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Mauro Covacich

Triest verkehrt

Fünfzehn Spaziergänge in der Stadt des Windes

Aus dem Italienischen von Esther Hansen

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Die italienische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Trieste sottosopra bei Editori Laterza in Rom.

Deutsche Erstausgabe

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © glowimages.

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978 3 8031 4116 3

Inhalt

Die gepiercte Sissi. Erscheinungen im Castello Miramare

Bora in San Luigi

Noch einmal San Luigi, vom Freizeitzentrum in die Osteria

Der Kaffee und die Cafés

Die Risiera von San Sabba. Besichtigung eines Verbrennungsofens

Basovizza. Ein Wäldchen im Karst

San Giovanni. Es war einmal eine Irrenanstalt

Durch die Straßen des Zentrums, Svevo in der Hand

Piazza Oberdan, zwei Verliebte

San Giacomo. Die »bobe«, die »babe«, die »taliàni«

Von Barcola nach Ausonia, in Badesachen

Villa Revoltella

Little Istrien

Unterwegs in den »Osmizze«

Der Friedhof von Sant’ Anna. Die Wahrheit der Namen

Die gepiercte Sissi. Erscheinungen im Castello Miramare

Die Jugendlichen in der Schlange können es kaum glauben. Sämtliche Räume sollen sie besichtigen und dabei noch ihrer Reiseführerin lauschen, die kaum älter ist als sie und vollprofessionell mit Namensschild und allem vor ihnen in die Höhe ragt. Sie kommen aus Ungarn, und sie sind müde. Die Busfahrt von Pécs hierher hat mindestens fünf Stunden gedauert, Pinkelpausen exklusive. Sie würden viel lieber draußen bleiben, auf der Wiese Frisbee spielen, sich unter die Pinien legen und Handy-Fotos voneinander machen, doch nun steht der Museumsbesuch auf dem Programm. Für den Nachmittag ist als Entschädigung eine mehrstündige Shoppingtour durch die Torri d’ Europa geplant, das neue Einkaufszentrum in Form eines Aztekenmausoleums, in das die Konsumenten aller Herren Länder busseweise strömen. Doch jetzt ist die Kultur an der Reihe. Dort dräut sie schon hinter den »auf alt gemachten« Glasscheiben. Inzwischen befindet sich eine andere Reisegruppe, Genueser Rentnerinnen mit Dauerwelle und Regenjackenbeutel um den Bauch – man kann nie wissen –, schon in Phase eins, und eine andere Führerin ist bereits in voller Fahrt: »Das Schloss Miramare und seine Parkanlagen entstanden auf dem Felsvorsprung des Karsts in der Bucht von Grignano nach Willen des Erzherzogs Ferdinand Maximilian von Habsburg (1832–1867), dem jüngeren Bruder des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. Bitte, treten Sie näher, ja bitte, hier herüber. Nach den Entwürfen Carl Junkers von 1856 wurde der äußere Bau 1860 fertiggestellt. Die Innenausstattung besorgten Franz und Julius Hofmann, die sie erst nach Maximilians Abreise nach Mexiko 1864 abschließen konnten. Nachdem Maximilian zum Kaiser von Mexiko ernannt worden war, wurde er 1867 in Queretaro erschossen. Als einer der wenigen Adelswohnsitze, die unverändert erhalten geblieben sind, repräsentiert das Schloss mit seiner eklektischen Einrichtung und Ornamentik den Wohngeschmack der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, an einem Ort, wo mediterrane Lebensart sich mit der Atmosphäre typisch nordischer Ausprägung vermählt.« Über das unglückliche Schicksal der Schlossbewohner geht die Führerin geflissentlich hinweg: er, der den mexikanischen Kugeln entgegengeht, ohne die heimischen Vergoldungen und Diwans überhaupt genossen zu haben; sie, die als Witwe zurückbleibt und vor Langeweile und Schmerz verrückt wird (vor allem vor Langeweile). Unerwähnt lässt die Führerin Charlottes Wahn, genauso wie das landläufige Gerücht, dass Charlottes angebliche Umnachtung nur eine ausgefuchste Methode des Hofes war, ihre Sympathien für den Kommunismus auf möglichst diplomatische Art unter Verschluss zu halten.

