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LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Gottfried Keller

Kleider machen Leute

Von Walburga Freund-Spork

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Gottfried Keller: Kleider machen Leute. Stuttgart: Reclam, 2000 [u.ö.]. (Universal-Bibliothek. 7470.)

Alle Rechte vorbehalten
© 2002, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960102-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015313-0

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personen

4. Werkaufbau, Sprache, Gattung

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Rezeption

9. Checkliste

10. Lektüretipps / Filmempfehlungen

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

Kleider machen Leute ist die erste Erzählung im zweiten Teil des Erzählzyklus Die Leute von Seldwyla, einer der Novellensammlungen aus der Feder Gottfried Kellers. Die Sammlung erschien in der zweiten Hälfte des Jahres 1873 im Verlag Göschen in Stuttgart. Da Keller sich von seinem ersten Verleger Heinrich Vieweg aus Braunschweig getrennt und er die Rechte an seinem Zyklus gegen Rückgabe des Vorschusses von 200 Talern nebst Zinsen in gleicher Höhe zurückgekauft hatte, konnte er dem Plan seines neuen Verlegers Weibert, dem damaligen Leiter des Göschen Verlags, zustimmen, die Sammlung Die Leute von Seldwyla als vermehrte Auflage in 4 Bänden herauszubringen. Die Novelle Kleider machen Leute leitete auf ausdrücklichen Wunsch Kellers den 2. Band der Ausgabe ein, weil sie, wie Keller am 19. Dezember 1872 schreibt, zu der »kleinen Einleitung […] besser paßt« als die zunächst vorgesehene.1 Die Einleitung ist identisch mit der »Vorrede« am Ende der zu Grunde gelegten Reclam-Text–ausgabe (Kleider machen Leute, Stuttgart 2000, RUB 7470).

Der Briefwechsel mit Vieweg belegt, dass die Novelle bereits 1872 fertig war. Vorarbeiten zu dieser Novelle existieren nicht, allerdings zeigt die handschriftliche Korrekturvorlage, dass Keller in der Überarbeitung sprachliche Veränderungen vorgenommen hat, die die realen Hintergründe der Begebenheit verwischen, um das Dargestellte zu verallgemeinern.

Die erzählte Begebenheit fußt auf Ereignissen in der Schweiz in den Jahren nach 1860, die die Stoffwahl Kellers beeinflusst haben. Keller selbst schreibt 1864 in einem Brief an Plater: »Ich habe Lust, eine kleine Studie über diesen Charakter von Spionen [!] zu schreiben, die Mittel, die er angewendet hat, um sich einzuführen, die Eigenschaften, die alle Individuen dieser Art gemeinsam haben und auf die man sein Augenmerk richten muß, wenn es darum geht, einen Unbekannten mit wichtigen Aufgaben zu betrauen, und schließlich ein ›fabula docet‹ [die Fabel lehrt = das ist der Kern der Geschichte] zu erreichen, indem ich diesem Schurken ein kleines Denkmal errichte.«2

Der Fall eines jungen Preußen, Julius Schramm aus Wernigerode, beschäftigte damals die Bürger und die Polizei der Stadt Zürich. Er hatte mit emigrierten polnischen Studenten in Zürich eine Gesellschaft gegründet, die den aufständischen Polen Waffen beschaffen sollte. Dazu hatte er sich dem Präsidenten des ›Provisorischen Komitees zur Unterstützung der Polen‹ in Zürich, Dr. Voegeli, empfohlen. Das Zürcher Polenkomitee unterstützte die aufständischen Polen in ihrem Guerillakrieg (1863–65) gegen die russische Regierung. Dem Komitee gehörte auch Keller in führender Position an. Es traf sich fast täglich zu Sitzungen in Kellers Diensträumen. In der Eigenschaft als Sekretär Voegelis hatte Schramm an Verhandlungen in Krakau über Waffenlieferungen für die Aufständischen teilgenommen und war mit hohen Summen betraut worden, um diese Geschäfte abzuwickeln. Das Geld wurde von ihm veruntreut. Bevor die Polizei Schramm als russischen Agenten entlarven und festsetzen konnte, hatte dieser Wind bekommen und war entwischt. Der Präsident Voegeli musste von seinem Amt zurücktreten.

