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Eugenie Kain
Flüsterlieder

Eugenie Kain

Flüsterlieder

Erzählung

OTTO MÜLLER VERLAG

„If I took you darling

to the caverns of my heart

would you light the lamp dear

and see fish without eyes

bats with their heads hanging down toward the ground

would you still come around?“

Laura Veirs „Spelunking“

Du mußt jetzt schlafen. Laß die Hand

Mir noch, dann ist mir nicht so bang.

Nun ist es völlig still; die Wand

Ist finster und die Nacht noch lang.

Theodor Kramer
„Laß mir ein wenig noch die Hand“

ISBN 3-7013-1112-9
eISBN 978-3-7013-6112-0

© 2006 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg

Umschlaggestaltung: Ulli Leikermoser, Salzburg

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Schluckloch

Die Schwester sah ihr im Nachtlicht des Ganges entgegen. Die Hände ließ sie in den Kitteltaschen und nickte ihr nur zu. Kurz. Es war ihr recht. Sie vermied es, der Schwester ins Gesicht zu sehen. Weitergehen, dachte sie. Ihre Schatten glitten auf dem schimmernden Bodenbelag voraus.

Zuletzt waren sie wieder am See gewesen. An die Lichter der Stadt gewöhnt, waren sie erst nach dem Mittagessen aufgebrochen. Sie hatten nicht an das Gebirge gedacht. Der See war zugefroren. Im Schnee war ein schmaler Weg gespurt. Sie mussten hintereinander gehen. Der Gletscher leuchtete. Der Felskamm und die Wände glosten. Dann brach das Licht und es wurde still. Sie kehrten nicht um. Sie blieben auf ihrem Weg um den See. Aus dem Fels wuchs das Eis. Rund und glatt überzog es den Stein, in armdicken Zapfen drängte es sich an Überhängen. Der See ist ein Speichersee. Im Winter wird sein Spiegel gesenkt. Sie warfen Eiszapfen auf die Eisdecke unter ihnen. Beim Aufprall begann das Eis zu klingen. Ein Summen flog über den See wie ein flacher Stein. Das Eis sang und sie standen da und horchten und konnten nicht genug bekommen von diesen Tönen. Am Himmel hatten sich Orion und der Fuhrmann niedergelassen, als sie durchfroren und steif den Ausgangspunkt erreichten. Jetzt hatten die Kinder einen Wunsch offen. Die Kinder jubelten, als sie über den vereisten Asphalt des leeren Parkplatzes schlitterten. Er gab wieder Gas und zog die Handbremse. Ihr war nicht wohl dabei, aber sie schwieg. Sie waren schon lange nicht mehr so ausgelassen gewesen. Sie hielt sich fest, und während sich das Auto vor der dunklen Seilbahnstation drehte und drehte und drehte, konzentrierte sie sich auf den Gesang des Eises am See. Der Klang war bei ihr geblieben. Manchmal überlagerten ihn die Geräusche der täglichen Verpflichtungen. Aber er war da. Als sie mit der Schwester durch das Nachtlicht ging, füllte er den Gang aus und sie trat vorsichtig auf, um nicht einzubrechen.

Vor dem Zimmer Nummer 4 blieb sie stehen. Aber die Schwester ging weiter und öffnete eine Tür auf der anderen Seite des Ganges. Zusammengeklappte Rollstühle standen in dem Raum, Besen, Kübel, fahrbare Ständer für Infusionsflaschen. Und in der Mitte stand das Bett. Seitlich waren jetzt Gitter angebracht. Um das Kinn hatte man ihm ein weißes Tuch gebunden. Die Augen waren geschlossen, die Hände über der Bettdecke gefaltet.

– Warum haben Sie mich nicht früher angerufen?

– Hat Tagdienst nicht gemacht.