Die Jugendlichen aus Pécs sind nun bereit hineinzugehen, in einer wabernden Wolke schafsgleicher Ergebenheit schieben sie sich in das Halbdunkel der Kasse. Manche werfen einen letzten Blick auf die Türmchen und Zinnen, auf die beruhigend vertraute Fassade. Denn tatsächlich sieht das Castello exakt so aus, wie man sich ein Schloss vorstellt, oder besser gesagt, wie es ein Kind mit vielleicht zehn Jahren malen würde. Schneeweiß, völlig intakt, hübsch mittelalterlich, mit Umrissen und Flächen wie aus dem Scherenschnitt. Mehr wollen sie gar nicht, die Ungarn, als es weiter von außen anzuschauen – davor zweiundzwanzig Hektar wunderschöner, sanft ansteigender Park, von dem aus man einen tollen Blick auf das Meer und den Felsen hat, und dann allen möglichen Leuten SMS schicken oder mit Kopfhörern faulenzen oder die Klassenkameradinnen bezirzen und im Notfall, okay, auch weiter die Schlossfassade von außen bewundern – aber nein, jetzt geht’s hinein, ohne Kultur kein Shoppen im Einkaufszentrum.

Hinter ihnen, zwischen dem mit Blumen bepflanzten Brunnenrand und den Vorboten der nächsten, noch nicht komplett versammelten Reisegruppe, rennen zwei junge Frauen in Laufklamotten vorbei. Mehr als ein Kopf dreht sich nach ihnen um. Dunkelhaarig, für Anfang April schon ordentlich gebräunt, die festen Pobacken in kurzen Jogginghosen, Piercing im Nabel, stabil gehalten im Netz der Bauchmuskulatur. Zwei Triestinerinnen – nicht mehr ganz jung bei näherem Hinsehen – in der Mittagspause.

Wer von denen, die sich nach den Frauen umgeblickt haben, tat dies aus instinktiver Anziehung, wer aus dem Schock heraus, das aristokratische Salonbild des Sissi-und-Operetten-Triests, mit dem sie angereist sind, gestört zu sehen? Ich frage mich das, weil ich viele Menschen kenne, die mir nach ein paar Tagen Triest gebeichtet haben, wie enttäuscht sie seien. Auf den ersten Blick scheint alles den Erwartungen zu entsprechen, und man hat das Gefühl, jeden Augenblick müsse Romy Schneider in einer Kutsche vorbeifahren, dann fängt man an zu begreifen – wie es auch diesen Ausflüglern gerade ergeht, die von der poppigen Brise der zwei Läuferinnen mitgerissen werden –, dass das Klischee nicht der Komplexität der wirklichen Stadt gerecht wird. Darin besteht kein Widerspruch. Oder besser gesagt, die wahre Identität Triests liegt genau in der Widersprüchlichkeit seiner Natur. Sissi zum Beispiel, die schöne Sissi, die oft nach Miramare kam, um ihre verrückte Schwägerin zu besuchen, trieb zwei Stunden am Tag Sport. Sie liebte lange Spaziergänge, auch außerhalb des Parks und stets ohne Eskorte (so auch an jenem frischen Septembermorgen 1898, als sie von dem Anarchisten Luigi Lucheni auf der Uferpromenade des Genfer Sees mit einer Feile erstochen wird). Auf Schloss Schönbrunn trainierte Prinzessin Sissi an den Ringen. Sie hatte sie in einem mit Spiegeln verkleideten Zimmer anbringen lassen und dabei höchstwahrscheinlich äußerst kostbare Stuckdecken durchlöchert. Sie war eine Diät-Fanatikerin, wahrscheinlich die erste Vertreterin des Anorexie-Styles, dieser ausgezehrten Empfindsamkeit, die man in Veganer-Restaurants von Soho antrifft. Außerdem erlaubte sie sich die Laune einer Tätowierung. Kurz, die wahre Sissi war genau wie die Stadt Triest nicht die, die man sich immer vorstellt, sie war nicht Romy Schneider und auch nicht die alte Signora, die bis vor einigen Jahren als Grande Dame, herausgeputzt im Stil des 19. Jahrhunderts, durch das Zentrum Triests geisterte. Nein, Sissi ist wie Triest eine junggebliebene Vierzigjährige unserer Tage, tätowiert, trainiert, gesundheitsbewusst, die ich mir ohne Weiteres auch depiliert, gebräunt und, warum nicht, mit einem Piercing im Bauchnabel vorstellen kann wie die zwei Läuferinnen von eben.

