Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Ivar Leon Menger & John Beckmann

- Originalausgabe -

2. Auflage 2012

ISBN 978-3-942261-31-9

© Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

Lektorat: Hendrik Buchna

Umschlaggestaltung: Ivar Leon Menger

Illustration: Astrid Amadori

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung, der Vertonung als Hörbuch oder -spiel, oder der Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, Video oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile, sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Band 1

Dodos Rückkehr

Ein seltsamer Anruf

Es gibt Geschichten, die sind es einfach wert, erzählt zu werden.

Und diese Geschichte, die ich euch gleich erzählen werde, gehört ohne Zweifel nicht dazu.

Mein Name ist Dodo. Wie der mauretanische Vogel, der nicht richtig fliegen konnte und deshalb ausgestorben ist. Soweit ich weiß, waren meine Eltern nie auf Mauritius, also fragt mich bitte nicht, wie die beiden auf den Namen gekommen sind. Und da wir gerade bei dem Thema sind: Fragt mich bitte auch nicht, wie das genau war in den Gunga-Gunga-Höhlen, als ich einen ausgewachsenen Zlatko-Patko nur mithilfe einer Haarklammer und eines Erdbeerkaugummis zur Strecke gebracht habe. Ich werde das nämlich andauernd gefragt und leider muss ich immer dieselbe Antwort geben: Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an so vieles nicht mehr und bei den Dingen, an die ich mich erinnere, bin ich mir unsicher, ob ich das tatsächlich erlebt oder vielleicht doch nur geträumt habe. Ich sage euch das lieber gleich, damit ihr wisst, worauf ihr euch einlasst. Nicht, dass ihr später enttäuscht seid.

Die ganze Geschichte begann in Omis Garten. Genauer gesagt, begann sie mit einem äußerst seltsamen Job-Angebot, das mein komplettes Leben verändern sollte. Ich erinnere mich, wie meine Kniegelenke knackten, als ich mich neben den Benzinrasenmäher hockte. Das heißt, es war ein Freitag. Freitag ist nämlich Rasenmäh-Tag. Wäre ich damit beschäftigt gewesen, den Bürgersteig zu kehren, dann hätte die Geschichte an einem Samstag ihren Anfang genommen. Denn Samstag ist Straßenkehr-Tag. Jeden Tag eine gute Tat. So hat es meine Omi festgelegt. Und dafür gibt es dann fünf Euro.

Es war also Freitag, die Sonne knallte auf meinen Hinterkopf, und ich kniete neben dem Rasenmäher: einem grünen, stählern glänzenden Monstrum, das vermutlich schon länger als ich bei Omi lebte. Zumindest war es bereits da gewesen, als ich im Alter von fünf Jahren mit klopfendem Herzen das erste Mal das staubige Halbdunkel des Geräteschuppens betreten hatte. Grinsend hatte es in der Ecke gelauert, jederzeit bereit hervorzuspringen und nach mir zu schnappen, sollte ich unvorsichtig genug sein, mich ihm zu nähern. Und ich, ich war weinend davongelaufen und hatte mein Gesicht in die Küchenschürze meiner Omi vergraben.

Das Verhältnis zwischen dem grünen Ungeheuer und mir hat sich seitdem nicht nennenswert verändert.

Ich betätigte also die Kaltstartvorrichtung – einen schwarzen Gummiknopf, dessen Form mich jedes Mal an einen Aufsatz für Nuckelflaschen erinnert –, um Benzin in den Vergaser zu pumpen. Fünf bis sieben Mal grub sich mein Daumen in den Nuckelaufsatz – genau so, wie es Betriebsanleitung und Internetforen empfahlen. Anschließend drückte ich den Sicherheitshebel gegen den Metallbügel, holte tief Luft und zog, so fest ich konnte, an dem Starterseil. Das Ungetüm quittierte meine Bemühungen mit einem amüsierten Gurgeln und verstummte.

Ich wiederholte den Vorgang: Nuckelaufsatz reindrücken, fünf bis sieben Mal, Hebel randrücken, Starterseil ziehen. Das Ergebnis blieb das Gleiche: Kurzes Gurgeln, dann Stille. Ein Schweißtropfen fiel von meiner Stirn und verdampfte auf dem glühendheißen Kopf des Grasfressers. Ich machte dicke Backen und blies warme Luft hinaus.

Omi, die meine Anstrengungen von der Terrasse aus beobachtete, rief etwas, das ich nicht verstand.

Ich antwortete aufs Geratewohl: „Ja, Omi, ich pass schon auf die Rosen auf.“

Sie nickte zufrieden. Ich kenne meine Omi wirklich sehr gut, müsst ihr wissen.

„Und mäh mir schön ordentlich am Rand entlang!“ Sie hob den Zeigefinger und schüttelt ihn anschließend neben ihrem Ohr, als wäre er ein Überraschungs-Ei. „Das letzte Mal hast du die ganzen Brennnesseln abgeschnitten!“

„Ja, Omi, mach ich“, rief ich zurück, während ich meine Bemühungen fortsetzte: Nuckelaufsatz, Sicherheitshebel, Startleine. Das grüne Ungeheuer gurgelte vergnügt in der Nachmittagssonne. Anscheinend gefiel es ihm, wie ich seinen Nuckelaufsatz bearbeitete. Gerade als ich mich fragte, ob eine Kaltstartvorrichtung an einem Tag, an dem selbst in den dunkelsten Winkeln unseres Dorfes über dreißig Grad herrschten, möglicherweise völlig nutzlos war, erwachte der stählerne Dämon mit einem Fauchen zum Leben, und ich begann mit meiner Arbeit.

Schnell füllte sich der grüne Bauch mit streichholzlangen Grashalmen. Die Zähne des Monstrums waren wirklich messerscharf. Trotzdem lief der Schweiß schon nach wenigen Schritten in kleinen Bächen über mein Gesicht und tropfte von Kinn und Nase. Es war einfach zu heiß. Am Ende der fünften Bahn – ich wendete gerade an dem kopfhohen Holzzaun, der unübersehbar die Grenze zwischen unserem Garten und dem von Frau Koslowski markierte –, da kam Omi mit einem Tablett aus dem Haus.

„Hier, mein Junge, mach mal eine kleine Pause!“, rief sie und stellte das Tablett auf den Gartentisch. „Ich habe dir extra einen schönen Brennnessel-Tee gemacht.“

Ich dachte an die Anstrengungen, die es mir bereiten würde, das Ungetüm wieder in Gang zu kriegen, doch die schattige Kühle unter der taubenblauen Markise war einfach zu verlockend.

„Der wird dich beruhigen.“ Omi streckte mir eine dampfende Tasse entgegen.

„Aber ich bin doch ganz ruhig“, erwiderte ich und wischte mir übers Gesicht.

„Ach, mein lieber Dodo … zu viel Ruhe kann nie schaden. Das haben auch immer deine Eltern –“ Sie stockte und kniff die Augen zusammen. Ihr Gesicht war plötzlich von tiefen Gräben durchzogen.

„Schon wieder dein Magen?“, fragte ich und stellte die Tasse auf den Tisch.

Omi schüttelte den Kopf und presste beide Hände auf ihren Bauch. „Ist schon gut, mach dir keine Sorgen … Das brennt nur ganz kurz.“ Sie versuchte ein Lächeln, was jedoch gründlich misslang. „Geht gleich schon wieder.“

Schon immer litt Omi unter schlimmen Bauchschmerzen, die scheinbar völlig willkürlich auftraten. Glücklicherweise verschwanden die Schmerzen jedoch meistens genauso schnell, wie sie gekommen waren. Manchmal glaubte ich, ein Geräusch zu hören, kurz bevor Omi zusammenzuckte und die Hände auf ihren Bauch legte – so etwas wie das leise Knistern, das man hört, wenn man bei Regen unter den Hochspannungsleitungen steht. Damals habe ich das als Einbildung abgetan.

Die Schluchten in Omis Gesicht verteilten sich auf Hunderte kleiner Falten, und Omi selbst richtete sich wieder zu ihren vollen ein Meter dreiundfünfzig auf, nur um sich gleich darauf erschöpft in einen der Gartenstühle sinken zu lassen. Ich setzte mich ihr gegenüber und versuchte, das abrupt unterbrochene Gespräch wieder aufzunehmen.

„Was haben meine Eltern immer gesagt?“

„Ach, Dodo …“ Omi seufzte. „Das erzähle ich dir später. Mir geht‘s gerade nicht so gut. Mach bitte noch den Rest fertig.“ Sie sah an mir vorbei auf die Wiese. „Und nicht vergessen: Das Rasenstück vor dem Schuppen darfst du nicht mähen, verstanden?“

„Ich weiß, Omi.“

„Das Rasenstück vor dem Schuppen darfst du nicht mähen“, wiederholte sie stoisch. Ihre Stimme bekam jedes Mal etwas Roboterhaftes, wenn sie über dieses Rasenstück sprach, und es verging kein Freitag, an dem sie mich nicht daran erinnerte. Das Gras vor den Schuppen sei besonders empfindlich, hatte Omi mir erklärt. Dieser Empfindlichkeit zum Trotz hatte es in all den Jahren des ungestörten Wachsens jedoch eine beachtliche Höhe und Dichte erreicht.

„Keine Sorge“, versicherte ich erneut, „das weiß ich doch.“

„Du bist ein guter Junge, Dodo“, flüsterte Omi. Sie sah aus, als sei sie mit offenen Augen eingeschlafen – oder ihre Mimik ins Koma gefallen. Erst als im Haus das Telefon klingelte, erwachte ihr Gesicht wieder zum Leben. „Das sind bestimmt die Leute von den Stadtwerken …“, sagte sie abwesend und erhob sich mit einem Ächzen.

Das Telefon verstummte nach dem fünften oder sechsten Klingeln. Kurz darauf rief Omi: „Dodo!“

„Ja?“, rief ich zurück ins dunkle Wohnzimmer.

„Das Gespräch ist für dich.“

„Für mich?“, fragte ich, einmal leise und dann noch einmal laut für Omi im Wohnzimmer. Es kam nicht häufig vor, dass mich jemand anrief, was aber auch völlig in Ordnung war, da ich allgemein nicht besonders gerne telefoniere. Man weiß ja nie so genau, wer da am anderen Ende ist.

„Für mich?“, fragte ich ein drittes Mal, aber Omi antwortet nicht. Wahrscheinlich hatte sie mich nicht verstanden – ihre Ohren waren nicht mehr die Besten –, also stand ich auf und ging hinein.

„Das ist der Mann von den Stadtwerken“, flüsterte Omi aufgeregt. Sie stand bei der Kommode, den Telefonhörer mit beiden Händen umschlungen. „Er will dich sprechen.“

„Wieso denn mich?“, flüsterte ich zurück und spürte ein unangenehmes Kribbeln in mir aufsteigen. „Und warum überhaupt?“

Die Schultern von Omis Strickjacke warfen Falten. „Das hat er nicht gesagt.“

Ich überlegte. „Aber so was sagt man doch normalerweise, wenn man irgendwo anruft. Guten Tag, mein Name ist So-und-so, ich rufe Sie an wegen Diesem-und-Jenem. Gerade wenn man von den Stadtwerken ist!“

„Er hat nur gesagt, dass er dich sprechen will. Mehr nicht.“ Omi streckte mir ihre gefalteten Finger samt Telefonhörer entgegen.

„Aber … aber die kennen mich doch gar nicht“, zweifelte ich weiterhin die Notwendigkeit des Gesprächs an. „Warum wollen die denn gerade mit mir sprechen?“

„Dodo, das weiß ich doch auch nicht!“ Omi stieß den Hörer in die Höhe, als handle es sich um den heiligen Gral und traf dabei versehentlich, aber mit erstaunlicher Wucht meine Nasenspitze. Ein dumpfer Schmerz breitete sich spinnennetzförmig auf meinem Gesicht aus. „Nun lass den Herrn doch nicht so lange warten!“, sagte Omi und plötzlich klebte der Hörer zwischen Ohr und Schlüsselbein meiner rechten Körperhälfte. Er roch nach Omis Erdbeer-Handcreme.

Ich räusperte mich umständlich und sagte: „Ja, hallo?“

Niemand antwortete. Das Ticken der Standuhr am anderen Ende des großen Flures war das Einzige, was zu hören war.

„Hallo?“, fragte ich noch einmal.

Omi starrte erwartungsvoll zu mir hinauf. Ich zog Augenbrauen und Schultern gleichzeitig nach oben, um meine Ratlosigkeit zu signalisieren.

„Hallo Dodo“, sagte eine Stimme am anderen Ende der Leitung.

Erschrocken sog ich Luft durch meine Nasenlöcher ein. „Ja?“

„Wie geht es dir?“, fragte die Stimme. Sie war alt und dunkel.

„Gut“, presste ich hervor und stellte mir einen großen, alten Mann in einem noch viel größeren und älteren Ohrensessel vor.

„Hört deine Omi mit?“, fragte der Mann in dem Sessel.

„Nein“, antwortete ich atemlos. „Wieso?“

„Gut.“ Der Mann ächzte, als würde er sich anders hinsetzen. „Dann hör mir jetzt genau zu.“ Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein. „Willst du einen Job, bei dem du mehr als fünf Euro pro Tag verdienst?“

Mein angehaltener Atem entwich geräuschvoll aus meinem Mund. Ich nutzte ihn für ein klägliches „Puh“.

„Ich hätte da nämlich einen für dich“, sagte der Mann. „Einen ganz besonderen Job. Nur für dich. Also, wie sieht‘s aus?“

„Ähm … tja …“, sagte ich. Und: „Na ja … hm …“ Und versuchte derweil, meine Gedanken zu ordnen, die Fürs und Widers gegeneinander abzuwiegen, bis ich erkannte, dass es bislang gar keine Widers gab und – abgesehen von einer Bezahlung von mehr als fünf Euro pro Tag – auch keine Fürs. Also fragte ich stattdessen: „Was denn für einen Job? Bei den Stadtwerken?“

„Das erkläre ich dir noch. Kennst du die Telefonzelle bei den Eisenbahnschienen?“

Ich nickte. „Ja. Klar.“

„Gut“, sagte der Mann. „Dann sei da. An genau dieser Telefonzelle. Und zwar am Montag, Punkt elf Uhr elf.“

„Tut mir leid, am Montag kann ich nicht. Da ist Wäschewaschen-Tag.“

„Nein, Dodo“, sagte der Mann bestimmt, „diesen Montag nicht. Diesen Montag ist Neuer-Job-für-Dodo-Tag. Verstanden? Elf Uhr elf, Telefonzelle bei den Eisenbahnschienen. Schreib‘s dir lieber auf, bevor du‘s vergisst. So, und jetzt gib mir noch mal deine Omi!“

Ich legte meine Hand auf die Sprechmuschel und sah Omi an: „Er will noch mal mit dir sprechen.“

Omi nahm den Hörer. „Ja?“ Sie sah irgendwie besorgt aus. Der Mann redete, das gleichmäßige Brummen drang aus der Plastikschale des Telefons, und Omi nickte. Etwas in ihrem Gesicht veränderte sich. Es schien zu erschlaffen.

„Bitte nicht“, sagte Omi, als das Brummen verstummt war. „Dafür … dafür ist noch nicht der richtige Zeitpunkt.“ Sie senkte den Blick und starrte auf die Fliesen in der angrenzenden Küche. „Wer … sind Sie? Hallo?“

Die Standuhr tickte dreimal, dann legte Omi auf.

„Wer war das?“, fragte ich jetzt ebenfalls.

„Keine Ahnung, Dodo.“ Omi fixierte immer noch den Punkt auf dem Küchenboden. „Auf jeden Fall bist du am Montag pünktlich an dieser Telefonzelle.“

Ich dachte nach. Es war so vieles in so kurzer Zeit passiert, dass es mir schwer viel, meine Gedanken zu ordnen. „Omi, was meintest du denn damit? Wofür ist noch nicht der richtige Zeitpunkt?“

Wieder glaubte ich, kurz das Knistern von Hochspannungsleitungen zu hören.

Omi senkte den Kopf und stützte sich an der Kommode ab. „Jetzt nicht, Dodo … Jetzt nicht …“

Telefonzelle, 11 Uhr 11

Als Omi mich am Montagmorgen mit wedelnden Handbewegungen durch den kleinen Flur Richtung Haustür trieb und dabei unablässig wiederholte, ich solle nicht trödeln, fühlte ich mich, als wäre ich vor gerade einmal fünf Minuten aus dem Schlaf gerissen worden. Tatsächlich waren es jedoch beinahe acht Minuten gewesen.

„Das ist dein erstes Vorstellungsgespräch“, sagte Omi, öffnete die Tür und schob mich hinaus ins grelle Sonnenlicht. „Hörst du, Dodo? Da darfst du auf keinen Fall zu spät kommen! Sonst ist gleich der erste Eindruck hinüber.“

Ich nickte träge, begann dafür aber umso heftiger zu blinzeln.

„Gewöhn dich schon mal ans frühe Aufstehen!“, riet Omi mir und strich dabei unablässig ihre Schürze glatt. „Wenn du die Anstellung erst mal hast, wirst du das jeden Tag –“

Sie verstummte abrupt und reckte mir ihren Kopf entgegen. „Was ist das denn?“

Bevor ich reagieren konnte, schoss ihre Hand empor und schmirgelte mit etwas unglaublich Rauem über mein Kinn. Schleifpapier, dachte ich, extragrob. Instinktiv versuchte ich mich abzuwenden, doch Omis freie Hand ergriff meinen Nacken. „Jetzt stell dich nicht so an! Du hast da was!“ Sie wirkt sehr aufgeregt, also gab ich meinen Widerstand auf. Wahrscheinlich hatte Omi ihren Brennnessel-Tee nicht getrunken.

Als sie die Sanierungsarbeiten in meinem Gesicht beendet hatte, steckte sie das Schleifpapier, dass frappierende Ähnlichkeit mit einem ausgeblichenen Stofftaschentuch besaß, in die Tasche ihrer Schürze und sagte: „Hab keine Angst, Dodo. Alles wird gut.“

Ich strich über mein Kinn und blinzelte. „Warum sollte ich denn Angst haben?“

„Sollst du doch gar nicht.“ Omi lächelte, ihre Wangen zuckten und das Lächeln geriet ins Wanken. Sie vergrub ihre Hände in den Schürzentaschen. „Für heute Nachmittag backe ich uns einen leckeren Kamillenkuchen. Was sagst du dazu?“

Ich überlegte. „Mit Sahne?“

„Mit Sahne!“ Diesmal blieb das Lächeln länger. „Aber los jetzt! Sonst kommst du tatsächlich noch zu spät!“

Ich schirmte meine Augen ab und stieg vorsichtig die drei kleinen Stufen zum Bürgersteig hinunter. Am Ende der Straße thronte gelb glühend die Sonne. Alles sah aus wie immer. Nur greller.

„Dodo?“, sagte Omi, und ich drehte mich um.

„Ich hab dich lieb, Dodo.“

„Ich hab dich auch lieb, Omi.“

Die Telefonzelle befand sich ein gutes Stück außerhalb des Dorfes. Sie war schon von weitem zu sehen, denn inmitten der grün-braunen Felder handelte es sich bei ihr um das einzige Objekt, welches höher als eine Spargelstange war. Direkt neben der Telefonzelle traf die zweispurige Hauptstraße mit den Eisenbahnschienen aufeinander, was dem Ort eine besondere Bedeutung verlieh. Davon abgesehen war aber nicht viel los.

Als ich das gelbe Häuschen erreichte, ertönte ein lautes Bimmeln und die Schranken am Bahnübergang schlossen sich. Gemächlich schnaufend zog der Vier-nach-Zehn-Zug vorbei. Ich besaß keine Armbanduhr und auch keine Handy, doch selbst wenn der Vier-nach-zehn wie gewöhnlich eine halbe Stunde zu spät kam, stand außer Frage, dass ich entschieden zu früh war. Ratlos sah ich mich um, sah die Straße hinunter, sah die riesigen Strommasten in der Ferne und einen müde dahinkriechenden Traktor, sah die Spargelfelder, sah zum Dorf hinüber, zu den vielen Spitzdachhäuser und zum Kirchturm und kam zu dem Schluss, dass es hier rein gar nichts zu sehen gab. Völlig ausgelaugt vom vielen Gucken setzte ich mich in den Schatten der Telefonzelle und schloss die Augen.

Ich muss wohl eingedöst sein. Ich weiß nur, dass mich ein Klingeln weckte, ich aufsprang und wie ein kopfloses Hühnchen um das gelbe Häuschen herumlief, bevor mein schlaftrunkener Verstand begriff, dass das Klingeln aus dem Inneren kam, und ich die Tür aufriss.

„Hallo?“, pfiff es aus meinen Lungen, als ich den Hörer abhob. Die Temperaturen in der Kabine waren saunaartig, die Luft klebrig wie Zuckerwatte, ohne jedoch dessen Geschmack zu besitzen.