Die Schwester sprach mit Akzent. Ein schwer verständliches Deutsch. Wortbrocken formierten sich, aber es blieb offen, ob sie zu einem Fragesatz zusammenkommen wollten oder zu einer Behauptung. Hat Tagdienst nicht gemacht, wiederholte die Schwester. Sie sahen sich an. Es war ein Glück, dass die Schwester nicht besser Deutsch konnte. Sonst hätte sie fragen müssen, ob sie ihn vorher in den Abstellraum geschoben hatten oder nachher, ob er seine Ruhe haben wollte oder sie. Und ob sie allen Menschen die Hände falten, auch denen, die ohne Bekenntnis sind. Und sie hätte sie fragen müssen, wie er gestorben war, während sie daheim Zwiebeln schnitt, Nudeln abseihte und ihr das Essen nicht schmeckte, weil das Kochen immer seine Sache war. Sie hätte sie fragen müssen, ob er nach ihnen verlangt hatte, während sie den Tisch abräumte und Geschirr abwusch und noch einmal das Kind bewundern musste. Es hatte sich als Schaf verkleidet. Dieser Tag war anders. Er war herausgenommen aus dem vorgegebenen Rhythmus der Besuchszeiten. Es war Fasching und das Kind von einem Kostümfest abzuholen. Außerdem gab es Arbeit, die liegen geblieben war. Sie ging ihr nicht von der Hand. Sie schrieb einen Brief und horchte auf das Brausen der Stadt. Draußen zog die Kälte an. Im Hof lachten Stimmen, dann fiel eine Tür. Sie würden wieder kommen, bei den Nachbarn schräg gegenüber wurde in der Wohnung nicht geraucht. Das Telefon läutete. Eine Frauenstimme nannte seinen Namen. Fragte nach der Ehefrau. Der Gefährtin. Eben ist er gestorben. Wenn sie ihn noch sehen will, muss sie kommen. Sofort. Sie hatte nichts gespürt. Warum haben Sie mich nicht früher verständigt? Sie sah die Schwester an. Von ihr war keine Antwort zu erwarten. Es war gut so. Eine Antwort hätte nichts geändert. Hier konnte sie nicht umkehren und es war nichts rückgängig zu machen.

Die Schwester schob ihr einen Rollstuhl ans Bett. Seine Gesichtszüge wirkten gelöst. Er war noch warm und weich. Aber es war nicht mehr sein Gesicht. Es war das lächerliche Antlitz des Todes, das geblieben war. Die Karikatur eines Schmerzensmannes. Der Tod als Zahnweh verkleidet, über dem linken Ohr die verknoteten Zipfel einer Baumwollwindel.

Sie saß da, hielt seine Hand und hatte nicht viel Gedanken. Im Herbst war der Gießkannenkopf in die Regentonne gefallen. Augen und Mund schaukelten in sanften Kreisen an den Tonnenrand, bis sich das Gesicht glättete und der Himmel darüber innehielt. Am Grund der Tonne schwebte Laub in braunen Wolken. Dann schwamm sein Gesicht neben ihrem. Sie griff ins Wasser. Die Gesichter lösten sich auf und waren eins.

