image

Das Auge
des Abyssus

Ein regelloses Einsteiger-Soloabenteuer in einer Welt des Grauens
von Karl-Heinz Zapf

Gewidmet allen TeilnehmerInnen der MantiCon und von DIES LUDI – Tage der Spiele – im Jahr 2015. Lasst heute Nacht besser das Licht an …

1. Auflage

Veröffentlicht durch den
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK
Frankfurt am Main 2015
www.mantikore-verlag.de

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK

Text & Idee: Karl-Heinz Zapf
Illustrationen & Titelbild: Ulrike Kleinert
Layout & Satz: Karl-Heinz Zapf
Lektorat: Alexander Kühnert & Karl-Heinz Zapf
Bildbearbeitung: Karl-Heinz Zapf
VP: 119-101-01-05-0516

ISBN: 978-3-945493-66-3

W ie lange ist es nun eigentlich schon her, seit du deinen Schulkameraden und alten Freund Michael Singer zum letzten Male gesehen hast? Mit einem leisen Schmunzeln erinnerst du dich an die vielen langen Abende, die ihr bei einer guten Tasse Tee und mit überaus interessanten Gesprächen zugebracht habt.

In diesen Gesprächen habt ihr beide immer wieder die Themen Theologie, Esoterik und Okkultismus gestreift. Michael schien schon seit frühester Jugend an von diesen Dingen und vor allem dem Aberglauben der Menschen fasziniert zu sein und während du dich für einen soliden Beruf entschieden hast, wählte er ein umfangreiches, jahrelanges Studium, um sein Wissen in dieser Hinsicht noch weiter zu vergrößern.

Bei manchen der späteren Diskussionen erschien er dir fast schon unheimlich, wenn er mit fanatischer Begeisterung und einem unirdischen Leuchten in den Augen von seinen Fortschritten erzählte und den privaten Forschungen, die er obendrein betrieb.

Aber trotz dieser seltsamen Marotten und Launen blieb er natürlich dein treuer Freund und Weggefährte, und es schien fast so, als könne nichts eure Freundschaft zerstören. Doch das Unglück erschien schließlich in Gestalt einer jungen Frau, einer Mitstudentin von Michael namens Sylvia Lanz. Sie schien ihn vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an in ihren Bann zu ziehen und da auch sie einen starken Hang zum Okkultismus verspürte, wurde Michaels Interesse an ihr nur noch weiter entfacht.

Dies wäre ja an sich nicht weiter schlimm gewesen, denn dir war schon seit langem klar geworden, dass dein Freund jemanden an seiner Seite brauchte, der wirkliches Interesse für sein Studium und gleichzeitig ausgefallenes Hobby aufbrachte.

Sylvia schien genau die richtige Partnerin für ihn zu sein. In der Tat war sie eine durchaus attraktive junge Frau von einnehmendem, intelligentem Wesen. Aber von Anfang an erschien sie dir auf unerklärliche Weise weit mehr als einfach nur exzentrisch. Sie hatte eine merkwürdige, fast überhebliche Art an sich und ein so seltsames, wissendes und spöttisches Lächeln …

Die Besuche Michaels wurden danach jedenfalls immer seltener und bei diesen Gelegenheiten erschien er dir kaum noch ein junger, aufgeweckter Mann zu sein. Sondern eher so, als wäre er um Jahre gealtert und von Sorgen niedergedrückt, über die er aber immer nur sehr vage Andeutungen machte. Sylvia musste allerdings etwas mit seinem Zustand zu tun haben und jedesmal, wenn du bei den immer seltener werdenden Gesprächen ihren Namen erwähntest, zuckte er zusammen und sah sich unbehaglich und misstrauisch um.

Schließlich hörten seine Besuche schlagartig ganz auf und obwohl du dir einige Gedanken gemacht hast, bist du beim besten Willen nicht dazu gekommen, dich bei ihm zu melden. Aber als du dann heute von deinem Büro nach Hause gekommen bist, fiel dir sofort der unfrankierte Umschlag im Briefkasten auf, der an dich adressiert war und als Absender nur Michaels Namen trug. Er enthielt eine kurze, mit zittriger Hand geschriebene Notiz, die deine schlimmsten Ahnungen und Vorstellungen bei weitem übertraf …

Nun gab es kein Zögern mehr für dich: Nach der langen Zeit voller Ungewissheit und der unterbewussten Zweifel wurde dir zweifelsfrei klar, dass du endlich etwas unternehmen musst (O)

Mein lieber Freund,

ich habe kaum noch Zeit, diese wenigen Zeilen zu schreiben, denn bald schon wird sie kommen, um mich zu holen.

Um unserer alten Freundschaft willen flehe ich dich an, komm rasch hierher und hilf mir! Sylvia und ich sind zu weit gegangen und nun kann sie nichts mehr aufhalten.

