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Nr. 2658

 

Die Stunde des Residenten

 

Showdown in der Stahlorchidee – ein Totgeglaubter kehrt zurück

 

Verena Themsen

 

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Wir schreiben das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Auf bislang ungeklärte Art und Weise verschwand das Solsystem mit seinen Planeten sowie allen Bewohnern aus dem bekannten Universum.

Die Heimat der Menschheit wurde in ein eigenes kleines Universum transferiert, wo die Terraner auf seltsame Nachbarn treffen, die ihnen allem Anschein nach übel wollen. Seither kämpft die solare Menschheit um ihr Überleben.

Von den geheimnisvollen Spenta weiß man am wenigsten: Ihnen liegen Sonnen am Herzen. Ihrer Ansicht nach wird Sol durch den Leichnam der Superintelligenz ARCHETIM verschandelt – deshalb haben sie das Herz des Systems »verhüllt«.

Ganz anders die Fagesy: Sie sehen in den Menschen gemeine Diebe, die den Leichnam einer Superintelligenz gestohlen haben, und fordern Sühne. Ihnen zur Seite stehen die Sayporaner, die nichts Geringeres im Sinn haben als die »Neuformatierung« der Menschheit. Um dies zu verhindern, muss Reginald Bull alles geben: Es ist DIE STUNDE DES RESIDENTEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Reginald Bull – Der Resident kehrt offiziell unter die Lebenden zurück.

Delorian Rhodan – Der Sohn des Terraners greift aufseiten der Menschheit ein.

Arpad Herriman – Von aller Unterstützung abgeschnitten, muss der Kommandant sein Schiff retten.

Marrghiz – Der sayporanische Anführer hofft auf die angeforderte Verstärkung.

1.

Nachtdunkel

 

Kalt. So kalt.

Schwarzfleck reckte die Schnauze in die Luft. Flocken gingen darauf nieder.

Zu kalt. Zu dunkel.

Sein Magen knurrte. Der Speck reichte nicht aus für den zu schnell einbrechenden Winter.

Zu früh für den Langen Schlaf.

Das Taglicht war verschwunden, einfach so, und hatte die gestrige Jagd unterbrochen.

Dass Nachtschimmerer kaum zu sehen war, daran hatte er sich gewöhnt. Auch daran, dass seit vielen Lichtwechseln das Taglicht nicht mehr die alte Stärke hatte. Alles war nur noch Dämmer. Verwirrend. Aber er hatte immer sammeln und jagen können. Bis gestern.

Kam das Taglicht nicht zurück, konnte er keine Nahrung suchen. Konnte er keine Nahrung suchen, würde er den Winter nicht überstehen.

Zu kalt. Zu dunkel. Falsch.

Mit einem Brummen trottete Schwarzfleck zurück ins Innere seiner Höhle. Noch war es Zeit, bis das Taglicht wieder auftauchen musste.

 

*

 

»Doch«, sagte Reginald Bull. »Es gibt einen Weg in die Solare Residenz. Aber den kann nur ich allein gehen.«

Er beobachtete Delorians Reaktion in der Holoprojektion. Der ehemalige Chronist von ES kniff die jugendlichen Augen zusammen, die in so krassem Widerspruch zu dem uralt wirkenden Körper standen.

»Du allein? Das ist riskant. Und bist du sicher, dass es diesen Zugang noch gibt?«

»Ich denke, Sayporaner und Fagesy hatten genug andere Probleme, als nach Hintertüren für einen angeblich Toten zu suchen«, sagte Bull. »Wenn nicht Riordan oder jemand anderes aus seiner Mitläuferfraktion im Terranischen Liga-Dienst sich damit vergnügt hat, wirklich alle Löcher zu stopfen, wird es funktionieren.«

»Riordan hat selbst genug anderes zu tun«, stellte Delorian fest. »Neben meinem ›Bund der Sternwürdigen‹ wird er auch mit dem zu kämpfen haben, was Attilar Leccore vor seinem Abtauchen hinterlassen hat. Ablenkung genug.«

»Du bist ziemlich gut informiert für jemanden, der erst vor fünf Tagen im Solsystem eingetroffen ist. Deine Emissäre sind fleißig gewesen.«

Delorian hob die Schultern. »Der Bund der Sternwürdigen vereint einige äußerst fähige und motivierte Köpfe.«

