziergang durch die Stadt aufgebrochen und anschließend wieder zum Hotel zurückgekehrt, um sein Frühstück einzunehmen. Dieses Mahl hatte er nun beendet; er genoss aber noch ein Tässchen Kaffee, welches ihm von einem der Kellner, die wie Attachés aussahen, an einem kleinen Tisch im Garten serviert worden war. Schließlich trank er seine Tasse aus und zündete sich eine Zigarette an. Bald darauf kam auf dem Weg ein kleiner Junge daher, ein Bengel von neun oder zehn Jahren. Das Kind, das für sein Alter um einiges zu klein geraten war, hatte einen blassen Teint, und die zwar noch kleinen, aber schon deutlich ausgeprägten Züge ergaben einen altklugen Gesichtsausdruck. Der Junge hatte Knickerbocker an und rote Strümpfe, wodurch seine armseligen und spindeldürren Beinchen zur Schau gestellt wurden. Dazu trug er noch ein grellrotes Halstuch. In der Hand hielt er einen langen Bergstock, mit dessen scharfer Eisenspitze er in alles hineinstach, was sich ihm in seiner Reichweite darbot – Blumenbeete, Gartenbänke, die Schlep­pen von Damenkleidern. Direkt vor Win­terbourne blieb er stehen und betrachtete ihn mit einem Paar glänzender und durchdringender kleiner Augen.

»Ob du mir wohl ein Stück Zucker abgibst?«, fragte er mit dünner, scharfer, harter Stimme – mit einer Stimme, die noch nicht ausgebildet, aber doch auch wiederum nicht kindlich war.

Winterbourne warf einen Blick auf den Beistelltisch neben sich, auf dem sein Kaffeegedeck stand, und sah, dass noch ein paar Zuckerstücke übrig geblieben waren. »Ja, du kannst dir eines nehmen«, antwortete er, »aber ich finde, zu viel Zucker ist ungesund für kleine Jungs.«

Der kleine Junge tat einen Schritt nach vorn und suchte sich aus den begehrten Überresten sorgfältig drei Stücke heraus, von denen er zwei in der Tasche seiner Knickerbocker verschwinden ließ und das andere genauso prompt an anderer Stelle unterbrachte. Er benutzte seinen Bergstock als Lanze und stach in Winterbournes Bank, während er das Stück Zucker mit den Zähnen zu zerkleinern versuchte.

»Teufel auch, was ist das harrrt!«, rief er aus, wobei er, dem Anlass durchaus angemessen, Vokal und Konsonanten jegliche Weichheit austrieb.

Winterbourne war sofort der Gedanke gekommen, er könnte die Ehre haben, in dem Knaben einem Landsmann zu begegnen. »Pass auf, dass du dir nicht die Zähne abbrichst«, sagte er väterlich.

»Ich habe keine Zähne mehr zum Abbrechen. Die sind schon alle rausgefallen. Ich habe bloß noch sieben Zähne. Mutter hat sie gestern Abend gezählt, und gleich danach ist einer rausgefallen. Sie sagte, sie gibt mir eins hintendrauf, wenn jetzt noch einer rausfällt. Ich kann doch nichts dafür! Das liegt an diesem komischen Europa. Das liegt an dem Klima hier, warum sie rausfallen. In Amerika ist keiner raus­gefallen. Das liegt an diesen Hotels.«

Winterbourne unterhielt sich prächtig. »Wenn du drei Stück Zucker isst, dann gibt dir deine Mutter mit Sicherheit eins hintendrauf«, wagte er zu bemerken.

»Dann muss sie mir eben Bonbons geben«, versetzte sein junger Gesprächspartner. »Hier krieg ich nirgendwo Bonbons – amerikanische Bonbons. Amerikanische Bonbons sind die besten Bonbons.«

»Und sind amerikanische kleine Jungs die besten Jungs?«, fragte Winterbourne.

»Weiß ich nicht. Ich bin ein amerikanischer Junge«, sagte das Kind.

»Ich sehe, dass du einer der besten bist!«, meinte der junge Mann lachend.

»Bist du ein amerikanischer Mann?«, bohrte das temperamentvolle Kind nach. Und dann, nach der positiven Ant­wort seines Freundes, verkündete es zuversichtlich: »Amerikanische Männer sind die besten!«

Sein Partner dankte ihm für das Kompliment, und das Kind, das inzwischen seinen Bergstock wie ein Steckenpferd zwischen die Beine genommen hatte, stand da und sah sich um, während es gleichzeitig einen neuen Zuckerwürfel in Angriff nahm. Winterbourne fragte sich, ob er in seiner Kindheit genauso gewesen war, da man ihn in etwa dem gleichen Alter auch nach Europa gebracht hatte.

»Da kommt ja meine Schwester!«, rief sein junger Landsmann. »Die ist ein amerikanisches Mädchen, und was für eins!«

Winterbourne sah den Weg entlang und erblickte eine hübsche junge Dame, die auf sie zukam. »Amerikanische Mädchen sind die besten Mädchen«, sagte er daraufhin heiteren Sinnes zu seinem Gast.

»Meine Schwester nicht!«, gab das Kind prompt zurück. »Dauernd führt sie sich auf und hackt auf mir herum.«

»Ich vermute, das liegt an dir, nicht an ihr«, sagte Win­ter­bourne. Die junge Dame war mittlerweile näher gekommen. Sie hatte ein weißes Musselinkleid an mit hundert Rüschen und Falbeln und zartgetönten Bandschleifen. Sie trug keine Kopfbedeckung, hatte dafür aber einen beachtlichen Sonnenschirm mit breiter, gestickter Bordüre, den sie mit einer Hand im Gleichgewicht hielt. Und sie war auf­fallend, ja zauberhaft hübsch. Wie sind sie doch hübsch!, dachte unser Freund und setzte sich aufrecht hin, als schickte er sich an, aufzustehen.

Die junge Dame blieb vor seiner Bank stehen, nahe der niedrigen Gartenmauer, von wo aus man einen Blick über den See hatte. Der Knabe hatte inzwischen seinen Bergstock in einen Springstock verwandelt, mit dessen Hilfe er über den Kies hüpfte, der ganz ordentlich in alle Richtungen spritzte. »Also Randolph«, legte sie ohne Scheu los, »was treibst du denn da schon wieder?«

»Ich besteige die Alpen!«, rief Randolph. »So macht man das!« Und damit tat er einen weiteren Riesensatz, dass Win­ter­bourne die Kiesel nur so um die Ohren flogen.

»So machen das die, die abstürzen«, sagte Winterbourne.

»Er ist ein amerikanischer Mann!«, verkündete Randolph mit seiner schroffen, dünnen Stimme.

Die junge Dame schenkte dem erwähnten Umstand wei­ter keine Beachtung, sondern sah ihren Bruder gerade­heraus an. »Es ist wohl das Beste, wenn du erst mal still bist«, bemerkte sie schlicht.

Nach Winterbournes Einschätzung hatte so etwas wie eine Vorstellung seiner Person stattgefunden. Er erhob sich, warf seine Zigarette fort und trat langsam auf das charmante Wesen zu. »Dieser Junge und ich haben Bekanntschaft geschlossen«, sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit. In Genf nämlich stand es, wie er nur allzu genau erfahren hatte, einem jungen Manne ganz und gar nicht frei, so mir nichts dir nichts eine junge unverheiratete Dame anzusprechen, außer unter ganz bestimmten und nur sehr selten auftretenden Umständen. Hier in Vevey aber – konnte es noch bessere Umstände geben als die momentanen? Da kommt ein hübsches amerikanisches Mädchen des Weges und stellt sich in einem Garten mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt vor einen hin. Dieses hübsche amerikanische Mädchen hörte sich Winterbournes Bemerkung an und warf ihm dann, was auch immer das bedeuten sollte, bloß einen flüchtigen Blick zu. Danach wandte sie den Kopf wieder ab und sah über die Brüstung hinweg zum See und zu den jenseitigen Bergen hin. Er fragte sich, ob er wohl zu weit gegangen sei, erkannte dann aber für sich die Notwendigkeit eines weiteren mutigen Vorstoßes anstelle des Rückzugs. Während er noch überlegte, was er als Nächstes sagen könnte, wandte sich die junge Dame wieder dem Jungen zu, den sie ganz so an­redete, als wären sie beide allein. »Ich würde ganz gern wissen, woher du diesen Stock hast.«

»Ich habe ihn gekauft!«, rief Randolph.

»Du hast aber nicht vor, ihn mit nach Italien zu nehmen.«

»Doch, ich nehm ihn mit nach Italien!«, ließ sich der Knabe vernehmen.

Sie warf kurz einen Blick über die Vorderseite ihres Kleides und strich die eine oder andere Bandschleife glatt. Dann ließ sie ihre allerliebsten Augen wieder über das Panorama schweifen. »Also, ich denke, du lässt ihn besser hier irgendwo zurück«, meinte sie gleich darauf beiläufig.

