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Peter Wagner

Gott ist eine Ratte


Für Inge, meine Alles!


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1

 

 

 

 

 

 

Peter Wagner

 

 

 

 

Gott ist eine Ratte

 

2

 

Als Jacques Gelee erwachte, spürte er zuerst einen Geschmack in seinem Mund, als hätte ihm eine Ratte auf die Zunge gepisst. Dafür gab es zwei mögliche Erklärungen. Entweder hatte er gestern Abend zuviel von dem Selbstgebrannten seines serbischen Nachbars Goran gesoffen, oder aber eine Ratte hatte ihm auf die Zunge gepisst. Das zweite, was Jacques Gelee wahrnahm war eine unreife Morgenlatte.

 

Vorsichtig öffnete er die verpennten Augen. Sein Blick suchte nach einer Antwort und fand sie auf dem kleinen Nachtisch, dem es nur mittelmäßig gelang, die Optik seines chaotischen Schlafzimmers zu verbessern. Dort stand die Flasche Schnaps. Ungeöffnet. Jungfräulich.

„Scheiße“, flüsterte er.

Er richtete sich mühsam auf, ergriff die Flasche und öffnete sie mit zittrigen Händen. Er nahm einen kräftigen Schluck, doch der Geschmack von ranzigem Ammoniak ließ sich nicht vertreiben.

 

Die Morgenlatte hatte sich in Sekundenschnelle in einen verschreckten Shrimp verwandelt…

 

3

 

 

Boss Hudson saß auf seinem Stammplatz, auf dem gelben Gasrohr unter der Kellerdecke, und blickte gedankenversunken auf seine Gruppe hinunter. Er führte sie seit mehr als zwei Jahren an, und er hatte sie vor unzähligen Gefahren beschützt. Bei der großen Überschwemmung im vorletzten November war es ihm gelungen, die gesamte Sippschaft vor dem Ertrinken zu retten. Nur zwei Monate später schaffte er es, sie in der Schlacht gegen die Katzen zum Triumph zu führen. Nur wenige, wenn auch sehr schmerzhafte Verluste, waren zu beklagen gewesen. Dass er in der Schlacht seinen Erstgeborenen Rocco hatte zurücklassen müssen, war unvermeidlich gewesen. Die Gruppe folgte ihm blind, dieses Vertrauen hatte er mit diesem Opfer zurückgeben müssen.

Er war jederzeit bereit, sein eigenes Leben für die große Rattenfamilie zu geben, die unzähligen Narben und das verlorene Auge bewiesen dies eindrucksvoll.

 

Doch wie sollte er die neueste Gefahr abwenden, die durch die Entdeckung ihres Nestes von diesem merkwürdigen Menschenmann ausging? Einem großkotzigem Kater die Fresse zu polieren war das eine, aber einem Menschen gegenüber zu treten, der ihm so dermaßen überlegen war… Zumindest körperlich überlegen. Dass Menschen unsagbar beschränkt sind, hatte er schon als junger Bock in der Rattenschule gelernt.

Aber dieser Typ war irgendwie anders, als die Exemplare, die er in seinem langen Leben immer wieder beobachtet hatte. Als er ihm gestern unvermittelt gegenüber gestanden hatte, war er nicht im Geringsten überrascht, oder gar entsetzt gewesen.

 

„Oh, eine Ratte“, mehr hatte der Typ nicht gesagt. Das alleine war ja noch nicht absonderlich. Doch dass er sich dann mit:

„Hi, ich bin Jacques“ vorgestellt hatte, war doch mehr als ungewöhnlich gewesen. Kein Ekel, keine Furcht, kein Hass. Lediglich eine naive Neugier stand dem Menschenmann im unrasierten Gesicht geschrieben. Seltsam!

Ohne richtig zu überlegen, hatte er geantwortet:

„Ich bin Boss Hudson“.

 

Ratten überlegen immer! Anführerratten machen eigentlich den ganzen Tag nichts anderes als zu überlegen. Doch die Reaktion des Mannes hatte Boss auf der falschen Pfote erwischt.

Das war das erste Mal, dass er das Wort an einen Menschen gerichtet hatte. Und es war vermutlich auch das erste Mal gewesen, dass dieser Typ von einem Tier eine Antwort bekommen hatte. Trotzdem schien er nicht im Geringsten überrascht gewesen zu sein. Sollten die Menschen etwa noch dämlicher sein, als er es bisher vermutet hatte? Unglaublich!

 

Boss putze sich gedankenverloren die Schnauze und blickte fragend durch den muffigen Kellerverschlag.

 

Ob es klug gewesen war, dem Typen letzte Nacht einen Besuch abzustatten? War es wirklich nötig gewesen, sein Revier so deutlich zu markieren? Hätten ein paar Kotknubbel vor dem Bett nicht genügt? Oder hätte es nicht ausgereicht, ihm auf die Decke zu pinkeln? Musste es denn unbedingt die Zunge sein?

 

Bisher waren die Menschen für Boss zwar einfältige, aber dennoch gefährliche Gegner gewesen. Aber dieser Jacques erschien ihm so harmlos. So unschuldig. Vielleicht war es gar nicht notwendig, ihm die natürlichen Grenzen derart aufzuzeigen? Möglicherweise waren die seit unzähligen Rattengenerationen übermittelten Sagen über die Menschen doch nur eine übertriebene Schwarzmalerei der Alten? Sollte gar dieser Jacques ein Freund sein?

Boss schloss sein verbliebenes Auge und geriet in tiefstes Grübeln.

 

4

 

 

Jacques schälte seinen hageren Körper ächzend aus dem Bett. Er hatte es eilig den ekelhaften Geschmack loszuwerden. Zähneputzen oder Kaffee trinken? Er entschied sich dazu, seine Zähne mit Kaffee zu putzen. Jacques dachte und handelte gerne pragmatisch.

Während sein Mundwasser durch die Maschine knatterte, versuchte er die schrägen Gedanken in seinem verwirrten Hirn zu sortieren. War es möglich, dass ihm gestern tatsächlich im Keller eine einäugige Ratte begegnet war? Eine sprechende, einäugige Ratte?! Vielleicht hatte ihm Goran mehr als eine Flasche dieses Teufelszeugs geschenkt, und er hatte gestern Abend doch eine geleert? Das würde sowohl den verfaulten Geschmack in seinem Mund, das volle Betthupferl, als auch die Verwirrung in seinem Hirn erklären. Aber seit wann gab es in Jacques` Leben einfache Erklärungen? Und seit wann war Goran großzügig? Aber das ließ sich ja leicht klären. Er gurgelte, spie aus und machte sich auf den Weg Antworten zu finden.

 

Er klingelte an Gorans Tür. Der Serbe musste zu Hause sein, und er musste bereits wach sein. Daran ließ der Balkanradau, der aus der Wohnung dröhnte, keinen Zweifel.

Jacques klingelte Sturm und hämmerte gegen die Tür. Endlich öffnete Goran die Tür einen Spalt weit.

„Was willst du denn?“, fragte er missmutig. Jacques lächelte freundlich in das halbe Gesicht, das er durch den kleinen Spalt erblickte.

„Sag mal, wie viele Flaschen von deinem Spezialgesöff hast du mir gestern geschenkt?“

„Natürlich eine! Denkst du, ich habe im Lotto gewonnen? Nur weil du vier Wochen meine Blumen gegossen hast, brauchst du nicht glauben, ich würde dich mit Reichtümern überhäufen.“

Jacques dachte nur „ Scheiße!“ und drehte sich wortlos wieder um. Er hörte schon nicht mehr, dass Goran seine Türe wieder verschlossen hatte.

 

Als er in seine Wohnung zurückgekehrt war, wollte er den Gedanken, der sich in seinem Hirn breit machte, nicht weiterdenken. Rattenpisse. RATTENPISSE! Er ging erstmal in Ruhe kotzen, danach würde er schon eine zündende Idee haben.

 

 

Nachdem er sich ausreichend verausgabt hatte, ging es ihm immer noch nicht besser. Außer, dass er zu dem widerlichen Uringeschmack jetzt auch noch die ätzende Magensäure schmeckte. Aber Jacques war nun endlich wach. Hellwach. Frühstück musste heute ausfallen. Er hatte dringende Fragen zu klären. Er durchwühlte seine liebevoll chaotisch gestaltete Wohnung nach einer Taschenlampe. Nach einer funktionierenden Taschenlampe. Schon die dritte, die er unter dem verstaubten Hirschgeweih fand, leuchtete auf Knopfdruck. Was wollte er noch mal mit dem alten Geweih anstellen? Aufhängen? Verscherbeln? Im fiel es in diesem Moment nicht ein. Egal. Er schnappte sich die Lampe und stampfte die vier Stockwerke bis zur Kellertreppe hinunter.