Ich dringe in den höheren Teil des Parks vor, der bis zu der kleinen Bahnstation von Grignano aufsteigt, dabei den in den Felsen gegrabenen Tunnel überquert, durch den die Küstenstraße führt, um schließlich in ein breites Wäldchen mit hohen Bäumen zu münden, das langsam immer sanfter, immer lichter wird. Hier ändert sich das Publikum. Es besteht hauptsächlich aus Ausländern, die aber keine Touristen sind. Es sind Wissenschaftler der Sissa, der Internationalen Hochschule für weiterführende Studien. Mathematiker, Physiker, Astronomen, Genetiker, Neurobiologen, vor allem aus dem fernen Osten, spazieren mit ihrem Lunchpaket, das sie wie ein Neugeborenes an sich drücken, durch den Wald, um dem Gehirn ein wenig Frischluft zu gönnen, bevor es wieder in den hübschen Gebäuden mit den glitzernden Fensterscheiben ausgepresst wird, dort oben zwischen den steilen Haarnadelkurven der Via Beirut. Die Institute der Sissa sind quasi die Wiege von Nobelpreisträgern und Forschern, die es werden wollen. Man hätte Lust, die Radioaktivität der Gegend zu messen, angesichts der geballten Hochintelligenz, die dort am Werk ist. Ich meine fast, die Hyperproduktion der Gehirne zu fühlen, das elektromagnetische Feld aus Formeln und Gedanken, das ich betrete. Mit einem Kopfnicken grüße ich einen Inder, der auf einer Bank sitzt, und er antwortet mit einem Lächeln. Auf dem Schoß hält er eine Schüssel, aus der er mit den Fingern eine Art Müslimischung fischt. Wer weiß, vielleicht bietet die Mensa der Sissa eine spezialisierte Küche mit verschiedenen »ethnischen« Gerichten an, oder dieser indische Wissenschaftler hat sich heute Morgen zu Hause das Essen selbst zubereitet. Am liebsten würde ich ihn fragen. Im Übrigen ist einer der Nobelpreisträger, zudem ein Mathematiker, ein Inder, wenn ich mich nicht irre. Doch dann kommen mir zwei andere entgegen, dem Äußeren nach Chinesen, und ich versäume den richtigen Moment, die Prise Unverschämtheit, die es braucht, um diesen Inder zu stören, während er seinem Gehirn und dem ihm Herberge gewährenden Körper die nötige Nahrung zuführt.

Sie haben eine überaus prestigeträchtige Präsenz in Triest, die Wissenschaftler der Sissa, und doch scheinen sie außer bei formellen Anlässen keine Rolle für das Bild zu spielen, das die Stadt von sich zeichnet. Sie leben in ihrem nach Harz duftenden Exil, zwischen den Fakultäten und dem Pinienhain von Miramare. In der Stadt sieht man sie kaum, und sie finden keinerlei Eingang – völlig unfreiwillig, glaube ich – in das mitteleuropäische Gemälde, das die Touristen gern in jeder urbanen oder menschlichen Teilansicht des innerstädtischen Lebens entdecken.

Triest ist die perfekte Metonymie für Mitteleuropa – habsburgisches Erbe, Sammelbecken der Rassen, Vielsprachigkeit und vor allem eine äußerst starke und stark europäisch konnotierte Literaturgeschichte – wer Triest sagt, hat all das im Sinn. Wenn man jedoch heute hier wohnt, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, hat man eher den Eindruck, die mitteleuropäische Kultur und damit die »Triestinità« habe in ihrem literarischen Selbstverständnis nicht nur ihr Alleinstellungsmerkmal, sondern auch ihr eigenes Gefängnis gefunden. Mit anderen Worten glaube ich, dass Mitteleuropa nicht nur aus mitteleuropäischen Büchern besteht, die ein mitteleuropäisches Bild zeichnen, sondern vor allem aus mitteleuropäischen Menschen, die jeden Tag aufstehen, frühstücken, zur Arbeit oder zur Uni gehen und so weiter, und ich glaube nicht, dass das Literarische allein diesem Phänomen gerecht wird. Wenn sich, wie ich hoffe, die Literatur aus dem Leben speist und nicht umgekehrt, dann sollte man viel eher wahrnehmen, um wie viel reicher, vielschichtiger und vielleicht auch spannender das Leben in Triest im Gegensatz zu den Stereotypen ist, die ihm schmeicheln, es aber in einen Käfig sperren. Dieser wunderschöne Park, der so liebevoll von den Gärtnern Maximilians von Österreich angelegt wurde, wird heute von indischen Mathematikern und Marathonläuferinnen in Gogo-Girl-Outfit bevölkert. Meine Stadt ist jetzt eine Sissi im Lycra-Body. Es ist eine weniger klar definierte Stadt, vielleicht nicht mehr aristokratisch, aber ganz sicher immer noch lebendig. Sie ist eine Sissi mit Piercing, mit kobaltblauen Haaren und einem Salamander-Tattoo auf dem Hals. Sie hat noch die feingliedrigen Hände einer Prinzessin, kaut aber an den Fingernägeln.