»Kann man wohl sagen. Der Wirbel, den Toufec verursacht hat, war nicht von schlechten Eltern. Aber wir stehen vor allem dafür tief in ihrer Schuld, dass deine Truppe die Nanofabriken in der Erdkruste ausgeschaltet hat. Sonst wären uns die Hände immer noch durch die Gefahr einer weltweiten Erdbebenkatastrophe gebunden.«

»Meine Helfer haben es gern getan. Ihre Wurzeln liegen ebenso auf Terra wie meine. Vielleicht sogar noch ein wenig mehr. Immerhin bin ich weder hier geboren, noch habe ich jemals viel Zeit im Solsystem verbringen können. Trotzdem fühle ich mich ihm verbunden. Ich bin ein freier Terraner. Ich will ein freies Solsystem.«

Bull sah in die Augen, die so sehr an Delorians Mutter Mondra Diamond erinnerten. Trotzdem fiel es ihm schwer, in dem alten weißbärtigen Mann Perrys und Mondras Kind zu sehen.

Vielleicht, weil er das nie gewesen ist – ein Kind. Michael und Suzan habe ich mehr als einmal auf meinen Knien geschaukelt, Thomas zumindest im Arm gehalten, ehe er weggegeben wurde. Eirene ... Gucky und Icho hatten mehr mit ihr zu tun, aber ich habe sie als lachendes Mädchen erlebt. Aber Delorian war das nie. Dafür hat die Prägung durch ES vom Moment der Zeugung an auf der GLIMMER gesorgt. Allerdings scheint es, als hätte er diese Bindung jetzt abgestreift – aber mit welchen Zielen? Was meint er damit, er wolle das tun, was sein Vater immer gewollt, aber nie gewagt habe? Was sind seine Motive? Wie weit kann man ihm trauen?

Nur das Kommende konnte die Antwort darauf geben, denn zumindest Shanda Sarmottes telepathische Fähigkeiten scheiterten an Delorian.

»Da wir gerade bei Hintertüren sind – du bist absolut sicher, dass die Sayporaner eines ihrer Transitparkette in der Solaren Residenz installiert haben?«

»Absolut. Wenn du es schaffst, den Schirm abzuschalten, können wir es sogar für uns nutzen, sodass sie darüber nicht mehr entkommen könnten.«

Die Nachricht traf ihn unerwartet. »Du verfügst über die Transittechnologie der Sayporaner?«

»Ich verfüge über jede Technologie, die ich gerade brauche. Es liegt an meiner TOLBA. Ihre Technologie ist höchst anpassungsfähig. Man könnte sagen, sie spiegelt das, worauf sie trifft, und kann sich dadurch in jeden Vorgang einklinken.«

»Sobald der Paratronschirm geöffnet ist, könnte also ein Kommando von der TOLBA aus die Residenz betreten?«

»Richtig. Womit wir wieder bei deinem besonderen Weg hinein wären. Wie sieht er aus? Und wie riskant ist es, ihn zu nutzen?«

»Das kommt darauf an, ob jemand mit einem Eindringling rechnet, solange der Schirm steht. Es gibt das Zutritt-Notfallprogramm für den Terranischen Residenten. Es sorgt dafür, dass der Resident niemals ganz aus der Residenz ausgeschlossen oder darin eingeschlossen werden kann.«

»Die Sternwürdigen wären dir drinnen sicher eine große Hilfe.«

»Nur eine Person, nämlich der Resident, kann rein. So wird verhindert, dass er unter Zwang oder Beeinflussung anderen Zutritt verschafft. Sollte jemand versuchen, mit ihm hineinzukommen ...« Bull deutete mit Gestik und Mimik das Verpuffen eines Wölkchens an.

»Ich verstehe. Also gehst du hinein, schaltest den Schirm zu einem bestimmten Zeitpunkt ab, und die Sternwürdigen kommen nach.«

»Und so viele von den Einsatzkräften der Ersten Terranischen Raumlandedivision wie möglich.«

Delorian zögerte sichtlich, ehe er nickte. »Also gut, auch wenn es mich nicht erfreut, so vielen Zutritt zu meinem Schiff zu gewähren. Die Einzelheiten besprechen wir besser vor Ort und mit allen Betroffenen. Wann wirst du herkommen?«

»Gegen sieben Uhr Terrania-Standardzeit. Ich muss hier noch ein paar Dinge klären, ehe ich zur Erde aufbreche.«

»Ist das nicht etwas spät? Marrghiz hat bereits Verstärkung angefordert. Jede Stunde kann entscheidend sein.«

»Kann. Für den Erfolg unseres Vorgehens wird aber eine sorgfältige Vorbereitung entscheidend sein.«

»Wie du meinst.« Delorian neigte den Kopf ein wenig – eine Geste der Zustimmung, wenn auch nicht aus vollem Herzen. »In zwei Stunden schalte ich den Transmitter auf Empfang für dich. Ab da kannst du jederzeit zu uns kommen.«

 

*

 

Reginald Bull saß noch eine ganze Weile vor dem leeren Holoschirm, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Stirn in tiefe Furchen gezogen.