 

Als er die Tür aufschloss, fiel ihm auf, dass er auf Anhieb an die Kellerschlüssel gedacht hatte. Sehr ungewöhnlich! Wenigstens funktionierte sein sonst so poröses Gehirn heute einigermaßen. Er betätigte den Lichtschalter und die alte Glühbirne, die nackt von der Kellerdecke herabhing, spendete ihr geiziges Licht. Der vertraute Geruch nach altem Staub und muffigem Holz schlug ihm entgegen.

 

Er ging vorsichtig die ausgetreten Holzstufen hinab, trotzdem stieß er sich wie immer seinen Kopf an der niedrigen Decke. Das tat er immer, wenn er seine Gänge in den Keller machte. Warum ausgerechnet heute mit alten Traditionen brechen? Er rieb sich die Beule und ging weiter.

 

Als er vor seinem eigenem Kellerverschlag stand, versuchte er sich noch einmal an den gestrigen Tag zu erinnern. Warum war er gestern hier gewesen? Wann war ihm die alte Ratte begegnet? Wer hatte wen zuerst angesprochen? Dass er sich mit einer Ratte unterhalten hatte, war ihm nicht suspekt. Da hatte er schon verrücktere Dinge in seinem aberwitzigen Dasein erlebt. Viel verrücktere Dinge!

 

Er fuchtelte am Vorhängeschloss seines Kellerloches herum. Er hatte es bei seiner gestrigen Stippvisite wie immer nicht richtig verschlossen, sonder lediglich einschnappen lassen.

Endlich hatte er es aufgefummelt. Jetzt betätigte er auch den Lichtschalter in seinem Kellerraum. Die Glühbirne hier leuchtete noch armseliger als die im Kellertreppenaufgang, da sie zum Teil von dem unzähligen Gerümpel, das sich bis zur Decke stapelte, verdeckt wurde.

Er knipste die Taschenlampe an und schwenkte den Lichtschein suchend durch den muffigen Raum. Beim Anblick all der wunderbaren Sachen, die er in jahrelanger Fleißarbeit auf Müllhalden, im Sperrmüll und auf Flohmärkten zusammengetragen hatte, zauberte ihm ein Grinsen ins Gesicht. Der verrostete Kotflügel eines alten VW-Käfers, das Lattenrost eines Doppelbettes( leider ohne die benötigten Latten), das Kabel eines alten Volksempfänger( leider ohne den passenden Stecker), der vermoderte Nerz, der, - wenn Jacques mal ehrlich zu sich selbst gewesen wäre-, noch nicht mal mehr als Bettvorleger für das Pappbett eines Penners getaugt hätte.

 

Er zwang sich, seine Träumereien zu beenden, um sich seinem eigentlichem Vorhaben zu erinnern. Warum war er gestern noch mal hier gewesen? Ah ja! Er hatte eine passende Spule für die Nähmaschine gesucht, die er nachmittags im Sperrmüll aufgestöbert hatte. Bei dieser Suche hatte er den alten Lampenschirm aus Reispapier hoch gehoben. Und da hatte sie dann gesessen und ihn überrascht mit ihrem verbliebenen Auge angestarrt. Diese alte, vernarbte, dreckige Ratte mit ihrem schwarzen Fell. Zuerst hatte Jacques Gelee gedacht, es sei ein Nagerpirat, diesen Gedanken jedoch schnell verworfen, da sowohl Augenklappe als auch Holzpfote gefehlt hatten.

 

Wie es sich für einen Menschen mit ordentlichen Manieren gehörte, hatte er sich der Ratte vorgestellt. Scheinbar hatte sie auch eine anständige Erziehung genossen. Schließlich hatte sie brav geantwortet und ihm ihrerseits ihren Namen genannt. Boss Hudson. Ein sehr schöner Name. Auch für eine alte, einäugige Ratte. In diesen drei Silben klang sehr viel Respekt, ja geradezu Autorität mit.

 

Er hielt den Taschenlampenschein wieder auf den alten Schirm und hob ihn mit der anderen Hand vorsichtig hoch. Und wie gestern blinzelte die alte Ratte zu ihm hoch.

„ Ich habe dich schon erwartet. Du blendest mich übrigens“.

„Tschuldigung“.

 

Jacques lenkte den Lichtschein etwas nach oben. Dadurch warf das Gerümpel um sie herum die bizarrsten Schatten an die Wände. Der alte Rattenbock erschien Jacques in diesem gespenstischen Licht noch eine Spur verwegener.