»Sie fahren nach Italien?«, entschloss sich Winterbourne sehr respektvoll nachzufragen.

Sie warf ihm einen Blick voll anmutiger Distanziertheit zu. »Ja, Sir«, antwortete sie dann. Und sprach kein weiteres Wort.

»Und denken Sie dabei – eh – an den Simplon?«, forschte er mit leicht nachlassender Selbstsicherheit weiter.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Irgendein Berg wird’s wohl sein. Randolph, an welchen Berg denken wir?«

»An welchen Berg wir denken?« Der Junge riss die Augen auf.

»Na, über den wir hinüberwollen.«

»Wohinüber wollen?«, wollte er wissen.

»Na, nach Italien hinüber.« Winterbourne verspürte das vage Bedürfnis, bei diesem Frage-und-Antwort-Spiel nicht fehlen zu dürfen.

»Ich weiß nicht«, sagte Randolph. »Ich will gar nicht nach Italien. Ich will nach Amerika.«

»Oh – Italien ist ein schönes Land!«, meinte der junge Mann lachend.

»Kriegt man dort auch Bonbons?«, wollte Randolph von seinen Echos wissen.

»Hoffentlich nicht«, sagte seine Schwester. »Nach meiner Meinung hast du genug Bonbons gekriegt, und nach Mutters Ansicht ebenfalls.«

»Ich hab schon seit Ewigkeiten keine mehr gekriegt – seit hundert Wochen lang nicht mehr!«, rief der Junge und hüpfte noch immer durch die Gegend.

Die junge Dame inspizierte ihre Rüschen und glättete ihre Bandschleifen ein weiteres Mal, und Winterbourne riskierte sogleich einen Kommentar bezüglich der Schönheit des Ausblicks. Seine Unsicherheit nahm ab, denn er begann zu begreifen, dass die Amerikanerin tatsächlich ganz und gar nicht peinlich berührt oder verlegen war. Sie war vielleicht kühl, sie war vielleicht abweisend, sie war vielleicht sogar spröde, denn augenscheinlich war dies – den verallgemeinernden Schluss hatte er bereits gezogen – eine für die ganz besonders »zurückhaltenden« amerikanischen Mädchen typische Verhaltensweise: Sie kamen dahergeschneit und pflanzten sich direkt vor einem auf, um zu demonstrieren, wie gnadenlos unnahbar sie waren. Doch es war nicht einmal der Hauch eines Errötens über ihren frischen und hellen Teint gehuscht, was bedeutete, dass sie ganz eindeutig weder gekränkt noch verwirrt war. Sie bestand bloß – auch das war ihm zuvor schon begegnet – aus reizenden kleinen Teilchen, die nicht zueinanderpassten und kein einheitliches Bild ergaben; und wenn sie woandershin schaute, sobald er sie ansprach, und ihn auch gar nicht richtig zu hören schien, dann war das einfach ihr Wesen, ihre Art des Umgangs, das Ergebnis ihrer vollkommenen Unwissenheit in Bezug auf »Form und Anstand« (wo in aller Welt sollte sie die auch mitbekommen haben bei einem so kompromittierenden Anhängsel wie Randolph?) in einer solchen Situation. Während er noch ein wenig weiterplauderte und auf einige der sich dem Blick darbietenden Sehenswürdigkeiten aufmerksam machte, von denen sie anscheinend nicht die leiseste Ahnung hatte, gewährte sie ihm nach und nach dennoch mehr von der Gunst ihrer Aufmerksamkeit, und schließlich erlebte er diesen Vorgang als einen, der von keinerlei Vorbehalten getrübt war. Was sie darbot, war jedoch nicht das, was man eine »dreiste Stirn« hätte nennen können, denn ihr Gesichtsausdruck war von so unaufdringlicher Lauterkeit wie das klarste Wasser. Ihre Augen waren die schönsten, die man sich nur denken konnte, und Winterbourne hatte in der Tat schon seit Längerem nichts gesehen, das schöner gewesen wäre als die verschiedenen äußeren Merkmale dieser holden Landsmännin – ihr Teint, ihre Nase, ihre Ohren, ihre Zähne. Ein solches Arrangement einzelner Effekte interessierte ihn schon an sich ganz außerordentlich, und der bewussten Wahrnehmung derselben und ihrer – sozusagen – Verankerung in seinem Gedächtnis konnte er sich richtig hingeben, und so kam es, dass er hinsichtlich des Gesichtes dieser jungen Dame diverse Beobachtungen machte. Zwar war es alles andere als abgeschmackt; gleichzeitig war es aber auch nicht betont (was in aller Welt gab es für sie zu betonen?) ausdrucksvoll, und obwohl es eine solche Auswahl an Feinheiten und Zierlichkeiten bot, bezichtigte er es, sehr nachsichtig, im Geiste eines Mangels an Vollkommenheit. Seiner Ansicht nach war es nur allzu wahrscheinlich, dass die Zurschaustellerin dieses Antlitzes sehr wohl ihre eigenen Erfahrungen mit der Wirkung ihres Liebreizes gemacht und sich infolgedessen auch ein entsprechendes Selbstbewusstsein zugelegt hatte. Sollte sie sich allerdings dessen als ihres hauptsächlichen Amüsements und Zeitvertreibs bedienen, so verriet ihr heiteres, aufgewecktes, oberflächliches, süßes Gesichtchen keine Spur von Spott oder Ironie. Bald schon wurde klar, wie auch immer es um diese Dinge bestellt sein mochte, dass sie der Konversation gegenüber sehr aufgeschlossen war. Sie erzählte Winterbourne, man werde den Winter in Rom verbringen – sie und ihre Mutter und Ran­dolph. Sie fragte ihn, ob er ein »richtiger Amerikaner« sei; sie habe ihn nicht für einen solchen gehalten; er er­wecke eher den Eindruck eines Deutschen – diese Blüte wurde überreicht, als wäre sie aus einem bunten Strauß von Vergleichsmöglichkeiten ausgesucht worden –, besonders, wenn er spreche. Winterbourne antwortete lachend, dass er zwar schon Deutsche getroffen habe, die wie Amerikaner sprachen, aber noch nie, soweit er sich erinnern könne, einen Amerikaner mit der von ihr bemerkten Eigenheit. Dann fragte er sie, ob sie es denn nicht komfortabler fände, wenn sie sich auf die Bank niederließe, von der er gerade aufgestanden war. Sie antwortete, sie stehe ganz gerne »in der Gegend herum«, um dann trotzdem gleich darauf ergeben auf die Bank zu sinken. Sie erzählte ihm, sie stamme aus dem Staat New York, »falls Sie wissen, wo das ist«; doch eine nachhaltige Beschleunigung erfuhr dieses Parlando, nachdem sich unser Freund ihres quirligen kleinen Bruders bemächtigt hatte und ihn ein paar Minuten lang an seiner Seite stehen ließ.