In die Residenz zu gelangen war das geringste Problem. Was aber erwartete ihn im Inneren? Selbst wenn sein vorgeblicher Tod die Löschung des ZNP verhindert hatte, existierte sein Amt faktisch spätestens seit der Einsetzung des Umbrischen Rates nicht mehr. Er bezog somit auch keine Befugnisse mehr daraus.

Alles hängt davon ab, wie LAOTSE auf mich reagiert. Es kann alles passieren – von voller Anerkennung als Regierungsmitglied bis zur umgehenden Gefangennahme. Wenn LAOTSE mir die komplette Verteidigung der Solaren Residenz auf den Hals hetzt, habe ich ausgespielt. Dann geht der 27. November als der Tag des Endes der Liga Freier Terraner in die Geschichte ein – und vielleicht auch als mein wirklicher Todestag.

Ohne die zentrale Positronik der Residenz war es unmöglich, die gestellten Aufgaben zu lösen. Diese bestanden nicht nur darin, einem Einsatzkommando den Zugang zu ermöglichen, um die Besatzer in ihrer letzten Zuflucht schachmatt zu setzen.

Seit per Überrangbefehl Winterstille der Verschlusszustand auf der gesamten terranischen Raumflotte angeordnet worden war, standen die Schiffe hilflos im Raum. Sie wurden aber dringend benötigt, um die nächste Welle der Invasion abzuwehren. Er musste diesen Befehl irgendwie aufheben, bevor die Verstärkung der Gegner eintraf.

Zwar hatte Delorian einen umfassenden Schutz für das Solsystem versprochen, doch dieser würde erst irgendwann am nächsten Tag bereit sein. Kamen die utrofarischen Sternengaleonen vorher, war die Flotte alles, was zwischen Terra und dem Untergang stand.

Bulls Blick glitt hinauf zu dem Außenbildschirm, der nur lichtlose Leere zeigte, wo die Sonne hätte sein sollen. Und nicht nur sie fehlte: Der gleiche Befehl, durch den die Flotte gelähmt worden war, hatte auch die Kunstsonnen getroffen. Dunkelheit herrschte nun überall im Sonnensystem. Bald würde die Restwärme der Planeten in die Kälte des Weltalls entweichen und alles nicht künstlich geschützte Leben darauf erfrieren.

Es kam der letzte Winter der Heimatwelt der Menschheit, so, wie sie war.

Fimbulwinter.

2.

Kaltfeuer

 

Vorsichtig zog Schnatterschnabel den Kopf ein wenig unter dem Flügel hervor. Es war immer noch dunkel. Kaum etwas war vom See und den Ufergewächsen zu sehen.

Wenigstens gab es das Schimmern um diese gewaltige Blume, die in einem der anderen Seen steckte. Und Leuchtpunkte auf den riesigen Fliegen, die ohne Flügel um die Blume herumschwirrten.

Wobei deren violettes Leuchten Schnatterschnabel eigentlich gar nicht gefiel. Es wirkte nicht, als könnte es Wärme schenken. Genau wie das Schimmern. Alles war kalt.

Schnatterschnabel lauschte. Beim letzten Licht hatte sehr viel Lärm geherrscht. Aber als die Scharführerin zu Aufbruch und Flucht gerufen hatte, war es plötzlich dunkel geworden, und sie mussten bleiben.

Probeweise stieß Schnatterschnabel einen Ruflaut aus. Keiner aus ihrer Schar schien in der Laune zu antworten.

Sie schüttelte die dünne Schneeschicht ab, die sich auf ihrem Gefieder gesammelt hatte, und arbeitete sich etwas tiefer in die schützende Laubschicht. Das Eis auf einigen der Blätter brach knackend.

Schnatterschnabel schob den Kopf wieder unter den Flügel.