Bei genauerer Betrachtung handelt es sich nicht einmal um eine Veränderung aus jüngerer Zeit, den üblichen Synkretismus, den man der Epoche zuschreibt. Neben dem österreich-ungarischen Triest hat es immer auch das andere Triest gegeben. Neben der Stadt der literarischen Cafés, der gemessenen Freundschaft zwischen Svevo und Joyce, gab es eine andere Stadt, weich, ungezwungen, schelmenhaft, mit brasilianischer Carioca-Note. Es gibt zum Beispiel die Uferpromenade von Barcola, wo die Leute sechs Monate im Jahr in der Sonne liegen und noch im Oktober im Meer baden. Es gibt einen althergebrachten moralischen Hedonismus bei den Triestinern. Und auch einen modernen Vitalismus nach Art des kalifornischen Easy-Goings. Eine Liebe zum Leben, welche die Einwohner von Venedig oder Udine mit Genusssucht verwechseln, nur weil sie nicht mit dem Produktions- und Profitstandard des Nordens konform geht. Nicht umsonst bezeichnen viele von ihnen Triest als Neapel des Nordens.

Tatsächlich – Rio, Kalifornien, Neapel –, dieses Triest und diese Triestinità haben so gut wie nie den Weg zwischen zwei Buchdeckel gefunden, sind nie Literatur geworden. Dabei hatte die Reiseführerin der Genueser Seniorinnen wirklich Recht, als sie sagte: »An diesem Ort vermählt sich die mediterrane Lebensart mit der Atmosphäre typisch nordischer Ausprägung.« Während ihr also die Spitzen und Kronleuchter in Charlottes Zimmern bewundert, wie die armen Jugendlichen aus Pécs, vergesst eines nicht: Sucht ein Fenster, schaut hinaus, auf die Sonne, das Meer, und bedenkt, dass Triest eine mediterrane Stadt ist, die südlichste Stadt Nordeuropas.

Ich laufe den Pfad entlang, der sich über die westlich gelegenen Wiesen zwischen den natürlichen Balkonen oberhalb der Bucht von Grignano hinabschlängelt. Zwischen den Rucksäcken der Schulschwänzer blinkt das junge Gras, und die frühjährlichen Jauchzer verdichten sich, dass sie fast zu greifen sind. Die Jugendlichen spielen Karten und Fangen, und sie lachen, lachen wie die Verrückten – vor allem die Mädchen, die zu zweit flanieren, lästern, so tun, als müssten sie mit einer Hand Nachstellungen abwehren, während die andere fest das Handy umklammert – und atmen gierig so viel junge Luft ein, wie sie in diesen ersten Apriltagen bekommen können. In Miramare blau zu machen ist ein Muss für jede Generation, die Triestiner lieben diesen Park ihr Leben lang und gehen hier noch als Erwachsene spazieren, sie machen aus ihm einen der wenigen Orte, wo Touristen und Einheimische aufeinandertreffen, wenn auch nur zufällig.

Vor meinem Weg nach draußen bleibe ich einen Moment auf der kiesbedeckten Fingerkuppe oberhalb von Grignano stehen. An das Geländer mit den Münzfernrohren gelehnt, bewundere ich die fein säuberlichen Tischreihen auf den Terrassen der Bars, die in die Nacken gelegten Köpfe, diesen Rausch aus sonnenhungrigen Hälsen, und dann den kleinen Hafen, einen Mann, der sein Großsegel einholt, das schicke Restaurant, wo die Pinien bis unters Dach wachsen, weil niemand sie kappen will. Weiter hinten, mit bloßem Auge noch erkennbar, das Strandbad Bagno Riviera, mit seiner zwanzig Meter hohen Zementröhre, durch die der Gast bequem im Aufzug bis auf den Strand hinunter fahren kann und die den Zauber der grün-braunen Küstenlandschaft durchbricht. Man sieht Arbeiter, die die Hütten anstreichen. Auch ich habe dort zwei Jahre lang gearbeitet, in dem Strandbad. Der Frühling ist die schönste Jahreszeit für einen Bademeister, wenn die Dollen repariert werden, die Kettenzüge geölt, die Toiletten von Sand und Blättern befreit, die Algen von den Stufen abgekratzt, die Piniennadeln aus den Dachrinnen gekehrt werden, wenn du mit baumelnden Beinen auf der Mole sitzt und mit den anderen Frühstückspause machst, wenn es noch nicht richtig heiß wird, noch kein Betrieb herrscht und es noch nicht so richtig losgeht. Danach dann kommen die Schichten auf dem Boot, man schwitzt, schleppt, es kommen die Trinkgelder und die Mädchen, klar, die Mädchen auch, aber alles erst später – jetzt ist April, und die Strandhütten werden gestrichen.