»Jetzt sag mir mal deinen ehrenwerten Namen, mein Junge«, fuhr er listig fort.

Worauf das Kind tatsächlich mit der reinen Wahrheit reagierte: »Randolph C. Miller. Und den ihren sag ich dir auch.« Wobei er mit seinem Bergstock auf seine Schwester zielte.

»Du wartest gefälligst, bis man dich darum bittet!«, sagte die betroffene junge Dame in aller Ruhe.

»Ich würde Ihren Namen aber wirklich gern erfahren«, gestattete sich Winterbourne die Freiheit zu erwidern.

»Sie heißt Daisy Miller!«, rief der Lausbub. »Aber das ist gar nicht ihr richtiger Name. Das ist nicht der Name, der auf ihrer Karte steht.«

»Was für ein Jammer, dass du gerade keine Karte von mir dabeihast!«, bemerkte Miss Miller genauso gelassen.

»In Wirklichkeit heißt sie Annie P. Miller«, fuhr der Junge fort.

Erstaunlicherweise schien ihr das zu gefallen. »Und jetzt frag ihn mal nach seinem Namen« – und zeigte auf den gemeinsamen Freund.

Dieser Punkt schien aber für Randolph absolut uninteressant zu sein; er lieferte stattdessen weitere Einzelheiten bezüglich seiner eigenen Familie nach. »Mein Vater heißt Ezra B. Miller. Mein Vater ist nicht in Europa – er ist an einem besseren Ort als Europa.« Einen Moment lang ver­mutete Winterbourne, dass dies die Formulierung sei, die man dem Kind beigebracht hatte, um anzudeuten, dass Mr Miller in die Welt himmlischen Lohnes abberufen wor­den war. Doch Randolph fügte sofort hinzu: »Mein Vater ist in Schenectady. Er hat eine große Firma. Mein Vater ist nämlich reich, und wie!«

