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LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Ludwig Tieck

Der blonde Eckbert

Von Winfried Freund

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert. Der Runenberg. Stuttgart: Reclam, 2002. (Universal-Bibliothek. 7732.)

Alle Rechte vorbehalten
© 2005, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene
Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
ISBN 978-3-15-960064-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015349-9

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personen

4. Werkaufbau, Stil, Gattung

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Rezeption

9. Checkliste

10. Lektüretipps

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

Ludwig Tieck (1773–1853), die Nachwelt hat ihn den »König der Romantik« genannt,1 ist Akzent setzender Programmatiker und phantasievoller Dichter der romantischen Bewegung in einer Person. Als Mitarbeiter für Friedrich Nicolais rationalistische Erzählungsreihe Straußfedern (1797) zunächst noch mit der Spätaufklärung verbunden, setzte er sich schon bald von der didaktischen und zweckorientierten Literatur des 18. Jahrhunderts ab.

Zusammen mit seinem Mitschüler und Freund Wilhelm Wackenroder, der bereits 1798 verstarb, und dessen Werke Tieck herausgab,2 entwarf er die ästhetischen Grundlagen einer konsequenten romantischen Kunst. Nicht länger ging es ihm darum, das Gewöhnliche und Alltägliche in den Zusammenhang mit dem Nützlichen zu stellen, sondern ihm den Glanz des Wunderbaren zu verleihen. Alles, was ist und geschieht, erscheint dem Romantiker als Ausfluss einer Welt jenseits des bloß Wirklichen. Erst die Ahnung des Möglichen erhöht den Alltag zum Wunderbaren.

Was sich vordergründig den Sinnen darstellt, ist Abbild und Resonanz eines höheren Daseins, mit dem die Dinge und die Menschen geheimnisvoll verknüpft sind. Es ist die ferne Welt des Wunders, die zum Einzelnen spricht und sich dem offenbart, dessen Sinne sich zu öffnen vermögen. Der Zauberschlüssel zu jenem höheren Dasein, in dem das Wirkliche und das Mögliche sich vereinen, ist die Phantasie, die Kraft des entgrenzenden Geistes. Indem der Mensch in seiner Gegenwart das Wunderbare ahnt, wird ihm das Endliche durchsichtig für das Unendliche.

In den Märchen, Novellen und Märchendramen und den sie verbindenden Kunstgesprächen seines zwischen 1812 und 1816 erschienenen Phantasus, hier ist auch Der blonde Eckbert von 1797 erneut aufgenommen, entwickelt und vertieft Tieck sein literarisches Programm. Eng aufeinander bezogen sind Theorie und Dichtung, indem das Erdachte poetische Gestalt annimmt und das Erdichtete der Theorie Grund und Anschauung gibt. Literatur ist für Tieck stets die Synthese von geistigem Entwurf und literarischer Gestalt. Der tiefere Sinn der Aussage weitet das Ausgesagte weit über die Grenzen des im Werk sinnlich Fassbaren aus.

Tiecks Dichtungen, wie die Dichtungen der Romantiker überhaupt, sind dichterische Schöpfungen im Zeitalter der Revolution. Die überschaubaren gesellschaftlichen Verhältnisse und philosophischen Grenzziehungen des aufgeklärten Jahrhunderts werden fließend, lösen sich auf und öffnen den Blick für die Wirklichkeit jenseits des Nützlichen und Funktionellen. Die bisher empirisch-naturwissenschaftliche Orientierung weicht bei zunehmender Transzendierung des bloß Immanenten einer mehr spekulativ-ästhetischen. Der Mensch erfährt sich nicht allein als der, der er ist, sondern auch als der, der er sein könnte. Die Statik des Seins löst sich auf in die Dynamik des Werdens.

Weniger in der Geschichte und der Politik als in der Kunst prägt sich in Deutschland die revolutionäre Haltung aus. Tieck ist einer der bedeutenden Initiatoren des modernen Geistes, in dem Wirkliches und Mögliches, Tradition und Utopie, Realität und Phantasie miteinander verschmelzen. Tieck und mit ihm die Romantiker heben den schöpferischen Menschen hervor, fähig zur unmittelbaren Erkenntnis und zur grenzüberschreitenden Erfahrung. Erst die Phantasie relativiert den im Nützlichen und Funktionellen erstarrten Alltag und macht ihn dem schöpferischen Spiel wieder zugänglich.