 

*

 

Mit verschränkten Armen lehnte Reginald Bull an der Wand und starrte zur Decke hoch.

Irgendwo dort, zwanzig Kilometer über ihnen, schwebte eine Stadt im Weltraum, nur mit einem Gerüst verbunden. Eines Tages sollte aus diesem Gerüst eine Kopie des Mondes Ganymed werden, auf dem die Stadt einst erbaut worden war. Reste des alten Mondes und Brocken aus den Asteroidengürteln wurden seit acht Jahren herangeschafft und an den Verstrebungen verankert.

Irgendwann würde das nicht mehr notwendig sein, weil die Schwerkraft der akkumulierten Masse ausreichte, die neuen Lieferungen zu halten. Doch dieser Zeitpunkt lag Jahrzehnte in der Zukunft. So lange hielt nur das Stahlskelett alles zusammen.

An einer der ersten installierten Streben, sozusagen dem Rückgrat des Mondes, hing ein wenig bemerkenswerter Asteroid. Er war grob ellipsoid, drei Kilometer in der langen Achse, während er in der kurzen Achse nur etwa 500 Meter maß, zum Teil auch weniger. In seinem Inneren war eine Höhle von etwa 150 Metern Durchmesser geschaffen worden, um darin ein 100 Meter hohes fassförmiges Gebilde mit einem Durchmesser von 80 Metern in der Mitte und 60 Metern an den Enden zu verankern.

Ein Fass, das Noahs Arche zurzeit alle Ehre machen würde. Wir haben einen Utrofaren, der nicht mehr als Galionsfigur eines Fagesy-Schiffes dienen will. Ein cheborparnisches Au-pair-Mädchen und ihren terranischen Schützling. Die Überbleibsel einer dilettantischen Widerstandsgruppe aus Terrania samt ihrer übergelaufenen Fagesy-Geisel. Einen Sayporaner, der einen terranischen Journalisten adoptiert hat und ebenfalls nicht allzu glücklich mit dem Handeln seines Volkes ist. Die komplette Besatzung der BOMBAY, die darauf wartet, aus dem Tiefschlaf geweckt zu werden, in den sie fagesische Nanogenten geschickt haben. Und natürlich die ursprüngliche Besatzung, die Homer G. Adams hier eingesetzt hat, als er das Kastell als Rückzugsort seiner Society of Absent Friends ausgestattet hat. Wenn das so weitergeht, platzt das Fass bald aus allen Nähten.

»Lass mich mitgehen.«

Reginald Bull senkte den Blick zu dem Sprecher. Es war Oachono, mit dem er sich eben über die möglichen Sicherheitsvorkehrungen in der Solaren Residenz unterhalten hatte. Die beiden Arme, die der schlangensternartige Fagesy während seiner Entführung verloren hatte, waren schon fast wieder auf ihre volle Länge von über drei Metern angewachsen und kaum noch von den anderen dreien zu unterscheiden.

»Es geht nicht«, antwortete Bull. »Am Anfang kann nur ich allein reingehen. Sollte ich Erfolg haben, ist es wichtig, Leute nachzuholen, die sich in der Solaren Residenz auskennen oder ganz spezifische Fähigkeiten haben, die dort von Nutzen sind. Auf dich trifft leider weder das eine noch das andere zu.«

»Ich könnte mit den Fagesy reden, die dort stationiert sind.«

»Sie alle haben von deiner Ansprache gehört. Sollte einer von ihnen seine Waffen niederlegen wollen, wird er das auch ohne deine Anwesenheit tun. Andererseits könnte aber jemand, der dich als Verräter sieht, sich dazu hinreißen lassen, dich zu töten. Das Risiko ist deutlich höher als der mögliche Nutzen. Ich möchte dich lieber hier in Sicherheit behalten, für den Tag, an dem wir zu deinem Volk friedlichen Kontakt aufbauen können.«

»Du wirst keinen von ihnen dazu bringen können, sich zu ergeben. Sie ekeln sich vor Achsensymmetrischen wie dir.«

»Wenn ich erst in meinem Kampfanzug stecke, sehe ich fast aus wie ein Fünfstrahler, also mach dir darum keine Sorgen. Die Antwort ist ›Nein‹, und sie bleibt ›Nein‹. Und jetzt muss ich weiter. Danke für deine Hilfe!«

Der Fagesy hob einen Arm. Ob die Geste ein Abschied war oder etwas anderes, wusste Bull allerdings nicht.