Warum hatte er nicht gewartet? Warum gerade heute und ohne Abschied? Der angenehme Gedanke war, dass er den Zeitpunkt selbst gewählt hatte und allein sein wollte dabei. Die unangenehmen Gedanken überwogen. Sie bewegten sich in konzentrischen Kreisen an einen Rand hin und verebbten nicht. Alle wussten, dass es ernst war. Dass es mit dem Heimkommen diesmal dauern würde. Bei Morphium sind die Vorschriften streng. Man müsste viel mehr Leute kennen. Er blieb auf der Männerstation der Lunge II, ein zusätzlich hineingeschobenes Bett auf Zimmer 4 mit mürrischen Männern, die ihre Diagnose eben erst erhalten hatten oder noch darauf warteten. Am Anfang ist vieles offen. Am Offenen halten sie sich fest. Das ist schwierig, wenn es im fünften Bett im Zimmer ganz offen dem Ende zugeht. Es war ein Glück, dass die Schwester kaum Deutsch sprach. Es war ein Glück, dass sie mit den Ärzten nicht viel zu tun hatte. Das war seine Sache. Er bestand darauf. Sie misstraute der Sprache der Ärzte. Sie misstrauten ihr. Sind Sie eine Angehörige? Von Anfang an wurde Verdacht ausgesprochen. Der Verdacht erhärtete sich dann. Das verdichtete Gewebe war keine Tuberkulose, das Rezidiv bestätigte sich und die Filialisierung. Zwischen den Kontrollterminen drei Monate Atempause. Dann wieder ein Verdacht und eine Schreckensnachricht. Jetzt schauen auch aus dem zweiten Lungenflügel kleine Krebsaugen heraus, erklärte er dem Kind. Wir werden sehen, ob sie sich verscheuchen lassen.

Drei Jahre hatten sie mit der Krankheit gelebt. Nie hatten sie über den Tod gesprochen. Gestorben waren die anderen. Gestorben wurde viel. Das Krankenhaus hat ein großes Einzugsgebiet. Auch von den umliegenden Landgemeinden werden Patienten aufgenommen. Herr Kern ging ins Spital, weil er Magenschmerzen hatte, und landete auf Lunge II. Dort lag er und bekam nur an den Wochenenden Besuch. Ein Postbus-Chauffeur mit drei Kühen im Stall. Man wollte ihm nicht sagen, wie es um ihn stand. Die Befunde sind nicht eindeutig, sagten die Ärzte, neue Untersuchungen notwendig. Die Kinder wussten es und sagten nichts, die Frau wusste es und schwieg und weinte auf dem Gang. In Zimmer 4 waren die Männer sofort per du. Karl, Franz und Sepp, und auch ihn nannten sie beim Vornamen. Was glaubst du, was sie finden, fragte Herr Kern, dem die Grießsuppe nicht schmecken wollte und nicht das Zwiebelfleisch und auch nicht der Bröselkarfiol. Herr Kern hatte Fieber und spuckte Blut. Bei den chronisch Kranken war man mit der Besuchszeit nicht so streng. Angehörige durften früher kommen und länger bleiben. Herr Kern wartete auf seine Befunde. Es war ihm ein Rätsel, dass das so lange dauerte. Er konzentrierte sich auf andere Rätsel. Blass, schwer atmend und in schlotternder Trainingshose suchte er nach Worten. Sie hatten drei, fünf, manchmal acht und zwölf Buchstaben. Als ihn die Kameraden von der Freiwilligen Feuerwehr besuchen kamen, legte er das Kreuzworträtsel aus der Hand. Sie waren mit dem Einsatzfahrzeug vorgefahren und hatten Bier gebracht. Bier für alle und am Schwesternzimmer vorbei. Und Nachrichten von daheim, die Herrn Kern das Rot in die Wangen trieben. Seilwindenbergung auf der Bundesstraße, Öleinsatz auf der Donau, Kellerbrand, Gruppenübung. Eine gut gelaunte Mannschaft prostete den Kranken zu, die sich schmal machten auf ihren Betten, damit alle sitzen konnten. Sie reichten Herrn Kern die geöffnete Bierflasche ans Bett. Der Infusionsschlauch schränkte seinen Bewegungsradius ein. Du wirst sehen, sagten sie zu ihm, bald sitzt du wieder im TLF A – 4000. Das Tanklöschfahrzeug, hüstelte Herr Kern später in das Keuchen des Zimmers, hat 4000 Liter Wasser im Tank und verlässt als zweites Fahrzeug die Zentrale. Herr Kern musste auf seine Befunde nicht länger warten. Gegen Morgen hielt das Kommandofahrzeug an seinem Bett. Das KDO, das im Brandfall als erstes Fahrzeug ausfährt, war gekommen, um ihn abzuholen.