Grignano ist in der Tat der letzte sandige Abschnitt der Adriaküste. Das Meer schwappt zwar nicht auf Sandstrand – die Zugänge sind alle zementiert –, doch im Wasser stehst du auf dem gleichen Sand wie in Rimini. Ab Miramare wird der Untergrund felsig, endgültig felsig bis an Istrien und Dalmatien vorbei, wie zum Zeichen, dass hier ein anderes Meer beginnt, hell, kristallklar – und vielleicht auch ein anderes Land. Grignano ist der letzte Meter Westen. Genau hier unterhalb des Geländers von Miramare, an dem ich lehne, beginnt Triest, mit seinen Felsen, Winden, Farben aus einer Welt, die nicht wirklich exotisch, aber den Venetern und Romagnolen doch wenig vertraut ist.

Ich kann nicht sagen, ob sich im Gedränge des Hauptparkplatzes auch die Ungarn tummeln. Die Damen aus Genua jedenfalls sind da, man erkennt sie leicht an ihren Regenjacken und der fast einhelligen mattblauen Dauerwelle. Manche tragen den Museumskatalog unter dem Arm. Ihre Stimmlagen haben sich eine Oktave in die Höhe geschraubt in froher Erwartung des bevorstehenden Highlights: das große Fischessen in einem der hundert Restaurants für Reisegruppen, mit denen die Küste von hier bis zum Grenzübergang bei Rabuiese übersät ist. Ich sehe Reisebusse aus Österreich, viele aus Italien, einen aus Tschechien. Den aus Pécs kann ich nicht entdecken. Gern würde ich das als ein gutes Zeichen für die ins Schloss verschleppten Jugendlichen werten. Ich will mir gar nicht ausmalen, wo sie ihre mitgebrachten Lunchpakete auspacken dürfen. Auf dem Bahnhofsvorplatz? In einer Raststätte auf der Umgehungsstraße? Ich weiß, wohin ich sie geführt hätte. Ich drängele mich durch die Menge und stelle mir vor, sie bei mir zu haben. Jetzt bin ich ihr Reiseführer. Nach zwei-, dreihundert Metern können wir wieder frei ausschreiten, ohne andere anzurempeln – begleitet von anderen Sissis, die laufen, Sissis auf Inlinern, Sissis auf Fahrrädern –, hier sitzen die Touristen meist schon wieder in den Bussen, sie sehen nicht die weißen Straßen, den mächtigen Leib der Stadt, der sich frontal vor ihnen ausbreitet, zu frontal, um vorbeizufahren. Bei der Carabinieri-Kaserne – wo die wahrscheinlich glücklichsten Carabinieri Italiens wohnen – gibt es einen kleinen, bezaubernden Strand, der noch in den Gewässerschutz des Parks fällt und daher Badegästen nicht zugänglich ist. Als ich in der letzten Grundschulklasse war, kam unsere Lehrerin mit uns eines Morgens Ende Mai hierher, um den Strand zu säubern. Handschuhe, Plastiksäcke und los ging’ s. Es war 1976, eine Zeit, in der Umweltschutz noch irgendwie bahnbrechend und unerhört war, zumindest in Italien. Meine Lehrerin war dreiundzwanzig und gebürtige Florentinerin. An diesem Morgen nahmen ich und vier andere Lausejungen heimlich ein Bad im Meer. Umberto fielen dabei die Wanderschuhe ins Wasser, und er schrie wie am Spieß, weil seine Füße nicht mehr hineinpassten. Nie werde ich den Schrecken der Lehrerin vergessen, als sie uns in Unterhosen dort stehen sah, fröstelnd, während Umberto verzweifelt mit den Schuhen rang. Sie versuchte ihm zu helfen und brach ebenfalls sofort in Tränen aus. Es war, als wollte sie ihre ganze Verantwortung in die Schuhe pressen, doch die waren zu eng geworden, und die Verantwortung war einfach zu groß, um hineinzupassen. Wenn Susanna Montecalvo jemals diese Zeilen lesen sollte, soll sie wissen, dass ich an diesem Vormittag begriff, was es heißt, einen Fehler zu machen, und dass sie für mich, so klein und blond, wie sie war, immer eine Riesin in Sachen Erziehung bleiben wird.