Der Terranische Resident setzte seinen Rundgang durch die Räume der Krankenstation des Kastells fort.

Shamsur Routh schlief unter der Obhut der Geräte. Die Prognose hatte sich nicht geändert: Der Journalist war nicht einsatzfähig und würde es wohl auch nie wieder werden. Trotz der kurzen klaren Gespräche, die sie miteinander geführt hatten, hatte sein behandelnder Arzt klar zu verstehen gegeben, dass Rouths neuronale Struktur fortschreitenden Schaden nahm. Sein Geist zerfiel. Kirte Otorongo gab ihm nur noch wenige Wochen.

Vermutlich hatte das biomechanische Gerät, das Routh am Arm trug, etwas damit zu tun. Bislang hatte man ihm allerdings nicht entlocken können, woher er es hatte oder welchem Zweck es diente. Sein sayporanischer Adoptivvater Chourtaird hatte im Lauf eines Gespräches behauptet, es bilde eine glückliche Einheit mit Routh. Das war bislang die einzige Aussage, die sie dazu erhalten hatten, und sie war sehr in Zweifel zu ziehen. Sonderlich glücklich war Routh im Moment nicht.

Der Resident verwarf den Gedanken, auch Chourtaird aufzusuchen. Er konnte ihm im Moment nicht helfen. Beim kommenden Einsatz kam es auf Bulls eigenes Wissen und Erfahrung an.

Es wurde Zeit, die Dinge anzugehen.

 

*

 

»Es ist demütigend. Eine Schande. Inakzeptabel.«

Marschgeber Velgren hielt den hinteren Arm hochgereckt, um seine Entrüstung auszudrücken.

»Wir haben die Kontrolle, und uns werden die Hände gebunden. Unsere Mannschaften werden sinnlos über die Welt der Räuber verstreut, wo sie nichts finden werden. Wer wohl kann nur den Diebstahl ALLDARS begangen haben? Ihre Kämpfer! Ihre Flotte! Hier oben müssen wir nach den Antworten suchen, aber jetzt, da wir es frei tun könnten, werden uns die Hände gebunden!«

Marschgeber Tulerans Armspitzen zuckten zustimmend.

»Stattdessen sollen wir tatenlos zusehen, wie uns die Kontrolle wieder entrissen wird«, fuhr Velgren fort. »Ich sage: Nein! Sollen sie da unten sich von den Terranern einlullen lassen – wir hier oben denken weiter so klar wie der Weltraum. Und darum müssen wir selbst die Initiative ergreifen, ehe alles zu spät ist. Wir werden herausfinden, wo sie ALLDAR hingebracht haben!«

Eine Projektion der Umgebung ihrer Sternengaleonen erschien. Sein Arm stieß vor, direkt auf ein Schiff der Feinde zu. Es war ein beeindruckendes Schiff, größer als eine Sternengaleone.

»Wir werden auf dieses Schiff gehen. Ich habe ein größeres Schiff gewählt, weil sie wichtige Daten nicht auf irgendwelchen kleinen Schiffen haben werden. Wir werden zu ihrer Positronik vordringen und uns holen, was wir wissen wollen – alles über ihre Flotte, ihre Technik und vor allem über ALLDAR! Wir werden beweisen, dass sie schuldig sind, und diesen verleumderischen Gerüchten über einen Betrug der Nachhut ein Ende setzen!«

»Jawohl! Das werden wir!« Tuleran war begeistert.

Machono reagierte zurückhaltender. »Das ist offene Befehlsverweigerung«, sagte er. »Man könnte es als Verrat auslegen.«

»Der Hohe Marschgeber Chossom ist von diesem ekligen Lateralen, diesem Marrghiz, in die Irre geführt worden. Ist es nicht unsere hohe Pflicht unserem Volk gegenüber, solche Irrtümer zu erkennen und ihnen entgegenzusteuern? Wir dürfen keine blinden Befehlsempfänger sein! Wir müssen tun, was das Richtige ist: für unser Volk, für ALLDAR!«

»Für ALLDAR«, wiederholte Tuleran.

Machono kippte die Zentralscheibe.