Zur gleichen Zeit taucht in den Schweizer Polizeiakten ein Pole mit dem Namen Julian Saminski auf, der im Gefängnis in Basel als russischer Spion entlarvt wurde. Die Ereignisse, die Keller während seiner Tätigkeit miterlebte, mögen ihm auch frühere abenteuerliche Ereignisse, wie sie sich in Schweizer Städten abgespielt haben, in Erinnerung gerufen haben. So hatte es eine Täuschung des Grafen Sobansky gegeben, dem sich ein junger Bursche als Sohn eines befreundeten Grafen vorstellte, und die Bewohner von Wädenswil am Zürcher See hatten sich durch »Graf und Gräfin« Stechenheim derartig ausnutzen lassen, dass sie zum Gespött der benachbarten Richterswiler werden konnten.

Zum Verständnis des Polen-Engagements muss man sich vor Augen führen, dass der polnische Freiheitskampf große Sympathien und Anteilnahme in intellektuellen Bürgerkreisen ganz Europas hervorrief. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Handlung der Novelle vielfältige Anspielungen auf die Polenbegeisterung enthält. Diese beziehen sich allerdings auf den Freiheitskampf der Jahre nach 1830.

Wie aus der Vorrede zum zweiten Teil der Ausgabe hervorgeht (59ff.), schätzte Keller diese Geschichtsphase weitaus mehr. In ironischer Sprechweise lobt er zwar die Gegenwart als eine, die nach seinem Urteil dem Charakter der Schweizer Bürger besser entspricht und spielt damit auf den erstarkenden Kapitalismus an. Als human denkender Bürger aber meint er das Gegenteil. Er distanziert sich durch seine Vorrede von einer Zeit, in der die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden, weil die Reichen ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft und das Gemeinwesen nur ihre eigenen Vorteile bei allen Geschäften verfolgen. Diese Einstellung Kellers kann als wichtiger Hinweis für die Interpretation des Textes dienen.

In seiner Novelle verwendet Keller das in der Literatur allzeit beliebte Motiv des Hochstaplers. Erinnert sei an Thomas Manns 1954 veröffentlichten und zu Weltruhm gelangten Felix Krull und an Carl Zuckmayers Hauptmann von Köpenick. Entgegen der oben aufgeführten Briefstelle, ist die Hauptfigur in Kleider machen Leute Wenzel Strapinski, Hochstapler, keinesfalls aber Spion.

Keller hat sich vor allem mit dem Zyklus Die Leute von Seldwyla bis heute einen Platz in der Weltliteratur erschrieben. Sein Name ist eng verbunden mit den lesenswerten Erzählungen aus dem Seldwyla-Zyklus wie Romeo und Julia auf dem Dorfe, Spiegel das Kätzchen, Pankraz der Schmoller und nicht zuletzt Kleider machen Leute. Der Lektüreschlüssel will mit seinen Ausführungen zum umfassenderen Verständnis des liebenswürdigen kleinen Textes beitragen.

2. Inhalt

Wenzel Strapinski, ein bettelarmer, aber ausgesucht vornehm gekleideter Schneidergeselle, wandert auf der Straße zwischen Seldwyla und Goldach auf der Suche nach einer neuen Arbeit. Weil sein letzter Meister in Seldwyla in geschäftliche Schwierigkeiten geraten ist, hat er dort seine Arbeit und mit ihr auch den ihm zustehenden Lohn verloren. Ein herrschaftlicher Kutscher, der das Elend des jungen Schneiders erkennt, nimmt ihn in einem Reisewagen mit, der ein gräfliches Wappen trägt. Als der Wagen vor dem Gasthof zur Waage in Goldach anhält, wo der Kutscher seine Fahrt kurzfristig unterbricht und Strapinski aus der Kutsche steigt, wird er für einen Grafen gehalten.

Obwohl Strapinski sich in dieser Rolle sogleich sehr unwohl fühlt, ist er jedoch nicht Manns genug, den Irrtum sofort aufzuklären. Vielmehr lässt er sich durch die übertriebene Gastfreundlichkeit des Wirts zur Annahme dieser Rolle verführen, wenn auch lange Zeit innerlich widerstrebend und nach Auswegen suchend.

Für den Waagwirt steht die Ehre Goldachs auf dem Spiel, sofern er dem hohen Gast nicht alles bietet, was sein Haus und seine Küche hergeben.

Daher nimmt ein Geschehen seinen Anfang, das der Schneider schließlich aus eigener Kraft nicht mehr wenden kann.

Zunächst sind es die erfolgreichen Goldacher Geschäftsleute, die, dem Wirt vergleichbar, dem polnischen Grafen Strapinski imponieren wollen. Sie unterstellen ihm die Flucht aus Polen aus familiären oder politischen Gründen. Als kluge Rechner umschwärmen sie ihn und statten ihn unaufgefordert überreichlich mit allem aus, was seinem adligen Stand gemäß scheint, denn sie müssen glauben, dass der weitergereiste Kutscher das Gepäck versehentlich auszuladen versäumt hat.

Im Glanz des vermeintlichen Grafen wollen sie sich sonnen, durch seine Teilnahme an ihrem gesellschaftlichen Leben ihre eigene Bedeutsamkeit herausstellen und vorübergehend ihrer Alltagslangeweile entkommen. Darum beziehen sie Wenzel Strapinski sogleich in ihre Unternehmungen ein. Nur einer von ihnen, Melcher (Melchior) Böhni, der Buchhalter einer großen Spinnerei, schöpft Verdacht, entschließt sich aber, den Ereignissen ihren Lauf zu lassen, um einen Skandal heraufzubeschwören.

So gerät Wenzel Strapinski als polnischer Graf auf das Landgut des Amtsrats, des Vaters von Nettchen, einer schönen Goldacherin.

Seine insgesamt bescheidene Zurückhaltung, sein vornehmes, feingebildetes Äußeres und seine adlige Herkunft verfehlen auch nicht ihren Eindruck auf die Amtsratstochter, deren Sinn ohnehin immer schon nach Höherem stand und die deshalb die Bewerber aus der Goldacher Geschäftswelt, unter ihnen auch Melcher Böhni, stets zurückgewiesen hatte.

Die Umstände in dieser Gesellschaft wenden sich für Strapinski positiv. Er gewinnt beim Glücksspiel Geld und fasst eine ihm noch unbewusste Zuneigung zu Nettchen. Dies alles führt ihn zu einem allmählichen Sinneswandel. Er glaubt, in eine Stadt geraten zu sein, die anderen als den üblichen Gesetzen gehorcht, und so treten seine immer wieder gefassten und unfreiwillig vereitelten Fluchtpläne in den Hintergrund. Er beginnt, sich in seiner Rolle als polnischer Graf zu gefallen und sie durch bewusst ausgesuchtes Benehmen, durch das Beimischen polnischer Brocken in seine Rede und durch den Vortrag eines polnischen Liedes perfekt zu spielen.

Eine weitere, wenn auch nur flüchtige Begegnung mit Nettchen am Morgen seines zweiten Tags in Goldach führt ihn zur Rückkehr in die Stadt, die er mit dem Vorsatz verlassen hatte, das Weite zu suchen. In Strapinski geht ein völliger Sinneswandel vor. Er beschließt, vorläufig in der Stadt zu bleiben.

Von nun an gibt er alle seine Fluchtpläne auf und versucht in den folgenden Wochen durch Teilnahme an Lotteriespielen genug Geld zu gewinnen, um seine Existenz als polnischer Graf in der Gesellschaft weiterzuführen und zu festigen. Kleinere und größere Geldgewinne stellen sich glücklicherweise ein.

Doch in den fortwährend schlaflosen Nächten wird Strapinski von seinem schlechten Gewissen geplagt. Deshalb beschließt er trotz des Geldgewinns, der ihn in die Lage versetzt hätte, als angesehener Graf in der Stadt zu bleiben, seine Abreise. Auf einem Ball gibt er seinen Entschluss bekannt. Damit aber löst er Enttäuschung in der Gesellschaft und die allergrößte Verwirrung in den Gefühlen Nettchens aus. Sie folgt ihm in den nächtlichen Garten, fällt ihm um den Hals, weint bitterlich und verleitet Strapinski zum Eingeständnis seiner Zuneigung und Liebe.

Noch in der gleichen Nacht fordert Nettchen von ihrem Vater die Einwilligung in eine Heirat mit Strapinski, die mit Drängen auf eine rasche Verlobung ausgesprochen wird.

Die Vorbereitungen auf diese Verlobungsfeier erfolgen unabhängig voneinander auf zwei Seiten:

Wenzel Strapinski gibt seine gesamte Barschaft für Brautgeschenke und das Fest aus, während Melcher Böhni in diesen Tagen in Geschäftsangelegenheiten nach Seldwyla reist.

Er verabredet mit den Seldwylern eine Schlittenfahrt zum Winterfest in eben das Gasthaus auf halbem Weg zwischen Seldwyla und Goldach, das Wenzel Strapinski für die Verlobung mit Nettchen ausgesucht hat und zu der die gesamte Goldacher Gesellschaft eingeladen ist.

Zwei Schlittenzüge bewegen sich am Tag der Verlobung aus unterschiedlichen Richtungen auf das Gasthaus zu. Die für die Verlobung aufgeputzten Goldacher Schlitten folgen mit ihren Insassen der Fortuna, dem Schlitten des Amtsrats mit Strapinski und seiner Braut Nettchen, beide fürstlich ausstaffiert und an Schönheit unübertroffen.