Mein Freund, ich habe solche Angst vor ihr …

Diese Notiz wird ein Nachbarjunge bei dir einwerfen, denn sie lässt mich nicht mehr aus dem Haus, nicht mehr aus den Augen! Und schon gar nicht heute, meiner vielleicht letzten Nacht auf dieser Welt! Bitte komm rasch, denn ich fürchte um meinen Verstand und um mein Leben!

Dein alter Freund Michael

0 Die kühle Dunkelheit des Winterabends empfängt dich mit offenen, begierigen Armen auf deinem – von düsteren Vorahnungen geplagten – Weg zu Michaels Haus, das am Stadtrand nahe am Wald liegt. Er hatte es von seinen verstorbenen Eltern geerbt, ehemals wohlhabenden, einflussreichen Leuten. Bei diesem Gedanken fällt dir urplötzlich auf, wie lange du schon nicht mehr dort gewesen bist und ein eigentümliches Gefühl böser Vorahnung beschleicht dich.

Schließlich aber kommst du am Ende der abgelegenen Straße an und erschrickst leicht, als sich die Umrisse des finster und abweisend wirkenden Hauses deines Freundes aus dem Nebel herausschälen.

Das Gebäude ist völlig dunkel, nirgendwo ist ein Licht zu entdecken und die Läden der Vorderfront sind offensichtlich alle geschlossen und verriegelt. Du erinnerst dich mit einem Frösteln an den Brief und überlegst, ob du erst einmal zu Michaels nebenan wohnenden Nachbarn (4), oder zur Haustür gehen und dort läuten sollst (60). Du kannst aber auch versuchen, die Türe zu öffnen, um so ins Haus einzudringen (9), oder aber nach einem unverschlossenen Fenster im Erdgeschoss suchen (64). Oder du überlegst es dir jetzt noch anders und versuchst herauszufinden, wo Sylvia Lanz wohnt, um dort nachzuforschen (56).

1 Du erreichst die Tür zu Michaels Zimmer, öffnest sie und trittst ein. Im Gegensatz zu dem sonst ‚überall herrschenden Eindruck von Unbewohntheit sieht dieses Zimmer ganz gewöhnlich aus. Es ist gemütlich eingerichtet, dennoch fühlst du dich irgendwie unwohl. Es kommt dir fast so vor, als würden unsichtbare Augen jeden deiner Schritte beobachten.

Eilig durchsuchst du die Schränke, Regale und den Schreibtisch, aber du findest lediglich das Tagebuch deines Freundes, Nach einigem Zögern entschließt du dich, es zu lesen, um so vielleicht einen wichtigen Hinweis zu finden. Hastig überfliegst du die in dem Buch niedergeschriebenen, letzten Einträge:

10. Januar: Habe heute wieder damit begonnen, in mein Tagebuch zu schreiben. Es ist lange her, seit ich das zuletzt getan habe. Aber ich muss die grauenhaften Ereignisse festhalten. Sylvia hat mir in den letzten Wochen von ihren okkulten Erfahrungen erzählt. Selbst ich bin entsetzt über ihre abschätzigen Vorstellungen vom Wert des menschlichen Lebens. Und von dem, was sie mit einem irren Grinsen von der Sphäre jenseits unserer Welt berichtet hat.

22. Januar: Am heutigen Tag hat Sylvia ihr okkultes Laboratorium im Keller fertiggestellt. Mich schaudert bei dem bloßen Gedanken an die unsäglichen Beschwörungen, die sie dort vollführen wird. Ich hätte es eigentlich ahnen müssen, als sie mir vor zwei Tagen jenen einsamen, verlassenen Ort im Wald gezeigt hat, an dem sie den größten Teil ihrer freudlosen Kindheit und Jugend verbracht hat, dass daraus nichts Gutes erwachsen kann, sondern nur blanker Irrsinn, Tod und Verderben. Was ich dort gesehen habe, was ich dort erleben musste … Warum bin ich nicht geflohen? Die Schatten, die zu leben schienen, auf eine blasphemische, abscheuliche Weise, und die tastenden Fühler, welche aus der lauernden, wartenden Dunkelheit hervorkrochen. Das jämmerliche Schluchzen in der Gruft war jedoch am unerträglichsten. Nur mit Grauen erinnere ich mich daran.

Dass ich nicht wahnsinnig geworden bin, erscheint mir heute wie ein Wunder! Aber ein grausames, böswilliges Wunder, denn der Tod scheint mir jetzt wie eine Erlösung von dem Bösen, das mich eisern umfangen hält. An diesem vergessenen Ort der Toten suchte Sylvia dann jene Habseligkeiten zusammen, die sie benötigte, um das Labor im Keller meines Hauses auszustatten. Und sie wusste nur allzu gut, wie sie sich jene schlurfenden und schmatzenden, jene unsichtbaren und doch nur allzu allgegenwärtigen Schrecken vom Leib halten konnte, die sich in der alten Familiengruft …

2. Februar: