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Titel

Eckhard Rahlenbeck

Farben

des Alters

Wo Leben voll endet

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Impressum

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2011, Verlag und Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft GmbH, Stuttgart Augustenstraße 124, 70197 Stuttgart, Telefon 07 11/60 10 00, Fax 6 01 00 76, www.verlag-eva.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gestaltung und Satz: Cornelia Fritsch, Gerlingen

Druck: Druck- und Medienzentrum Gerlingen GmbH, Gerlingen

Titelfoto: Dieter Skubski, Stuttgart

ISBN 978–3–7918-8037-2

Inhalt

Inhalt


Titel


Impressum


„Statt eines Vorworts:“

Gemeinsam statt einsam

„Grün für Kreativität:“

Lebensräume für Generationen – Planen, entwerfen, gestalten von Wohnquartieren

Orange für Kontaktfreude:“

Sozialpioniere im Quartier – Die Mehrgenerationen-Nachbarschaften

„Violett für Lebensmut:“

Beziehungsnetze knüpfen – Generationengleiche soziale Bindungen

„Türkis für Erfindungskraft:“

Hilfe pro Quadratmeter – Homesharing und Zeitbanken

„Purpur für Zuwendung:“

In der vierten Lebensphase – Die Kultur der Wegbegleitung

„Gelb für Vitalität:“

Wo verpflanzte Bäume gedeihen sollen – Sind die Pfegeheime noch zu retten?

„Rot für Gefühle:“

Flirt in der Tagespflege – Die verdrängte Emotionalität

„Blau für Geborgenheit:“

Besetzen wir die Heime – Die Rolle der Freunde und Verwandten

„Selbsttest:“

Fit fürs Alter?

„Epilog:“

Herbst 2030

„Weiterführende Informationen und Internetadressen“

„Statt eines Vorworts:“

Gemeinsam statt einsam

„Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise! Nimm uns mit in die weite, weite Welt!“ – Den alten Schlager aus dem CD-Player hatte ich schon auf dem Flur gehört. Das Lied vom Fernweh ist das Einzige, was auf den ersten Eindruck den Raum belebt, als ich eintrete. Regungslos sitzen sechs Frauen und zwei Männer. Sie sind um den Tisch herumgruppiert, die Augen geschlossen oder stumm vor sich hin blickend. „Fährst du heim, Kapitän, kehr‘n wir gerne in die Heimat zurück nach Haus.“ Sollte ich den Heimbewohnern an so einem ganz normalen Nachmittag im Tagesraum der Wohngruppe ihr Nickerchen verleiden? Ich weiß, dass ich mit einem „Guten Tag“ oder „Grüß Gott“ reflexartig ein gemurmeltes Echo zurückbekommen würde. Das wäre Routine. Oberflächliche Grußroutine, mehr nicht. Nach mehreren Jahren der Besuche im Heim ist mir aber bewusst geworden, was die Alten mit dem betagten Computer auf meinem Schreibtisch gemeinsam haben. Der 95-jährigen Tante Luise Victoria muss ich mich bei der Begrüßung direkt zuwenden, am besten in die Hocke gehen, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein: „Hallo, meine liebe Tante!“ Die trüb gewordenen Augen forschen einen Augenblick. Nachdem sich unsere Hände berühren, wendet sich verlorenes, ratloses Umherblicken in Freude: „Ach, du bist es. Wie schön.“ Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange.

Es braucht seine Zeit, um richtig wahrgenommen zu werden. Der Besucher ist erst dann wirklich angekommen, wenn die Besuchten aktiviert, ähnlich wie PCs beim Starten vom Dämmerzustand in wache Aufmerksamkeit gelangt sind. Wie oft habe ich mich dabei ertappt, Bewohnern, denen ich hier begegne, das so leichtfertig wie inflationär verwendete Etikett „dement“ anzuhängen, nur weil sie mir scheinbar teilnahmslos und abwesend erschienen. Wie oft habe ich entdeckt, dass hinter den Buddha-Gesichtern Persönlichkeiten mit einer faszinierenden Biografie stecken: Herr B. war Testpilot. Frau G. lebte dreißig Jahre als Erzieherin in New York. Herr E. trauert um seine Geige, die gegen Ende des Krieges von Besatz­ungssoldaten demoliert wurde. Frau L. schneiderte in Babelsberg Kostüme für die Leinwandstars der UFA. Nun enden ihre Lebensreisen, die eine so unvergleichlich wie die andere, hier im Altenheim.