Tieck weiß aber auch von der Krise des Menschen, dessen Phantasie im Alltag immer wieder zu ersticken droht, der im Streben nach dem vordergründig Verwertbaren seine geistige Freiheit verrät. Der blonde Eckbert ist in diesem Sinne eine Krisengeschichte mit tragischem Ausgang, eine Geschichte, in der der Mensch an seiner selbstverschuldeten Banalität scheitert und doch zu Höherem berufen war, eine Geschichte, die nur zum Schein zu Ende erzählt ist, sofern sie der Leser nicht als Definitivum, sondern als Impuls versteht.

2. Inhalt

Irgendwo im Harz in einem kleinen Schloss lebt der ungefähr vierzigjährige Eckbert mit seiner Frau Bertha in kinderloser Ehe zurückgezogen und unbeteiligt an den Auseinandersetzungen seiner Nachbarn. Gewöhnlich hält sich der eher unscheinbare Ritter innerhalb der Ringmauern seines bescheidenen Anwesens auf, in selbstgewählter Einsamkeit und enger Gemeinschaft mit seiner Ehegefährtin. Gäste finden nur selten den Weg in die Abgeschiedenheit des Schlösschens. Stets aber ist Eckbert ein aufgeräumter Gastgeber, ist er jedoch allein, wirkt er verschlossen und melancholisch. Eine innige Freundschaft verbindet ihn seit Jahren mit Philipp Walther aus Franken, der oft über ein halbes Jahr in der Nähe der Burg lebt, Kräuter und Steine sammelt und mit dem Eckbert lange Wanderungen unternimmt. Wie sie sich kennen gelernt haben, erfährt der Leser zunächst nicht. Je freundschaftlicher und vertrauter das Verhältnis wird, desto mehr drängt es Eckbert, dem Freund auch Einblicke in die bisher wohlgehüteten Geheimnisse seines Lebens zu gewähren, sich ihm gleichsam ohne Vorbehalte zu offenbaren.

An einem Herbstabend setzen sich das Ehepaar und der Freund an den Kamin, nachdem man Walther bewegt hat, die Nacht im Schloss zu verbringen. Gern willigt der Gast ein, sich die seltsame Jugendgeschichte Berthas anzuhören. Ohne Umschweife beginnt Bertha zu erzählen, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass es sich bei dem Erzählten trotz aller Seltsamkeit keineswegs um ein Märchen handelt. In der vorrückenden Nacht entfaltet sich in der Rückwendung die rätselhafte Kindheits- und Jugendgeschichte der Erzählerin.

Bertha wächst als Tochter eines Hirten in großer Armut in einem Dorf auf. Schmerzlich berührt sie der Streit der Eltern über die ärmlichen Lebensverhältnisse, zumal sie selbst, ungeschickt und unbeholfen, nichts dazu beizutragen vermag, die Not zu lindern. Stattdessen träumt sie von märchenhaften Reichtümern und Glücksfällen und wird den realen Anforderungen immer weniger gerecht. Insbesondere der Vater ist verärgert und aufgebracht über die Tochter, die, ein ganz und gar unnützes Geschöpf in seinen Augen, nichts lernen will. Als sie auch noch im achten Lebensjahr keine Anstalten macht, sich zu ändern, züchtigt er sie grausam.