„Hallo Dodo“, sagte die Stimme, die wahrscheinlich zu dem großen, schweren Mann in dem alten Ohrensessel gehörte. „Schön, dass du gekommen bist. Endlich können wir uns mal ganz in Ruhe unterhalten.“ Er klang ehrlich erfreut. „Hast du Lust auf ein kleines Abenteuer?“

Ich atmete muffig-heiße Süßwaren, schwitzte aus allen mir zur Verfügung stehenden Poren und dachte über die Frage nach. „Ist Ihnen etwas dazwischengekommen?“, fragte ich schließlich meinerseits.

„Wie meinst du das?“

„Ist Ihnen etwas dazwischengekommen?“, fragte ich noch einmal, um nicht den Faden zu verlieren. „Wegen des Vorstellungstermins … Ich hatte doch einen Vorstellungstermin.“

Der Mann in dem Ohrensessel lachte kurz und kehlig. „Das hier ist der Vorstellungstermin, Dodo! Aber du musst keine Angst haben. Es wird bestimmt nicht langweilig.“

„Warum … warum sollte ich denn Angst haben?“, fragte ich misstrauisch.

„Sollst du doch gar nicht! Du musst mir schon genau zuhören.“

Es klang vorwurfsvoll, also sagte ich: „Entschuldigung, kommt nicht wieder vor“, während ich mit dem Fuß die Tür aufstieß und versuchte, mitsamt dem Telefonhörer dem gelben Backofen zu entfliehen, doch dafür war das Kabel zu kurz. Mit der Nasenspitze auf Höhe der Türschwelle atmete ich tief ein, um die frische Luft einzusaugen. „Um was für einen Job geht es überhaupt?“

„Das ist ganz einfach: Ich habe meinen Löffel verloren und brauche jemanden, der ihn mir zurückbringt.“

Ich hörte auf, an dem Stahlkabel zu ziehen und legte den Kopf schief. „Sie haben … Ihren Löffel verloren …“

„Na ja … streng genommen wurde er mir geklaut.“ Der große Mann lachte anerkennend. „Dir kann man aber auch nichts vormachen!“

„Was denn für ein Löffel? Ich dachte, es geht um einen Job bei den Stadtwerken …“ Ein Verdacht waberte träge durch meinen ausgedorrten Verstand und erreichte meinen Mund. „Ist das … ein Witz?“

„Nein, Dodo, das ist alles andere als witzig“, sagte der Mann bestimmt. „Wenn du mir meinen Löffel zurückbringst, dann bekommst du von mir eine monatliche Sofort-Rente in Höhe von 5000 Euro.“ Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: „Wobei 4000 Euro allein die Gefahrenzulage sind.“

Ich atmete flach durch den Mund. „Gefahrenzulage“, wiederholte ich matt.

„Ja, klar. Wenn ich da nur an die fiesen Klammer-Mutschkas denke …“

„An die was?“

„Ach nix … Also, willst du nun den Job?“

Ich wusste, dass irgendetwas mit diesem Vorstellungstermin nicht stimmte. Ich war nur noch unsicher, ob sich das Problem vor oder hinter meiner Stirn befand.

„Also, Junge, das Erste, was du lernen musst, ist Entscheidungen zu treffen!“ Es klang mehr nach einem Befehl als nach einem Rat. „Sag einfach ja! Ja, ich will die Sofortrente!“

Es klang überzeugend. „Wo finde ich diesen geheimen Löffel denn?“

„Wenn du vor ihm stehst, erkennst du ihn sofort. Er ist rot-gelb gestreift. Wie Zahnpasta. Nur halt nicht rot-weiß, sonder rot-gelb gestreift. Verstehst du?“

„Klar.“ Ich nickte und versuchte, mich zu erinnern, wie man sich bei einem Hitzeschlag verhalten sollte. „Na, dann … dann mach ich den Job natürlich.“

„Deswegen willst du jetzt den Job?“, fragte der Mann in dem Ohrensessel. Ich bildete mir ein, eine leichte Irritation herauszuhören. „Weil der Löffel rot-gelb gestreift ist?“

„Nee“, sagte ich langgezogen. „Aber ich wollte auch mal was Bescheuertes sagen.“

Einige Augenblicke lang war es still. Der große, schwere Mann atmete hörbar aus. „Du findest das also lustig? Du hast gar kein Interesse an dem Abenteuer deines Lebens?“

Ich überlegte. Lange rosa Fäden verklebten mein Gehirn „Doch … eigentlich schon. Aber wenn ich ehrlich bin, dann klingt das alles schon ein bisschen durchgeknallt. Finden Sie nicht?“

„Ich kann deine Bedenken durchaus verstehen, Junge. Aber du wirst schnell merken, dass ich keinen Mist erzähle …“ Der Mann lehnte sich mit einem Ächzen nach vorne und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Hör mir jetzt gut zu. Da unten, unter den Telefonbüchern, siehst du da eine Steckdose?“

„Eine Steckdose? Hier?“

„Ja, da muss eine sein“, beharrte er flüsternd.

„In einer Telefonzelle?“, fragte ich sicherheitshalber.

Er gab das Flüstern auf. „Ja, verdammt! Schau einfach nach!“

Ich drehte mich um – weg von der geöffneten Tür, hin zur Zuckerwattesauna. „Tatsächlich … da ist eine!“ Die Steckdose befand sich schräg unter den herabhängenden Telefonbüchern, etwa auf Schnürsenkelhöhe. „Wer baut denn eine Steckdose in eine Telefonzelle?“

„Ich.“

„Und … und was soll das?“

„Sag mal, was ist denn los mit dir?“, fuhr mich der Mann an. Ich konnte hören, wie er in seinem Sessel nach vorne rückte. „Redest du auch so mit deiner Omi?“

„Nee“, antwortete ich kleinlaut. „Nee, natürlich nicht.“

„Na also! Dann reiß dich mal zusammen!“ Er lehnte sich wieder zurück. „So … und jetzt klopfst du drei Mal lang und drei Mal kurz an die Dose. Das ist das vereinbarte Zeichen.“

„Für was?“ Mein Gehirn hatte sich mittlerweile wegen Sauerstoffmangels und Überhitzung abgeschaltet, so dass die Fragen ohne mein Zutun aus meinem Mund herausplumpsten.

„Für mein kleines Helferlein“, antwortete der Mann.

„Ist das so was wie ein Morsezeichen?“

„Weniger reden, mehr machen! Klopf gegen die Steckdose, dann kommt der Strom-Tom und hilft dir. Ich bin mir sicher, ihr werdet gleich einen Draht zueinander haben.“ Wieder dieses kehlige Lachen. „So … und jetzt sage ich tschüss! Und viel Erfolg! Ich melde mich dann wieder.“

„Halt! Moment mal! Wo soll ich den Löffel denn suchen? Und wie kann ich Sie erreichen? Hallo? Wie heißen Sie überhaupt?“

Die Fragen sprudelten aus mir hervor, doch es war zu spät. Ein hartes Klacken verkündete das Ende des Gesprächs und ließ mich allein in der stickigen Telefonzelle zurück. Mit all meiner Verwirrung und Frustration starrte ich den Hörer an, wovon dieser jedoch sichtlich unbeeindruckt blieb. Ich versuchte es bei der Steckdose, doch auch diese zeigte keine Reaktion. Einem plötzlichen Einfall folgend, wirbelte ich herum und starrte nach draußen. Die Straße, die Felder, der Bahnübergang: nichts hatte sich verändert. Nirgendwo standen lachende Menschen, die mit dem Finger auf mich zeigten, nirgendwo ein Kamerateam.

Ich hängte den Hörer zurück auf die Gabel und hockte mich hin.

Das Ding aus der Dose

Die Steckdose war gelb, aus Plastik, ziemlich verdreckt, was bestimmt mit der bodennahen Lage zusammenhing, und alles in allem völlig gewöhnlich. Ich sah mich ein weiteres Mal misstrauisch um und klopfte mit den Fingergelenken gegen den Plastikrand. Dreimal lang, dreimal kurz. Nichts passierte.

Ich wollte gerade wieder aufstehen, als ich das Summen hörte. Ich beugte mich vor und hielt mein Ohr an die Steckdose. Das Summen schwoll schnell an. Es wurde lauter. Nein, es kam näher. Wespen, dachte ich panisch und wich zurück, fiel auf meinen Hintern und versuchte, mit den Beinen strampelnd, mich ins Freie zu drücken, weg von der Steckdose, aus der sich jeden Augenblick ein aufgebrachter Schwarm in die Telefonzelle ergießen würde. Das Summen gipfelte in einem hohlen Ploppen. Schlagartig war es wieder still. Hektisch keuchend sah ich mich um, konnte aber keine einzige Wespe entdecken. Alles war genauso wie vorher, nur das Summen war verstummt. Erschöpft drückte ich mit dem Rücken die Tür auf und legte mich der Länge nach hin. Über mir strahlte der blaue Himmel.

„Na endlich“, rief eine helle Stimme. „Ich dachte schon, du würdest nie mehr klopfen.“

Ich drehte den Kopf zur Seite und sah an meinen Beinen vorbei. Auf dem Boden der Telefonzelle stand ein kleines Männchen, nicht größer als ein Fingernagel. Es trug einen roten Pullover und blaue Hosen. Seine Haare standen wirr vom Kopf ab. Na klar, dachte ich, es kommt ja auch direkt aus der Steckdose. Ich beglückwünschte mich zu meiner Diagnose: Ich hatte zweifelsohne einen Sonnenstich erlitten.

„Weißt du, wie eng es da drinnen ist?“, fragte das Männchen. Es sah so aus, als würde es die Hände vorwurfsvoll in die Hüften stemmen.

„Also, das ist aber ein wirklich sehr, sehr ausgefallener Traum“, sagte ich und lächelte selig.

„Nein, Dodo, das ist kein Traum“, widersprach das Männchen mit den wirren Haaren.

„Ich weiß“, sagte ich. „Ich habe einen Hitzeschlag. Oder einen Sonnenstich. Eins von beiden. … Offen gesagt, kenne ich den Unterschied gar nicht.“ Ich lächelte und dachte nach, gab es aber gleich wieder auf. „Wenn ich mir einbilde, dass das ein Traum ist, geht‘s mir gleich viel besser. Woher kennst du eigentlich meinen Namen?“

„Na, vom Chef natürlich. Ich bin übrigens der Strom-Tom.“ Das Männchen machte eine Bewegung, als würde es einen Hut abnehmen. „Ich bring dich in die Platinen-Sümpfe von Komatroma.“

„Wohin?“

„War nur ein Witz!“ Strom-Tom grinste breit, was bei der Relation von Größe und Entfernung natürlich unmöglich zu erkennen war. „Ich bringe dich zur Grenze.“

„Was sind denn die Platinen-Sümpfe?“, fragte ich. Die Plauderei begann mir zu gefallen. Der Boden unter meinem Rücken war weich, mein Kopf war leicht und die Sonne schien warm in mein Gesicht. Außerdem musste ich die Zeit überbrücken, bis mich jemand finden und den Notarzt alarmieren würde.

„Ach, das ist nicht so wichtig.“ Strom-Tom winkte ab. „Die kommen erst im zweiten Band vor. Also … können wir jetzt anfangen?“

„Womit denn?“

„Steck mich in deinen Mund!“ Strom-Tom kam auf mich zu.

„Auf keinen Fall …“ Ich hob meine Hand und legte sie Strom-Tom in den Weg. „Wer weiß, wo du schon überall warst …“

„Du willst doch nicht, dass ich dem Chef Bescheid sage, oder?“ Strom-Tom versuchte, an meiner Hand vorbeizukommen. „Jetzt zier dich nicht so und mach deinen Mund auf!“

„Ich bin doch nicht blöd“, sagte ich und schob ihn zurück in die Telefonzelle. „Ich schluck doch keinen Strom-Typen! Das kribbelt bestimmt ganz unangenehm auf der Zunge! Und außerdem … was ist, wenn ich einen Schlag bekomme?“ Ich kam mir plötzlich ziemlich clever vor.

„Das ist doch der Sinn der Sache!“

„Nee, das mache ich nicht.“ Ich guckte ernst und schüttelte den Kopf, um meine Entschlossenheit zu unterstreichen. Leider kitzelten einige Grashalme in meinem rechten Ohr, so dass ich lachen musste. „Wirklich nicht“, prustete ich.

„Na gut. Dann gebe ich dir einfach so lange Stromschläge, bis du vernünftig wirst!“

„Nee, nee“, sagte ich noch immer lachend.

„Wenn du‘s nicht anders willst …“

Ein Blitz schoss in meine Hand, zuckte innerhalb einer Millisekunde hinüber zur anderen Hand, hoch in den Kopf und schließlich runter in die Füße. Mein Körper reagierte mit einiger Verspätung, bäumte sich auf, ich öffnete den Mund und schrie – was sich gleich darauf als großer Fehler herausstellte, da Strom-Tom einen beachtlichen Sprung hinlegte und zielgenau in meinem Rachen landete. Ich würgte und stieß einen kräftigen Rülpser aus.

„Alles klar“, rief Strom-Tom. „Ich bin drin!“ Seine Stimme klang auf einmal merkwürdig dumpf.

„Was zum Teufel sollte das?“, krächzte ich aufgebracht und rieb meinen Hals.

„Ich kenn euch Menschen doch“, hallte es aus meinem Inneren. „Du hättest deinen Mund niemals freiwillig aufgemacht. Ist immer so. … Sieht aber ganz gut aus bei dir. Gute Ernährung, was?“

„Du bist jetzt in meinem Bauch?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon kannte.

„Ja“, bestätigte Strom-Tom. „Zwischen Müsli und French-Toast.“ Er stieß einen angewiderten Schrei aus. „Und Brennnessel-Tee! Bäh!“

„Ich glaube es einfach nicht …“ Vorsichtig betastete ich meinen Bauch. Alles fühlte sich an wie immer.

„Können wir dann endlich anfangen? Und hör auf, an dir rumzudrücken! Dann wackelt hier drinnen alles. Ich werde sonst noch seekrank.“

Ich beendete meine Untersuchung.

„Also, ganz einfache Regeln“, sagte Strom-Tom. „Du machst, was ich sage – sonst kriegst du einen Stromschlag.“

„Das habe ich schon bemerkt.“ Ich wartete. „Und was sind die anderen?“

„Welche anderen?“, fragte Strom-Tom.

„Die anderen Regeln. Du sprachst von Regeln, also Mehrzahl.“

Einen Moment lang war es still in meinem Bauch. „Okaykay, hier ist die zweite. Wer den Klugscheißer spielt, kriegt ebenfalls einen Stromschlag. Alles klar?“

„Ich wollte nur sichergehen, dass du nichts vergessen hast“, rechtfertigte ich mich.

„Ja, ja, geschenkt“, sagte Strom-Tom. „So, genug geplaudert! Wir gehen jetzt zur Grenze, damit du deinen Auftrag erfüllen kannst. Okaykay?“

„Hab ich denn eine Wahl?“

„Natürlich nicht. Kennst du den Steinbrücker Teich?“

„Da fahren Omi und ich manchmal sonntags hin und füttern die Enten.“

„Na, das ist doch fabelhaft! Also, worauf wartest du noch? Lauf schon mal los!“

Ich stand auf, klopfte meine Hose ab und schaute in die Richtung, in der ich den Steinbrücker Teich vermutete. „Der ist aber ewig weit weg.“

„Na und? Du läufst ja – nicht ich. Einer der wenigen Vorzüge meines Jobs. Außerdem muss ich Energie sparen.“

Ich seufzte und ging los. Was blieb mir schon anderes übrig? Ich musste auf meinen Bauch hören. Sonst bekam ich Stromschläge. Ich ließ das Dorf hinter mir und blinzelte der hellen Mittagssonne entgegen. Nach den ersten Schritten versuchte ich es mit einem langsamen Traben. Sofort flutete frischer Schweiß aus meinen Poren.

„Bist ja nicht gerade in Form“, stellte Strom-Tom fest. „Dass kommt davon, wenn man den ganzen Tag nur rumsitzt!“

„Sonst fahren wir immer … mit dem Bus … zum … Steinbrücker Teich“, brachte ich keuchend hervor.

„Nicht so viel reden!“, blaffte Strom-Tom. „Davon kriegst du Seitenstechen.“

Die Eisfriedel

Der Steinbrücker Teich war so groß wie ein Schwimmbecken und nicht sehr viel tiefer als eine Badewanne. Wie beinahe jeden Sommer waren weite Teile des Gewässers mit einer klebrigen Schicht aus Algen überzogen, welche einen unangenehm süßlich-modrigen Geruch verströmten. Trotzdem erfreute sich der Steinbrücker Teich großer Beliebtheit bei Jung und Alt, was sicherlich damit zusammenhing, dass er das einzige nicht-fließende Gewässer im Umkreis von etwa zehn Kilometern war.

Die Holzbänke und der schmale Kiesweg, der den Teich umrundete, waren voller Menschen. Vom angrenzenden Spielplatz schallte Kinderlachen herüber, und in den Wipfeln der Eichen zwitscherten Vögel. Ich stand an der Straße, die Hände auf meine Knie gestützt, beobachtete interessiert das Muster, das meine Schweißperlen auf den Asphalt tropften, und überlegte, ob ich mich gleich hier übergeben sollte. Da dies jedoch einen weiteren Flüssigkeitsverlust bedeuten würde, entschied ich mich vorerst dagegen. Mühsam richtete ich mich auf, schnaufte einige Male tief durch und verkündete: „Wir sind da …“

„Sehr gut“, sagte Strom-Tom. „Siehst du? Geht doch! Alles eine Frage der Einstellung.“

„Und jetzt?“

„Steht da irgendwo die Eis-Friedel?“

„Wer?“ Der Atem rasselte laut in meinen Lungen, so dass ich höchsten jedes zweite Wort verstand, das aus meinem Bauch kam.

„Die Eisfriedel. Ich denke, du warst schon mal hier! Die Eisfriedel und ihr Bus stehen seit zwanzig Jahren am Steinbrücker Teich!“

Der weiße Transporter mit dem großen Seitenfenster und der subtilen Aufschrift Eis, Eis, lecker, lecker! parkte in zweiter Reihe.

„Ich sehe ihn“, keuchte ich kraftlos.

„Gut. Dann kauf dir ein Eis! Mir ist warm.“

„Ich hab … gar kein Geld dabei“, hechelte ich.

„Du brauchst auch kein Geld, du hast mich. Ich regele das.“

„Eine Flasche Wasser wäre mir lieber …“

„Meinst du, ich mach das hier zum Vergnügen?“, fragte Strom-Tom.

Er klang ziemlich gereizt, also ging ich zum Eiswagen hinüber und stellte mich ans Ende der Schlange hinter einen dicken Jungen mit einem Spiderman-Shirt.

„Also, pass auf“, flüsterte Strom-Tom. „Wenn die Frau dich fragt, welche Sorte du möchtest, dann machst du einfach nur den Mund auf. Ich rede dann für dich.“

Ich stutzte. „Aber das …“ Ich stutzte noch mal. „Aber das funktioniert doch niemals! Das merkt die doch!“

„Du hast die Wahl“, entgegnete Strom-Tom ruhig. „Entweder Erdbeere und Zitrone in der Waffel – oder Stromschläge.“

„Okay …“

Der dicke Junge drehte sich zu mir um. Sein Gesicht war voller Sommersprossen.

„Wie lange dauert das denn?“, fragte Strom-Tom. „Diese verdammten Gören brauchen auch immer Stunden, um sich was auszusuchen!“

Die Augen des Jungen weiteten sich, sein Mund klappte bis zum Anschlag auf. „Wie machen Sie das?“

„Dodo?“, fragte Strom-Tom aus meinem Bauch. „Hey, Dodo! Bist du eingeschlafen?“

„Kann jetzt nicht“, zischte ich, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen.

„Wie machen Sie das?“, fragte der Junge wieder und glotzte mich seinerseits an. „Ihre Lippen haben sich überhaupt nicht bewegt!“

„Das ist ein Geheimnis“, sagte ich, doch damit gab sich der Junge nicht zufrieden. „Alle Erwachsenen können das“, fügte ich hinzu.

Die Schlange rückte weiter. Der Junge ging rückwärts, um mich weiter anstarren zu können. Wahrscheinlich hoffte er auf eine erneute Unterhaltung zwischen mir und meinem Bauch. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, legte den Kopf in den Nacken, als würde ich nach Unwetterwolken Ausschau halten und schwitzte munter vor mich hin, bis ich vor dem breiten Fenster des Eiswagens stand.

„Hallo!“

Die Eisfriedel war eine dürre Frau unbestimmten Alters, die so aussah, wie ich mich fühlte: ausgetrocknet. Ihre Haut erinnerte an helles Leder, ihre Lippen waren zwei blasse, dünne Schlangen. „Was darf‘s denn sein?“

Wie abgesprochen öffnete ich den Mund und überließ Strom-Tom das Reden: „Grüß Gott, Eisfriedel!“, schallte es meine Speiseröhre herauf. „Ich hätte gerne ein schönes, leckeres Eis.“

„Kennen wir uns?“, fragte die Eisfriedel. „Deine Stimme kommt mir so bekannt vor.“

„Das höre ich oft“, antwortete Strom-Tom aus meinem Mund. „Ich hätte gerne Erdbeere und Zitrone in der Waffel.“

Die Eisfriedel lehnte sich über den Verkaufstresen und kniff prüfend ihre Augen zusammen, was dazu führte, dass sich das Leder über ihren Wangenknochen gefährlich spannte.