»Also, so was!«, stieß Miss Miller hervor, senkte ihren Sonnenschirm und betrachtete den bestickten Rand. Winterbourne ließ sogleich den Kleinen los, der sich davonmachte und dabei seinen Bergstock den Weg entlangschleifte. »Er mag Europa nicht«, sagte das Mädchen, als hätte sie einen natürlichen Instinkt für bedeutende Wahrheiten. »Er will wieder nach Hause.«

»Nach Schenectady, meinen Sie?«

»Ja, er will unbedingt wieder heim. Hier hat er keine gleichaltrigen Freunde. Einen Jungen gibt es zwar hier, aber der ist dauernd in Begleitung seines Lehrers. Die lassen ihn überhaupt nicht spielen.«

»Und Ihr Bruder hat keinen Lehrer?«, begehrte Winterbourne zu wissen.

Er brachte damit eine Quelle vertraulicher Mitteilungen zum Sprudeln. »Mutter hatte schon vorgehabt, ihm einen zu besorgen – einen, der mit uns herumreist. Eine Frau hat ihr was von einem sehr guten Lehrer erzählt; eine Amerikanerin – vielleicht kennen Sie sie ja –, Mrs Sanders. Ich glaube, sie war aus Boston. Sie hat ihr also von diesem Lehrer erzählt, und wir hatten ihn dazu kriegen wollen, dass er mit uns herumreist. Aber Randolph sagte, dass er keinen Lehrer will, der mit uns herumreist. Er sagte, dass er in der Eisenbahn keinen Unterricht haben will. Und wir sitzen tatsächlich fast die Hälfte der Zeit in der Eisenbahn. Da war diese Engländerin, die wir in der Eisenbahn kennen­gelernt haben – ich glaube, sie hieß Miss Featherstone – vielleicht kennen Sie sie ja. Sie wollte wissen, warum ich Randolph keinen Unterricht gebe – ihm keine ›Unterweisung erteile‹, wie sie das nannte. Schätzungsweise kann der mir mehr Unterweisung erteilen, als ich ihm. Er ist recht clever.«

»Ja«, sagte Winterbourne, »er macht einen recht cleveren Eindruck.«

»Mutter wird ihm einen Lehrer besorgen, sobald wir nach Italien kommen. Kriegt man in Italien gute Lehrer?«

»Sehr gute, würde ich meinen«, beeilte sich Winterbourne zu antworten.

»Oder aber sie sucht ihm eine Schule. Er sollte noch ein bisschen was dazulernen. Er ist erst neun. Später geht er aufs College.« Und auf diese Weise fuhr Miss Miller fort, über die Angelegenheiten ihrer Familie zu plaudern und über andere Themen. Sie saß da mit ihren äußerst hübschen Händen, welche, mit sehr brillanten Ringen geschmückt, gefaltet auf ihrem Schoß lagen, und ihren sehr hübschen Augen, die mal auf Winterbournes Augen verweilten, mal über den Garten schweiften, über die Menschen, die vor ihr vorbeigingen, und über die schöne Aussicht. Sie sprach zu ihrem neuen Bekannten, als würde sie ihn schon seit langer Zeit kennen. Er fand das sehr vergnüglich. Es lag schon viele Jahre zurück, seit er ein junges Mädchen so viel hatte reden hören. Man hätte von dieser durch die Welt ziehenden Maid, die so einfach dahergekommen war und sich neben ihn auf eine Bank gesetzt hatte, sagen können, dass sie plapperte. Sie war ganz entspannt, sie saß in bezaubernd ruhiger Pose da, aber ihre Lippen und ihre Augen bewegten sich ununterbrochen. Sie hatte eine weiche, dünne, angenehme Stimme, und ihr Umgangston war voll und ganz ungezwungen. Sie erstattete Winterbourne Bericht über ihre bisherige Reisetätigkeit und die noch anstehenden Vorhaben in Europa sowie über die ihrer Mutter und ihres Bruders, wobei sie insbesondere die verschiedenen Hotels aufzählte, in denen sie abgestiegen waren. »Diese englische Dame in der Eisenbahn«, sagte sie, »Miss Featherstone, sie fragte mich, ob wir in Amerika nicht alle in Hotels lebten. Ich habe ihr gesagt, dass ich in meinem ganzen Leben noch nicht in so vielen Hotels war wie jetzt in Europa. Ich habe so viele Hotels überhaupt noch nie gesehen – ganz Europa ist ein einziges Hotel.« Doch war diese Äußerung Miss Millers keineswegs von nörgelnden Untertönen begleitet; sie schien mit sich und der Welt in bestem Einvernehmen zu sein. Sie verkündete, die Hotels seien sehr gut, wenn man sich erst einmal an ihre Eigenheiten gewöhnt habe, und Europa sei ganz entzückend. Sie sei gar nicht enttäuscht, kein bisschen. Das komme vielleicht daher, dass sie schon zuvor so viel darüber gehört habe. Sie habe ja so viele Freunde, die ja schon so oft hier gewesen seien, und so sei sie auf diese Weise immer umfassend auf dem Laufenden geblieben. Und dann habe sie ja zu Hause noch jede Menge Kleider und andere Sachen aus Paris gehabt. Sie hätte sich nur ein Kleid aus Paris anzuziehen brauchen, um sich schon wie in Europa zu fühlen.