Im Heim ist man dem Leben ganz nah, weil das Ende nicht weit weg ist. Hier gehe ich hin, um die zu finden, die so sind, wie ich – wer weiß wann – einmal werde; falls ich lang genug bleiben darf auf dieser Welt und nicht vorher gehen muss. Hier treffe ich Menschen, deren Auftritt auf der Bühne des Lebens zu Ende gegangen ist. Ja, sie wirken wie Schauspieler nach dem abendlichen Auftritt. Der Vorhang ist gefallen. Die Show ist vorbei, die Rolle gespielt, Maske und Kostüm abgelegt, die Schminke weggewischt. Müde Blicke fragen, was jetzt noch kommen kann. Während der Albers Hans aus dem Lautsprecher tönt: „Fährst du heim, Kapitän, kehrn‘ wir gerne in die Heimat zur Muttern nach Haus.“

Aber Mutter ist nicht zu Haus, sondern im Heim. Das Heim, ein Begriff, der selbstverständlich nicht halten kann, was er im Wort­sinn verspricht. Er beschönigt, ist ein Euphemismus, denn Heim und Heimat, das haben die Alten zurückgelassen. Ganz sachlich und nüchtern betrachtet sind sie jetzt institutionalisiert, einem Dienstleistungsunternehmen anvertraut. Pflegerinnen und Pfleger, Fachdienstmitarbeiter, Betreuungsassistenten und All­tags­begleiter umsorgen sie. Das Fachpersonal und die Leistungen sind in der Regel besser als ihr Ruf. Medienberichte über Skandale taugen nicht für pauschale Vorurteile. Ich werde den Eindruck nicht los, dass man in den Klagechor über schlechte Pflege in den Heimen willig einstimmt, weil er bewusst oder unbewusst von einem schlechten Gewissen ablenkt. Mehr Ehrlichkeit würde helfen.

Was am System der Altenpflege hauptsächlich krankt, sind die hoffnungslos überzogenen Erwartungen, die unsere Gesellschaft an Heime und Personal richtet. Und Politiker machen munter weiter, nähren von Reförmchen zu Reförmchen immer noch dieses Anspruchsdenken. Wer sich mit dem Älterwerden in unserer Gesellschaft beschäftigt, muss ganz schön hartgesotten sein. Zahlen und Daten, Statistiken und Prognosen weisen nur in eine deprimierende Richtung. Bis zum Überdruss von den Medien wiedergekäut, verkündigen sie eine Zukunft des voraussehbaren Bankrotts. Die soziale Klimakatastrophe wird vorstellbar. Können Sie die gebetsmühlenartige Klage über den demografischen Wandel überhaupt noch ertragen? Alle wissen es: Das statistische Lebensalter wächst stetig, ein Monat zusätzlich pro Kalenderjahr. Auf Rekordniveau steigt die Zahl der Greise in dem Maße, wie die der Jungen sinkt. Die Pflegekräfte sind unterbezahlt. Sie hält es im Durchschnitt nur achteinhalb Jahre in ihrem Beruf. Darum fehlen Hunderttausende. Und die Kassen sind chronisch leer.

Trotzdem verdrängen wir die Botschaft. Wir verharren antriebs- und widerspruchslos in einer Art Schockstarre, lassen uns bieten, dass im Polittheater immer wieder Kostensteigerung und Spar­zwang auf dem Spielplan stehen. Immer das gleiche Stück: Man dreht an Steuerschrauben, fordert mehr finanzielle Selbstbeteiligung, zur Freude der Finanzwirtschaft. Diese Gesellschaft ist einer Wartungsdienst-Mentalität verfallen. Wie das Auto und die Zentralheizung, so lassen wir den Fachmann ran, wenn es etwas zu reparieren gibt. Wir Ohnemichel bezahlen und halten uns da raus. Das ist nicht unser Metier. Die Pflege, das sollen die Profis machen. So delegieren wir alte Menschen an Rettungsdienste. In der Hoffnung, es handele sich dabei um eine Art ADAC, dessen Gelbe Engel die Gebrechlichen und Hochbetagten an den Seitenstreifen unseres Lebens wieder flott kriegen.