 

Dennoch hatte er nicht vergessen, warum er in den Kellerraum zurückgekehrt war. Dafür war der Geschmack in seinem Mund einfach zu penetrant.

„Sag mal, kann es sein, dass du mir letzte Nacht... auf die Zunge,… äh …gepinkelt hast?“

„Tja. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, also ehrlich gesagt… Also das kann schon sein. Ähem. Also ja. Also das hab ich wohl gemacht, letzte Nacht“, hüstelte Boss Hudson verlegen.

„Und kannst du mir vielleicht auch verraten, warum du es getan hast?“

„Kannst du mir vielleicht verraten, warum du Toilettendeckel und Mund die ganze Nacht so weit offen lässt, dass jede Ratte dieser Stadt in dein Bad spazieren kann, in dein Bett klettern, und dir den Mund vollaufen lassen kann?“

„Vielleicht deshalb, weil ich nicht wirklich damit rechnen musste, dass mir so etwas passiert. Zumindest bis heute Morgen nicht. Außerdem hast du mir meine Frage noch nicht beantwortet: Warum?“

„Nun, ich wollte dir nur klarmachen, dass hier unten mein Revier ist. Ich habe vor Jahren diesen Keller erobert, und ihn seitdem mit allen Mitteln verteidigt.“

Boss hatte seine Brust stolz nach vorne gestreckt.

„Aber ich hab doch gar kein Interesse an deinem Revier. Ich will nur meine Ruhe haben.“

 

Jacques sah die alte Ratte mit einem Blick an, der von soviel Naivität und Unschuld sprach, dass Boss leise in sich hineinlächelte. Bisher hatte er immer gedacht, dass die Menschen die größte Gefahr für seine Spezies darstellen würden. Trotzdem sie so unsagbar dämlich waren, oder gerade weil sie so dämlich waren. Aber wenn er sich diesen Menschenmann genauer betrachtete, wie er da mit seinem stoppeligen, leeren Gesicht vor ihm stand. Nur in einem alten, befleckten Frotteebademantel gehüllt, eine ausgebeulte Jogginghose, ausgetretene Turnschuhe, lediglich mit einer Taschenlampe bewaffnet. Der war doch zu blöd eine Falle aufzustellen, geschweige denn sich einen geeigneten Köder auszudenken. Nein, diese armselige Kreatur war absolut ungefährlich für Boss Hudson und seinen Clan. Da waren ja die Kakerlaken aus der Waschküche noch bedrohlicher!

 

Jetzt hatte er schon beinahe so etwas wie Mitleid mit Jacques. Und ihn erfasste ein schlechtes Gewissen. Da hatte er wohl zu vorschnell und übertrieben reagiert. Sollte er auf seine alten Tage tatsächlich seine größte Stärke verlieren? Seine Weisheit, seine Souveränität? Er hatte in seinem langen Leben viele Entscheidungen treffen müssen. Nicht immer waren sie bequem gewesen, doch stets hatten sie sich als unabwendbar und richtig herausgestellt. Er hatte seine Gruppe durch alle Gefahren und Bedrohungen geführt, ohne dass sie besonders stark gelitten hatte. Ok, ein paar Verluste waren zu beklagen gewesen. Doch das waren Einzelschicksale gewesen. Was zählte, das war die Sippe. Die einzelne Ratte war unwichtig. Eine für Alle, niemand für Eine. Mit dieser harten, aber gerechten Regel war Boss all die Jahre erfolgreich gewesen. Sein Clan folgte ihm bedingungslos. Nie hatte auch nur ein Bock gegen ihn aufbegehrt. Warum auch? Alle lebten seit langer Zeit ohne jegliche Gefahren in diesem wunderbar muffigen Kellerloch. Hier gab es eine Menge warmer Plätzchen und reichlich Futter. Niemals waren sie gestört worden, und kein Mitglied seiner Gruppe hätte je einen Grund gehabt, sich zu beklagen.

 

Und da war dann plötzlich gestern dieser Mensch aufgetaucht. Boss hatte ihn zu spät bemerkt, und keine Zeit mehr gehabt sich zu verbergen. Sollte er tatsächlich seine Instinkte verlieren? Ließen ihn Ohren und Nase wirklich schon im Stich? Vielleicht wurde er zu alt für seine Anführerrolle? Aber wer hätte sein Nachfolger sein sollen? Die jahrelange Sorglosigkeit hatte die Mitglieder seiner Sippe träge und unvorsichtig werden lassen. Kein Zweifel, er hatte es versäumt sie wachsam und aufmerksam sein zu lassen. Jetzt war es wohl zu spät sich darüber Gedanken zu machen. Nun hieß es erst einmal, mit diesem Menschenmann klar zu kommen.