„Gerne doch“, sagte sie schließlich, nahm eine Waffel aus dem Turm zu ihrer Linken und wandte sich der Auslage an Eissorten zu. „Mit Sahne?“

„Nein, danke, keine Sahne“, antwortete Strom-Tom. „Aber dafür deine geschätzte Aufmerksamkeit. Kannst du mich gut verstehen?“

Die Eisfriedel sah verwundert auf. „Ja, wieso?“

„Gut“, sagte Strom-Tom. Dann ratterte er los: „Drei-Null-Sechs-Sechs-Sechs-Fünf-Sieben-A-Strich-Eisfriedel-Zweitausend-elf-Enter-Frank.“

Auch wenn es anatomisch beinahe unmöglich erschien, erschlaffte das Gesicht der Eisverkäuferin. „Danke“, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme, „einen Moment, bitte.“ Ihr Mund blieb offen.

„Oh, Mann!“, schallte es aus dem Inneren der Eisfriedel. „Servus, Strom-Tom! Lange keinen Kontakt!“

„Servus Strom-Frank!“, grüßte Strom-Tom zurück. „Wie fließt es?

„Die Alte macht mich fertig“, sagte Strom-Frank. „Den ganzen Tag nur Eis verkaufen! Eis, Eis, Eis … bald brauch ich hier drin ‚nen Pulli! Sag bloß, du hast schon wieder einen Neuen?“

„Ja, der heißt Dodo.“

Ich schloss meinen Mund. „Was ist hier denn bitte los?“

„Halt mal die Klappe offen, Dodo!“, blaffte Strom-Tom. „Sonst gibt‘s gleich ‚nen Schlag!“

Aus dem Bauch der Eisfriedel drang ein Lachen. „Der alte Strom-Tom! Immer ein Witzchen auf Lager! Also, was kann ich für dich tun?“

„Ich brauche den S7.“

„Du willst zur Grenze?“ Strom-Franks Entsetzen über unser Vorhaben war deutlich herauszuhören.

„Nee, schlimmer. … Ich muss sogar über die Grenze. Ist ‚n Spezialauftrag.“

„Ach, du arme Sau! Na dann … Ich denk an dich. Volt auf!“, verabschiedete sich Strom-Frank.

„Danke, Mann. Volt auf!“, verabschiedete sich Strom-Tom.

Der Mund der Eisfriedel schloss sich. Einen Moment lang sah sie sich verwirrt um, als wäre sie gerade aufgewacht. Dann erblickte sie die Eiswaffel in ihrer Hand und augenblicklich setzte die jahrzehntelange Routine ein. „Sahne dazu?“

Nachdem die Eisfriedel mir die zwei Kugeln in der Waffel über den Tresen gereicht hatte, verabschiedeten wir uns und gingen über den Kiesweg zum Teich hinunter. In der Nähe des Ufers schwamm eine Enten-Familie inmitten des stinkenden Algenteppichs im Kreis. Ich dachte nach. „Über welche Grenze müssen wir denn?“

„Genieß erst mal dein Eis“, sagte Strom-Tom. „Ich hab Hunger!“

Ich stieß den Plastiklöffel in die Erdbeerkugel und schaufelte ein großes Stück in meinen ausgedörrten Mund. Es war wunderbar kühl. „Schmeckt gut …“

„Schmeckt gut“, bestätigte Strom-Tom.

Ich löffelte weiter. Das Zitronen-Eis war sogar noch erfrischender.

„Und?“, fragte Strom-Tom. „Ist er da?“

„Wer?“

„Na, der S7.“

„Wer?“, fragte ich noch einmal und stutzte. „Was … was ist das denn?“ Mein Löffel war auf etwas Hartes gestoßen. „Da ist eine Münze in meinem Eis!“

„Das ist der S7.“

Vorsichtig zog ich die silbern glänzende Münze aus dem Zitronen-Eis. Sie hatte verblüffende Ähnlichkeit mit einer Wasch-Marke. „Was ist das?“

„Der S7“, wiederholte Strom-Tom. „Ein Schlüssel.“

„Aber das ist doch eine Münze“, gab ich zu bedenken.

„Die wird Schlüssel genannt, weil sie Türen öffnet“, erklärte Strom-Tom genervt. „Verstehst du? Und jetzt schluck sie runter!“

Ich drehte die Münze zwischen den Fingern. Sie hatte in etwa den Durchmesser eines Ein-Euro-Stücks. „Die ist zu groß! Die kriege ich doch niemals runter.“

Ein Stromschlag jagte durch meinen Körper. Meine linke Hand schloss sich krampfend um die Münze, in der anderen zerbrach die Eiswaffel.

„Hey! Mach das nie wieder!“, rief ich erbost. Einige Spaziergänger drehten sich zu mir um. Erdbeer-Zitronen-Eis schwappte zwischen meinen Fingern hervor.

„Du kennst die Regeln“, sagte Strom-Tom.

„Weißt du überhaupt, wie schmutzig Geldmünzen sind?“ Omi hatte mich ausreichend über die hygienischen Umstände von Zahlungsmitteln aufgeklärt. „Wer weiß, wer die schon alles in der Hand hatte!“

„Das ist ein Schlüssel! Keine Münze!“, versuchte Strom-Tom, mein Argument zu entkräften.

„Trotzdem. … Außerdem bist du schon in meinem Magen! Das kann doch alles nicht gesund sein.“

„Schluck … den … Schlüssel … runter! Jetzt!“ Strom-Tom betonte jedes Wort einzeln.

Ich gab es auf, steckte die Münze in meinen Mund, positionierte sie mittig auf meiner Zunge und schluckte. Es klappte nicht. Mein Mund war einfach zu trocken.

„Nun mach schon!“, trieb Strom-Tom mich an.

„Mein Mund ist zu trocken.“

„Denk an was Leckeres! Dann kommt die Spucke von ganz allein.“

Ich dachte an Omis Kamillenkuchen und schlucke erneut. Eine Billardkugel quetschte sich durch meinen Hals. Der Druck verschwand, und Strom-Tom schrie auf.

„Was ist?“, fragte ich. Mein Rachen brannte, als hätte ich einen Liter Tabasco getrunken.

„Der Schlüssel ist mir auf den Kopf gefallen“, jammerte Strom-Tom.