Das ist mir zu wenig. Mir ist das kollektive Bewusstsein aus Gleichgültigkeit und bejammerter Ohnmacht zuwider. Wir müssen uns davon verabschieden, nur Wähler, Zaungäste und widerwillig Zahlmeister einer Sozialpolitik zu sein. Die Krise ist systemimmanent. Das klingt klug, ist aber auch sehr wahr. Seit Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung durch Reichskanzler Otto von Bismarck 1886 hat Sozialpolitik in mehr als einem Jahrhundert viel Gutes bewirkt. Ein Netz von hochspezialisierten Institutionen fängt Menschen in Not auf - die Schwachen, Kranken, Armen und Alten. Verlässliche Bindungen der Menschen untereinander verloren an Wert, da sich Vater Staat in der beschützenden Rolle des allseits bereiten Wohlfahrtsstaates drängte und sich anheischig machte, uns die Sorge um die Mitbürger abzunehmen. Die solidarische Verantwortung wurde von Mitmenschen auf Pflegeeinrichtungen übertragen, was unter anderem die „Verheimung“ des Alters förderte. In dieser Delegationsgesellschaft trocknet etwas aus. Menschen verlieren das Zutrauen in sich selbst und in Ihresgleichen. Die Fähigkeiten, die Phantasie und die Freude, Bedürftigen persönlich zu helfen, sind ihnen abhanden gekommen. So bröckelt der Kitt, der Gemeinschaften zusammen hält. Das sei ohne Pathos, Sozialkitsch und Frömmelei festgestellt.

Was sind die Fakten? Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes (Stand 2009) sind in Deutschland 2,34 Millionen Menschen pflegebedürftig, davon 67 Prozent weiblich. Mehr als zwei Drittel, genau 69 % oder 1,62 Millionen der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Davon erhalten 1 066 000 Pflegebedürftige ausschließlich Pflegegeld aus der Pflegeversicherung. Das bedeutet, diese Menschen werden in der Regel zu Hause allein durch Angehörige gepflegt. Weitere 555 000 Pflegebedürftige leben ebenfalls in Privathaushalten. Bei ihnen erfolgt die Pflege jedoch vollständig oder teilweise durch ambulante Pflegedienste. 717 000 werden in Pflegeheimen vollstationär betreut. In Deutschland gibt es insgesamt 11 600 Pflegeheime, in denen 621 000 Beschäftigte arbeiten.

Weil bis zum Jahr 2030 die Zahl der Pflegebedürftigen um 40 Prozent steigt, wird der Bedarf von Pflegekräften um mehr als 35 Prozent wachsen. Wo sollen die Mitarbeiter herkommen? Wer kann sie bezahlen? Und was tun wir für die pflegenden Angehörigen, die sich dauerbelastet, überfordert, einsam und alleingelassen fühlen? Es darf nicht sein, dass die stillen Helden, in Wirklichkeit sind es ja mehr die Heldinnen, durch ihre Pflege selbst zu Pflegefällen werden.

Wir haben unseren persönlichen Anteil verlernt, der dazu beiträgt, Gemeinschaften wetterfest zu machen, um gegen Stürme und Krisen gewappnet zu sein. Wir sind im kollektiven Bewusstsein unsensibel geworden, die unmittelbaren Zusammenhänge zu erkennen zwischen Lebensstilen, Wohlbefinden, gelebter Zuwendung und Nachbarschaft. Wie Klimawandel, Atomausstieg oder Globalisierung gehört eine aktive bürgerschaftliche Ehrenamtskultur zu den Schlüsselfragen unserer Zeit. Statt delegieren heißt es nun, sich zu engagieren. Eine Gesellschaft, die nicht teilt, bleibt geteilt. Entdecken wir das Verlorene wieder neu, denn wir sind die Hauptak­teure, niemand sonst, wenn es um die Zukunftsfähigkeit unserer Solidargemeinschaft geht.