 

5

 

 

Goran Kostic ließ sich Vieles nachsagen. Aber eines war er sicher nicht: verschwenderisch. Er witterte ein gutes Geschäft lange bevor sich andere Menschen überhaupt Gedanken darüber machen würden. Wenn er die Gelegenheit sah, auch nur einen Cent zu sparen, so ergriff er sie umgehend.

Als er in seiner alten Heimat diesen alten Gasherd entdeckt hatte, wusste er sofort, dass ihm dieser alte Kasten eine Menge Geld sparen würde. Dem alten Bauern das verrostete Ding abzuschwatzen, war ein Leichtes gewesen. Schwieriger war es da schon gewesen, den Brocken bei seiner Rückkehr die vier Stockwerke hoch zu tragen. Aber Goran war sich noch nie zu schade gewesen, für ein gutes Geschäft eine Menge Schweißtropfen zu vergießen. Mit der alten Sackkarre, die er sich von seinem seltsamen Nachbarn „geliehen“ hatte, ging es dann doch einfacher als er es zuerst befürchtet hatte. Nun galt es nur noch, den Herd mit Gas zu versorgen. Also hatte er einen Schlauch aufgetrieben und ihn an das alte Ding angebracht. Für einen kurzen Moment hatte er mit dem Gedanken gespielt, vorsichtshalber neue Dichtungen zu besorgen. Aber er war ja schließlich kein Multimillionär. Wenn der Kasten auch seit Jahrzehnten in der alten serbischen Scheune gestanden hatte, so hieß das noch lange nicht, dass er nicht mehr funktionieren würde. Nun stand das klobige Ding inmitten seiner kleinen Küche und wartete nur darauf in Gang gesetzt zu werden.

Mit der Gewissheit, ein wirklich gutes Geschäft gemacht zu haben, hielt Goran Kostic grinsend ein Streichholz an den Gaszünder.

 

6

 

 

Die Explosion war selbst fünf Etagen tiefer noch ohrenbetäubend. Bevor Jacques Gelee den Knall hörte, hatte ihn schon eine riesige Druckwelle von den dünnen Beinen gerissen. Er wurde an die Wand geworfen, ein amputierter Kleiderständer knallte ihm auf dem Kopf, und er verlor das Bewusstsein.

Boss Hudson fiepte schrill, zu mehr Reaktionen war er in der kurzen Zeit nicht mehr fähig. Sein letzter Gedanke galt seiner ohne ihn absolut hilflosen Sippe, dann fiel auch er in eine tiefe, rabenschwarze Ohnmacht.

 

 

 

 

 

Der alte Gasherd hatte Goran Kostic in einen serbischen Eintopf verwandelt.

 

7

 

 

Als Jacques endlich wieder erwachte, schmeckte er keinen Urin mehr auf seiner Zunge. Gut! Dafür fühlte sich seine Zunge jetzt an, als ob sie einem Maurer als Kelle gedient hätte. Nicht gut! Mörtel, Zement und Staub hatten sich in Jacques` Mund zu einem schwer verdaulichen Brei verklumpt. Er hustete und spie aus.

Er öffnete die Augen und versuchte sich in dem dunklen, verstaubten Keller zu orientieren. Das war schon vor der Explosion nicht einfach gewesen. Nun war das Chaos noch größer. Vorher hatte alles seine eigene, geheime Ordnung gehabt, die sich Jacques in jahrelanger Arbeit zurechtgesammelt hatte. Er hatte immer genau gewusst, wo er all die Dinge hätte finden können, wenn ihm denn jemals eingefallen wäre, wofür sie zu gebrauchen gewesen wären. Im Moment wusste er noch nicht einmal, ob sich alle seine Knochen und Extremitäten an der Stelle seines Körpers befanden, wo sie hingehörten. Er versuchte vorsichtig sich zu bewegen. Erst die Finger, dann die Arme und die Beine. Zuletzt der Kopf. Schien alles noch da zu sein und zu funktionieren. Er versuchte ächzend, sich von der Last des Kleiderständers zu befreien, der immer noch auf seinem Hinterkopf lag. Nach einigen Versuchen gelang es ihm und er stellte sich auf seine wackeligen Beine. In seinen Ohren vernahm er lediglich einen sehr hellen Pfeifton, ähnlich einer Polizeisirene. Seine verklebten Augen gewöhnten sich nur sehr langsam an das dämmrige, verstaubte Licht. Er suchte den Boden ab und entdeckte endlich seine Taschenlampe, die den riesigen Knall tatsächlich überstanden hatte. In ihrem Lichtkegel lag der alte Rattenbock. Alle Viere von sich gestreckt, den Schwanz wie zum Schutz um seinen geschundenen Körper gewickelt, lag er totengleich auf der Seite. Für eine Sekunde spielte Jacques mit dem Gedanken an der Ratte Wiederbelebungsversuche einzuleiten, doch dann konnte Jacques sehen, wie sich das von grauen Schnurrhaaren umrahmte Mäulchen bewegte. Es war mehr ein Zittern als eine kontrollierte Bewegung.