„Dann sind wir jetzt wohl quitt.“ Ich lachte, doch mein Hals tat weh, also ließ ich es gleich wieder. „Sag mal, ist es da eigentlich gefährlich, wo wir hingehen?“

Strom-Tom antwortete nicht sofort. „Angenehm wird es garantiert nicht …“

„Hast du etwa Angst?“

„Ich? Quatsch!“ Dann fügte er hinzu: „Na ja … vielleicht ein bisschen. Ich war noch nie hinter der Grenze.“

„Ja, und?“

„Wenn du wüsstest …“

Auf einmal fühlte ich mich irgendwie unwohl – und das lag nicht nur an den Halsschmerzen. „Was ist denn hinter der Grenze?“

„Pssst! Nicht so laut! Also, pass auf …“ Strom-Tom senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Das Gefährliche hinter der Grenze ist -“

Wie aus dem Nichts ertönten ohrenbetäubende Fanfaren. Reflexartig schlug ich meine Hände auf die Ohren und drehte mich im Kreis, ohne jedoch ein Blasorchester ausfindig machen zu können.

„Was ist das?“, schrie ich, während weitere Trompeten-Salven auf uns niedergingen.

„Der Chef!“, schrie Tom zurück.

Von den Bänken aus beobachtete uns kopfschüttelnd eine Gruppe alter Damen. Eine Entenfamilie flüchtete sich auf die andere Seite des Teichs. Sonst war niemand zu sehen. „Wo denn?“

„Am Telefon! Geh an dein Handy!“

„Ich hab gar kein Handy!“

„Doch“, beharrte Strom-Tom, „jetzt schon. Schau in deiner Tasche nach!“

Ich griff in meine Hosentasche und holte ein Handy heraus. Das Getöse wurde sogar noch lauter, was wahrscheinlich auch daran lag, dass jetzt eines meiner Ohren ungeschützt war.

„Tatsächlich!“, brüllte ich gegen die Bläser an. „Wo kommt das denn her?“

„Geh schon ran! Sonst wird der Chef sauer!“

Ich drückte den grünen Knopf. Die Fanfaren verstummten augenblicklich. Es war wunderbar still. Nur von den Sitzbänken der alten Damen war leises Gezeter zu hören.

„Ja, hallo?“, hauchte ich zaghaft ins Telefon.

Der große, schwere Mann am anderen Ende klang sehr erbost. „Strom-Tom, du kennst die Regeln! Was habe ich dir gesagt?“

„Ich weiß, Chef“, antwortete Strom-Tom kleinlaut, „ich darf nichts sagen.“

„Ganz genau! Und warum darfst du nichts sagen?“

„Weil … ähm … weil Dodo sonst Angst bekommt und dann nicht mehr hinter die Grenze will?“

„Nein. Weil es sonst für unsere Leser langweilig wäre. Dann könnten sie ja jetzt genauso gut das eBook beiseite legen und wichtigere Sachen erledigen. Wie Rasenmähen, Abspülen oder Hausaufgaben machen.“

„Okaykay, Chef.“

„Hast du den S7?“

„Ja, hab ich, alles bestens.“

„Gut“, sagte der Mann in dem Ohrensessel. „Dann kann‘s ja losgehen.“

„Moment mal“, schaltete ich mich ein. „So geht das aber nicht! Warum fragt mich eigentlich keiner, was ich will? Ich habe doch auch ein Mitspracherecht!“ Mein Ausbruch überraschte mich, und ich verlor sogleich den Faden. „Ihr könnt doch nicht einfach … einfach so … oder?“

„Dodo“, sagte der Mann am Telefon. Seine Stimme wurde plötzlich ganz weich und floss wie Honig durch die Leitung. „Du bist der Held dieser Geschichte. Du holst mir den rot-gelb gestreiften Löffel wieder.“

„Und wenn ich gar kein Held sein will?“

„Du bist der Auserwählte, Dodo. Nur du kannst mir den Löffel zurückbringen.“

„Aber wieso gerade ich?“

„Bitte, Dodo. Ich brauche dich! Du bist ein feiner Kerl. Du bist ehrlich, fleißig, strebsam – du hast ein gutes Herz. So was findet man heutzutage kaum noch. Deshalb habe ich dich ja ausgesucht. Nur du kannst es schaffen, den Löffel aus der Welt auf der anderen Seite der Grenze zurückzubringen.“

„Ich verstehe“, sagte ich und dachte nach. „Aber wird das nicht gefährlich – in dieser anderen Welt?“

„Wenn du so ein guter Mensch bleibst, wie du jetzt bist, dann wird dir nichts passieren.“

Ich grübelte weiter, es gab noch so vieles, was ich nicht verstand, doch da sagte der große, schwere Mann in dem Ohrensessel schon: „Ich muss jetzt los. Pass auf dich auf, Dodo! Ich melde mich wieder.“

Und ich sagte: „Hallo? Hallo Herr …? Wie heißen Sie überhaupt?“, obwohl ich das Klacken laut und deutlich gehört hatte.

„Lass uns gehen“, sagte Strom-Tom leise. „Dann haben wir es hinter uns.“ Er wirkte auf einmal sehr niedergeschlagen.

Ich atmete tief durch. „Okay.“

Und dann gingen wir los.

Die Grenze

Zum zweiten Mal an diesem Tag schlurfte ich am staubigen Rand der Landstraße vorbei an den immergleichen Spargelfeldern. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, und ich hatte es längst aufgegeben, meine Stirn trockenzuwischen.

„Wie weit ist es denn noch?“

„Sind bald da“, sagte Strom-Tom.

Auch nach mehrmaligem Nachfragen änderte sich der Inhalt seiner Antwort nicht, lediglich die Antwort selbst wurde zunehmend kürzer. Nach „Bald da“ folgte „Bald“, und als Strom-Tom schließlich überhaupt nicht mehr antwortete, war ich längst davon überzeugt, im Kreis zu laufen. Wenn der Bogen groß genug ist, bemerkt man die Krümmung nicht – aber das wisst ihr bestimmt selbst. Nur für die fortwährend an derselben Stelle klebende Sonne hatte ich noch keine Erklärung gefunden. Schließlich meldete sich Strom-Tom doch wieder zu Wort und dirigierte mich auf einen schmalen Feldweg, den ich auf den vorherigen Runden übersehen haben musste. Der Weg endete am Rand eines dichten Waldes. Ich rettete mich in den Schatten der hohen Bäume, versuchte mit dem T-Shirt-Ärmel den Schweiß aus meinen Augen zu reiben und sah mich um. Die Gegend und der Wald waren mir völlig unbekannt.

„Wo sind wir?“

„Bald da“, wechselte Strom-Tom zurück zur mittellangen Antwort. „Siehst du den Herz-Baum?“

„Den was?“

„Wenn du ihn siehst, weißt du, was ich meine.“

Ich seufzte, drückte einige Äste auseinander und betrat den Wald. Bereits nach wenigen Schritten waren Himmel und Sonne hinter den mächtigen Baumkronen verschwunden.

„Ich glaube … ich glaube, da vorne ist er“, sagte ich.

Der Stamm war kurz über der Erde gespalten worden, vermutlich von einem Blitz. Weiter oben wuchsen die beiden Hälften wieder zusammen und bildeten so ein formvollendetes Herz.

„Gut“, sagte Strom-Tom. „Dann musst du einfach nur weiter geradeaus.“

„Wie konnte der so wachsen?“ Ich betrachtete noch immer den Herzbaum.

„Wenn wir erst mal hinter der Grenze sind, interessiert dich das nicht mehr.“

Ich stutzte. „Ich denke, du warst noch nie hinter der Grenze.“