»Also gut. Ich helfe dir. Aber ich unterstelle meine Leute nicht deinem Befehl.«

Velgren beherrschte seine Arme und zeigte nicht, wie wenig ihm diese Einschränkung gefiel. »Solange wir uns einig sind, ist das nicht von Belang«, sagte er. »Sie haben uns nichts entgegenzusetzen. Wir werden siegen. Für ALLDAR!«

 

*

 

Ein Déjà-vu-Gefühl erfasste Reginald Bull, als er in der TOLBA materialisierte. Sekundenlang flimmerte auf seiner Netzhaut ein Nachbild, das an eine vielfarbig schimmernde, ovalen Linse erinnerte. Es erinnerte ihn an etwas aus der fernen Vergangenheit, etwas Verschollenes. Er haschte nach der Erinnerung und glaubte bereits, sie zu haben, als eine Stimme sie ihm wieder entriss.

»Willkommen, Bully. Ich hoffe, du hast die Zeit nutzbringend einsetzen können.«

Wie immer ganz in Weiß stand Delorian in dem kahlen Raum. Bull trat von dem Podest, auf dem er erschienen war. Weder ein Käfig noch ein Torbogen ragte darüber auf. Entweder waren die Anlagen unsichtbar in die Wand dahinter eingelassen, oder das Podest selbst diente als Empfangsstation, ähnlich den Transitparketts der Sayporaner.

»Ich denke, ich habe sie gut genutzt, ja.« Er klopfte gegen den Zusatztornister, der am Rücken seines SERUN-Kampfanzuges hing. »Alles beisammen, was in der Stahlorchidee nützlich sein könnte.«

Delorian nickte. »Gut. Dann lass uns rüber zu den anderen gehen. – Übrigens habe ich in der Zwischenzeit weitere Informationen erhalten, die möglicherweise Anlass zur Eile geben.«

Bull trat hinter Delorian in eine sanft gebogene Röhre. Der irisierende Schimmer der Wände machte es schwer, ihre Entfernung zu schätzen oder auch nur, wie lang der Gang war und wohin er führte. Wäre nicht Delorian sicheren Schrittes vorausgegangen, Bull hätte schon bald die Orientierung verloren.

»Was für Informationen wären das?«, fragte er im Gehen.

»Ein Hyperfunkgespräch zwischen der Solaren Residenz und einem Nagelraumer der Spenta, die in der Sonne tätig sind.«

Bull dachte an das, was Chourtaird ihm berichtet hatte. Nur einige spezielle Sayporaner waren in der Lage zum Gedanken- und Gefühlsaustausch mit den Mosaikintelligenzen der Spenta. Ihnen war es zu verdanken, dass überhaupt Sayporaner auf den Nagelschiffen geduldet wurden. Aber auch mit einem sogenannten Spenta-Explikator war die Kommunikation schwierig. Nicht selten färbte die Art der Spenta, in größeren Dimensionen und Zeiten zu denken, auch auf die mit ihnen verbundenen Sayporaner ab.

»Muss ein längeres Gespräch gewesen sein«, vermutete er.

»Nicht einmal. Es war wohl die Antwort auf eine frühere Anfrage. Explikator Chourwayrs hat berichtet, dass die Verunreinigung in der Sonne gelöst und bereit zum Abtransport sei. Nach all unseren bisherigen Erkenntnissen muss es dabei um den Leichnam von ARCHETIM gehen. Sie bauen für den Transport gerade eine Ephemere Bahre. Das Gebilde, das über dem Südpol der Sonne die ultragravitationelle Ephemerfolie durchstößt ...«

»Der Förderturm.«

Bull hatte Bilder von dem Konstrukt gesehen. Er selbst war vor Ort in der Sonne gewesen, als die Spenta zum ersten Mal in sie eingedrungen waren und ihr Werk begannen. Im Verbund zwischen Sarmottes Fähigkeit, Informationen aus einem Geist zu extrahieren, und den Analysefunktionen der Bordpositronik der AMATERASU war ein Bild über das entstanden, was die Spenta taten: Sie schufen quasi aus dem Nichts ganze Fabriken aus sogenannter Ephemerer Materie, die aus der Energie der Sonne erzeugt wurde. Die Formen waren quasi erträumt und entstanden direkt, ohne langwierigen Zusammenbau.

So hatten sie die Fimbulkruste geschaffen, unter der die Sonne zu einem lichtlosen Ball von mehr als dreißig Millionen Kilometern aufgebläht war. Auch der siebenseitige »Förderturm« war so entstanden, der mehrere Kilometer über dem Südpol der Fimbulkruste in eine Spitze auslief.