 

Mit Beinen wie aus Watte torkelte Jacques auf die Ratte zu. Der Pfeifton in seinem Kopf schwoll allmählich ab.

„Boss?“, krächzte er.

„Alles in Ordnung?“

Die alte Ratte öffnete mühsam ihr Auge.

„Ich denke schon“, antwortete sie leise.

„So schnell haut mich nichts um.“

 

Mit einer erstaunlich geschickten Bewegung war die Ratte wieder auf ihren Pfoten.

„Was war das denn für ein Riesenknall? Das klang ja, als ob das ganze Haus in die Luft geflogen wäre.“

„Ich fürchte, genau das ist passiert. Würde mich nicht wundern, wenn mein geiziger, serbischer Nachbar da seine Hände mit im Spiel gehabt hätte.“

„Wenn du damit Recht hast, hat er jetzt wohl keine Hände mehr, mit denen er Unheil anrichten kann.“

„Wohl wahr.“

Gelee konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn diese alte Ratte auch seltsame Methoden hatte um ihr kleines Revier abzustecken, so hatte sie dennoch eine gute Portion Humor. Das gefiel ihm.

„Was nun?“, fragte er nun wieder mit dem gehörigen Ernst.

„Gute Frage, Jacques. Ich denke, das Vernünftigste ist es, erst einmal in Sicherheit zu gehen. Wer weiß, wie lange dieses alte Haus noch einigermaßen zusammenhält? Wäre schade, wenn wir diesen enormen Knall überlebt hätten, um dann doch noch von irgendwelchen Trümmern erschlagen zu werden. Erstmal raus hier!“

„Ok. Das Beste ist wohl, wenn du vorgehst. Ich finde mich hier überhaupt nicht mehr zurecht. Ich denke, du hast mehr als nur dein Auge um dich zu orientieren.“

Boss grinste.

„Da hast du Recht. Ich habe in den letzten Jahren unzählige Markierungen in diesem wunderschönen Keller hinterlassen. Das ist für mich wie eine Straßenkarte. Folge mir, aber sei vorsichtig. Ich trau diesen alten Mauern nicht mehr.“

 

Schnüffelnd begab er sich Richtung Kellertreppe. Dabei umkurvte er geschickt die überall herumliegenden Trümmer und Sperrmüllreste, die sich über das gesamte Kellergewölbe verbreitet hatten. Er blieb immer wieder stehen um sich zu orientieren, und um auf seinen weitaus weniger geschickten Partner zu warten.

 

Endlich hatten sie den Aufgang erreicht, und erleichtert stiegen sie die Stufen hinauf, dankbar für jeden frischen Atemzug, den sie nun nehmen konnten. Sie erreichten den Hintereingang des Hauses und betraten den Hinterhof. Sie drehten sich um und schauten stumm auf die Ruine, die sich vor ihnen auftürmte. Wie hatten sie das nur unbeschadet überleben können?

 

In der Luft lag der Geruch von verbranntem Holz, beißendem Rauch und aufgewirbeltem Staub. Sie hörten die Feuerwehrsirenen und das Geschrei einer aufgebrachten Menschenmenge.

Boss spitzte seine kleinen Ohren. Was er nicht vernehmen konnte, waren die Stimmen seiner Sippe. Er hatte sie im Stich gelassen, sie hilflos in dem Chaos zurückgelassen. Wenn sie es überhaupt überlebt hatten. Ohne ihn würden sie keine fünf Minuten überleben. Ohne ihn waren sie so hilflos wie, wie, wie… ein Menschlein in einem Mäusenest.

Boss sah ernst und nachdenklich auf die Reste seines schönen Heimes. Auch er fühlte sich einsam und allein gelassen.