»Das hat dann wie ein Zaubermantel gewirkt«, warf Win­terbourne lächelnd ein.

»Ja«, bestätigte Miss Miller eilends und ohne weiter über diesen Vergleich nachzudenken. »Jedes Mal verspürte ich dann diesen Wunsch, in Europa zu sein. Aber wegen der Kleider hätte ich nicht herzukommen brauchen. Mit Sicher­heit schicken sie die schönsten alle nach Amerika. Hier sieht man bloß die grauenhaftesten Sachen. Das Einzige, das mir nicht gefällt«, fuhr sie fort, »ist das Gesellschaftliche. Gesellschaftlich ist hier gar nichts los – oder wenn was los ist, dann weiß ich nicht, wo das stattfinden soll. Sie vielleicht? Vermutlich gibt es irgendwo da draußen schon so was wie eine Gesellschaft, bloß habe ich davon noch nichts mitgekriegt. Ich liebe Gesellschaften heiß und innig, und zu Hause bin ich praktisch dauernd unterwegs von einer zur anderen. Und zwar nicht bloß in Schenectady, sondern auch in New York. Über den Winter bin ich immer nach New York gegangen. In New York hatte ich jede Menge Gesellschaft. Letzten Winter haben sie siebzehn Dinnerpartys für mich gegeben, drei davon waren Einladungen von Herren«, fügte Daisy Miller hinzu. »In New York habe ich mehr Freunde als in Schenectady – mehr männliche Freunde. Und mehr gleichaltrige Freundinnen auch«, fiel ihr gleich darauf ein. Erneut hielt sie einen Augenblick lang inne. Mit all der Anmut ihrer offenen grauen Augen und ihres aufrichtigen, doch etwas stereotypen Lächelns sah sie Winterbourne an. »Schon immer«, so sagte sie, »war ich reichlich von Herren umgeben.«

Der arme Winterbourne war belustigt und verdutzt – vor allem aber war er hingerissen. Er hatte bislang noch nie ein Mädchen sich auf ebendiese Weise ausdrücken hören, jedenfalls noch nie, ohne dass sich die Sprecherin nicht gleichzeitig auch der beträchtlichen Vielschichtigkeit des Gesagten bewusst gewesen wäre. Aber wer war er, um Miss Daisy Miller tatsächlicher oder vermeintlicher arrière-pensées anzuklagen, wie sie in Genf sagten? Ihm kam es vor, als lebte er nun schon so lange in Genf, dass er moralisch ganz aus der Bahn geraten war. Ihm war der rechte Sinn für den Ton der amerikanischen Jugend abhandengekommen. Tat­sächlich hatte er noch nie, seit er alt genug geworden war, um Dinge bewusst wahrzunehmen, eine junge Landsmännin von so typischer und »starker« Ausprägung getroffen wie diese. Selbstverständlich war sie ganz bezaubernd, aber wie war sie doch gleichzeitig auch so außergewöhnlich mitteilsam und so immens unkompliziert! War sie einfach nur ein hübsches Mädchen aus New York State? Und waren sie alle so, die hübschen Mädchen, die reichlich von Herren umgeben waren? Oder hatte er hier nicht auch eine gewiefte, eine dreiste, kurzum eine erfahrene junge Person vor sich? Jawohl, sein Instinkt in solchen Fragen stand ihm nicht mehr zur Verfügung, und sein Verstand konnte ihn nur allzu leicht in die Irre führen. Miss Daisy Miller sah aus­nehmend unschuldig aus. Einerseits war ihm gesagt worden, dass amerikanische Mädchen eben tatsächlich über­aus naiv und unverdorben seien, andererseits hatte er gehört, sie seien es eben nicht. So war es wohl am besten, wenn er Miss Daisy Miller als einen Flirt betrachtete, als einen hübschen amerikanischen Flirt. Noch nie zuvor hatte er Beziehungen mit Vertreterinnen dieser Spezies gepflegt. Hier in Europa hatte er zwei oder drei Frauen gekannt – älter als Daisy Miller und, aus Gründen der Ehrbarkeit, mit Ehegatten versehen –, die große Koketten gewesen waren, gefährliche, unheimliche Frauen, bei denen ein unverfängliches Geplänkel sehr wohl eine verfängliche Wendung nehmen konnte. Doch war diese reizende Erscheinung neben ihm keine Kokette in jenem Sinne. Sie war sehr arg­los und ungekünstelt, sie war nichts weiter als ein hübscher amerikanischer Flirt. Winterbourne verspürte beinahe Dank­­barkeit, weil es ihm gelungen war, Miss Daisy Miller auf eine passende Formel zu bringen. Er lehnte sich zurück; er stellte im Stillen fest, dass sie die schönste kleine Nase hatte, die ihm je untergekommen war; er fragte sich, nach welchen Spielregeln und innerhalb welcher Grenzen sich der Umgang mit einem hübschen amerikanischen Flirt wohl abspielen werde. Gar nicht lange und es zeigte sich, dass er bereits im Begriff stand, es zu erfahren.