In der Nacht flüchtet Bertha verzweifelt und voll Angst aus der ärmlichen Hütte hinaus aufs freie Feld. Ihr Weg führt sie über Hügel, auf gewundenen Wegen an tiefen Abgründen vorbei immer tiefer in die Einsamkeit hinein. Mitunter kommt sie durch abgeschiedene Dörfer, wo sie sich etwas zu essen und zu trinken erbettelt. In der Nacht auf Moosstellen, umgeben von furchtbaren Klippen, hört sie oft seltsame Stimmen. Immer tiefer gerät sie in eine öde, menschenleere Felsenlandschaft hinein, von allen verlassen und am Leben verzweifelnd. Nach einer entbehrungsreichen Wanderung findet sie plötzlich eine lieblichere Natur wieder, sodass sie den Eindruck hat, aus der Hölle in ein Paradies gekommen zu sein. Am Waldrand, nachdem sie aus einem Wasserfall getrunken hat, stößt sie auf eine ganz in Schwarz gekleidete Frau mit einem Krückstock, die sich ihrer annimmt.

Bertha, belustigt über die sich stets verändernden Gesichtszüge der Frau, folgt ihr über liebliche Wiesen und durch einen schönen Wald im sanftesten Rot und Gold des Abends. Umgeben von einer idyllischen Natur, kommt ihr der Himmel gleichfalls wie ein aufgeschlossenes Paradies vor. Mit dem Blick auf die goldenen Wolken ergreift Bertha zum ersten Mal eine Ahnung von der eigentlichen Welt.

Endlich erreichen sie eine kleine Hütte in einem Tal, umgeben von Birken. Ein kleiner Hund begrüßt sie, und aus der Hütte dringt wie Vogelgesang das Lied von der Waldeinsamkeit, angestimmt von einem Vogel in einem glänzenden Käfig. Nach dem Abendbrot mit der alten Frau, deren wirkliches Aussehen hinter den fortwährenden heftigen Gesichtsbewegungen nicht auszumachen ist, schläft Bertha in der Kammer. In der Nacht vermischen sich in ihr die Stimmen der Alten, des Vogels und einer fernen Nachtigall zu einem wunderbaren Traum.

Bald lernt Bertha wie von selbst zu spinnen, sorgt für den Hund und den Vogel und findet sich in die Wirtschaft des kleinen Haushalts ein. Alle Unbeholfenheit fällt von ihr ab. Die Alte lehrt sie lesen, sodass sie nun, wenn sie über Tag oft allein ist, die wunderbaren Geschichten in den alten Büchern selbst lesen kann. Wie Mutter und Tochter beginnen beide miteinander zu leben.

Nach vier Jahren unbeschwerten, völlig zurückgezogenen Lebens erfährt Bertha von der Alten, dass der farbenprächtige Vogel jeden Tag ein Ei mit einer Perle oder einem Edelstein legt. Da die Frau nun oft Wochen und Monate fortbleibt, erhält das zwölfjährige Mädchen den Auftrag, die Eier in bestimmten Gefäßen zu bewahren. Arbeitend, in Fürsorge für den Hund und den Vogel, verbringt Bertha eine sorgen- und angstfreie Zeit, erfüllt von einem tiefen Glück. Aus dem Gelesenen bildet sie sich eine eigene Welt mit den Zügen ihrer Erfahrung aus ihrem kleinen Lebenskreis. Oft träumt sie von der Liebe eines schönen Ritters, den sie umwirbt und der sie traurig stimmt, wenn er sie nicht wieder liebt. Bertha lebt in völligem Einklang mit ihrer kleinen Welt, und die zurückkehrende Alte lobt sie jedes Mal wegen ihrer Umsicht und ihres Arbeitseifers und hebt ihr gesundes Aussehen hervor. Deutlich warnt sie sie jedoch auch davor, von der rechten Bahn abzuweichen, da die Strafe, wenn auch noch so spät, unweigerlich folgen würde.

Bertha, inzwischen vierzehn Jahre alt, bleiben die Worte dunkel. Wenn sie auch plötzlich den materiellen Wert der Perlen und Edelsteine zu ahnen beginnt und ein starkes Verlangen fühlt, dem erträumten, schönen Ritter wirklich zu begegnen. Zwischen dem Verstand, der sich immer stärker in ihr regt, und der Unschuld der Seele, in der sie noch lebt, droht sich ein Konflikt anzubahnen. Von Tag zu Tag scheint es ihr verlockender, die kleine Hütte hinter sich zu lassen, die Kleinodien mitzunehmen und in die Welt aufzubrechen, dem Prinzen entgegen.