»Waren Sie schon mal dort drüben bei der alten Burg?«, fragte das Mädchen alsbald und deutete mit dem Parasol auf die weithin hell schimmernden Mauern des Château de Chillon.

»Ja, früher, und mehr als einmal«, sagte Winterbourne. »Sie haben es sich doch wahrscheinlich auch schon angesehen, oder nicht?«

»Nein, bisher noch nicht. Ich möchte schrecklich gern mal dorthin. Auf jeden Fall will ich dahin. Ich reise nicht von hier ab, ohne die alte Burg besichtigt zu haben.«

»Es ist ein sehr netter Ausflug«, gab der junge Mann zurück, »und ganz leicht zu arrangieren. Sie können mit der Kutsche hinfahren, oder Sie können das kleine Dampfschiff nehmen.«

»Man kann auch mit der Eisenbahn hinfahren«, sagte Miss Miller.

»Ja, man kann auch mit der Eisenbahn hinfahren«, bestätigte Winterbourne.

»Unser Cicerone sagt, dass die Bahn einen bis direkt vor die Burg bringt«, fügte sie hinzu. »Letzte Woche waren wir schon auf dem Weg, aber Mutter konnte dann nicht mehr weiter. Sie leidet ganz schrecklich unter Verdauungs­störungen. Sie sagte, wenn sie jetzt noch einen Schritt weitergeht –!« Doch blieb die so begonnene Skizze von Mrs Mil­lers Flehen unvollendet. »Randolph wollte sowieso nicht hin. Er sagt, er macht sich nichts aus alten Burgen. Wir werden wohl diese Woche hinfahren, falls wir Randolph dazu kriegen können.«

»Ihr Bruder interessiert sich also nicht für historische Denkmäler?«, fragte Winterbourne nachsichtig.

Jetzt benutzte er jede Gelegenheit, um sie zum Reden »anzustiften«, wie sie das vermutlich selbst genannt hätte. »Nee, er sagt, alte Burgen sind ihm egal. Er ist ja erst neun. Ihm gefällt’s im Hotel. Mutter hat Angst, ihn alleinzulas­sen, und der Cicerone hat keine Lust, bei ihm zu bleiben. Also haben wir bis jetzt noch nicht viel besichtigt. Aber wenn wir dort nicht hingehen würden, wär’s wirklich jam­merschade.« Und Miss Miller deutete erneut zum Château de Chillon hinüber.

»Ich dächte doch, dass sich das arrangieren ließe«, er­kühnte sich Winterbourne darob zu erwidern. »Haben Sie denn niemanden bei der Hand, der – nur für einen Nach­mittag – bei Randolph bleibt?«

Miss Miller sah ihn einen Augenblick lang an und meinte dann mit größter Gelassenheit: »Könnten Sie ihn denn nicht beaufsichtigen?«

Er tat, als erwöge er den Vorschlag. »Eigentlich würde ich viel lieber mit Ihnen nach Chillon fahren.«

»Mit mir?«, fragte sie ohne auch nur den Anflug einer Gefühlsregung.

Sie erhob sich keineswegs und errötete auch nicht, wie das eine junge Person in Genf getan hätte; aber wohl wis­send, dass er sehr weit gegangen war, hielt Winterbourne einen innerlichen Rückzug ihrerseits durchaus für möglich. »Und mit Ihrer Mutter«, antwortete er sehr ehrerbietig.

Doch schien es, als wären bei Miss Miller sowohl seine Kühnheit als auch seine Ehrerbietung verschwendete Mühen. »Wegen Ihnen kommt Mutter wohl nicht mit«, sagte sie lächelnd. »Und so fürchterlich scharf auf die Burg ist sie sowieso nicht. Sie mag nachmittags nicht in der Gegend herumfahren.« Woraufhin sie vertraulich fortfuhr: »Aber haben Sie das im Ernst gemeint, was Sie gerade sagten – dass Sie ganz gern dorthin wollten?«

»Das war mein vollster Ernst«, erklärte Winterbourne.

»Dann lässt es sich vielleicht organisieren. Wenn Mutter bei Randolph bleibt, wird Eugenio schätzungsweise auch bei ihm bleiben.«

»Eugenio?«, echote der junge Mann.

»Eugenio ist unser Cicerone. Er bleibt nicht gern bei Randolph. Er ist der mäkeligste Mann, der mir je begegnet ist. Aber als Reiseführer ist er toll. Wenn Mutter bei Ran­dolph bleibt, wird er wohl auch dableiben, und dann könnten wir beide zu der Burg fahren.«

Winterbourne dachte einen Moment lang so scharf nach, wie er nur konnte. »Wir« konnte nur bedeuten: Miss Miller und er selbst. Diese Aussicht schien zu verlockend, um wahr zu sein. Eigentlich drängte es ihn, der jungen Dame unverzüglich die Hand zu küssen. Nicht ausgeschlossen, dass er es sogar getan – und damit seine große Chance verpatzt hätte, wäre nicht im selben Augenblick eine weitere Person aufgetaucht – vermutlich Eugenio. Ein hoch­gewachsener und gut aussehender Mann mit prachtvollem Backenbart, angetan mit samtenem Cutaway und schwerer Uhrkette, trat auf die junge Dame zu und besah sich dabei ihren Begleiter scharfen Blickes. »Oh, Eugenio!«, sagte sie auf die liebenswürdigste Weise.

Nachdem er zuerst Winterbourne von Kopf bis Fuß gemustert hatte, machte Eugenio eine gravitätische Verbeugung zu Miss Miller hin. »Ich habe die Ehre, Mademoiselle davon in Kenntnis zu setzen, dass man den Lunch bereits serviert hat.«

Mademoiselle erhob sich langsam. »Was sagen Sie dazu, Eugenio? Jetzt komme ich doch noch zu der alten Burg da hin.«

»Zum Château de Chillon, Mademoiselle?«, fragte der Reiseführer nach. »Mademoiselle hat bereits disponiert?«, fügte er in einem Ton hinzu, den Winterbourne als impertinent empfand.

Eugenios Ton ließ, auch nach Miss Millers eigener Wahr­nehmung, ihre momentane Situation in einem leicht spöt­tischen Licht erscheinen. Unmerklich errötet wandte sie sich an Winterbourne. »Und Sie werden sich auch nicht drücken?«

»Ich bin erst glücklich, wenn wir aufbrechen!«, protestierte er.

»Und Sie wohnen auch hier im Hotel?«, fuhr sie fort. »Und Sie sind auch wirklich Amerikaner?«

Der Cicerone stand immer noch auf eine Weise da, die für den jungen Mann Ärgernis erregend war insofern, als Letzterer darin eine stumme Reaktion auf Miss Millers Verhalten erkannte sowie auch die Unterstellung, sie »lese« sich ihre Bekannten »einfach so von der Straße auf«. »Es wird mir eine Ehre sein, Ihnen jemanden vorstellen zu dürfen, der Ihnen alles über mich erzählen wird«, sagte er lächelnd und spielte auf seine Tante an.

»Na schön, irgendwann fahren wir hin«, antwortete Miss Miller großartig, schenkte ihm dabei ihrerseits ein Lächeln und schickte sich zum Gehen an. Sie spannte ihren Sonnenschirm auf und spazierte an Eugenios Seite zurück zum Gasthof. Winterbourne sah ihr nach, und während sie sich immer weiter entfernte und der Faltensaum ihres Kleides hinter ihr über den Weg schleifte, führte er Selbstgespräche über ihre natürliche Eleganz.