Die Araber wissen, dass der Tod ein schwarzes Kamel ist, das niederkniet vor der Haustür, wenn es so weit ist. In den Heimen sprechen die Alten verstohlen vom Qui Qui, der sie holen kommt. Wer hatte ihn mitgenommen? Ein rostiger Donauschlepper auf dem Weg zum Schwarzen Meer? Oder der Rabe, der seit einer Woche vor dem Fenster hockte?

Das Fenster war gekippt. Sie öffnete es ganz. Draußen brummte ein Schacht. Dicke, silberne Lüftungsrohre wuchsen aus der Tiefe in einen Himmel, der im rosa Schein kaum zu sehen war. Der Himmel von Linz. Das Stahlwerk färbt die Nächte ein. Im Winter liegt ein dichter Schleier auf der Stadt. Die Sonne dahinter ist eine bleiche Scheibe und der Mond die Scherbe eines blinden Spiegels. Das Licht ist gekörnt wie die Luft, die die Hälse aufraut und in den Lungen rasselt.

Es muss doch noch einen anderen Himmel geben für uns, dachte sie.

Der Schacht setzte sich in Bewegung. Der Boden gab nach, die Lüftungsrohre bebten. Sie spürte den Sog und fand keinen Halt. Hinauf auf das Fensterbrett. Nur so verfliegt die Höhenangst. Aber wer hielt sie jetzt noch fest? Sie war nicht schwindelfrei. Deshalb hatten sie wenig gemeinsame Himmel. Er war ihr immer ein Stück voraus. Oder der Himmel blieb beiden verwehrt. Wie der Himmel über dem Toten Gebirge. Sie planten die Überquerung des Hochplateaus. Eine Wanderung, um sich nah zu sein zwischen den Dolinen über der Baumgrenze. Aber es schneite schon im September bis ins Tal. Im Jahr nach dem Schnee kam die Hitze und dann der Befund. Das Gebirge war unnahbar geworden. Oder der Himmel über dem Moldaublick. Die Wanderung führte zum Nordkamm am Rande des Böhmerwaldes. Der Sturm war in den Wald gefahren wie eine Sense. Es gab keine Markierungen mehr. Im Windbruch war der Weg verschwunden. Sie kämpften sich zwischen geköpften Stämmen über Fichtenwipfel und geborstenes, pechiges Holz und gingen dabei im Kreis. Die Aussichtswarte erreichten sie erst spät. Ein grün gestrichener Turm, ähnlich den Wachtürmen des Eisernen Vorhanges. Hallernde Stufen führen zu einer Plattform. Auf der anderen Seite der Grenze liegt der Stausee der Moldau zwischen stillen Hügeln. Er ging voran. Sie kam nicht weit. Der Turm schwankte, die Erde drehte sich. Sie musste sich auf die Stufen setzen und klammerte sich an den Handlauf. Der Turm dröhnte vom Herzschlag, der von ihren Händen übersprang.

– Komm weiter.

– Ich kann nicht.

– Komm her. Ich halte dich.

– Es geht nicht.

– Ganz langsam. Versuch es.

– Ich kann nicht.

– Reiß dich zusammen. Es ist nichts dabei.

– Du hast keine Ahnung. Lass mich endlich in Ruhe.

Die Angst war neu und sie setzte sich fest. Dem Himmel kam sie nicht mehr nah. Sie gab nicht auf. Sie konzentrierte sich. Sie schaute nicht zurück und nicht hinunter. Sie packte die ihr entgegengestreckte Hand. Sie wusste um die Fehlleistung des Gehirns, das Höhen schlecht abschätzen kann. Sie wusste um die Fehlzündung des Schreckreflexes, der Panik auslöste, anstatt zur Vorsicht zu gemahnen. Es war ganz einfach. Wer nicht fliegen kann, hat Angst vor dem Abgrund. Es galt sich dieser Angst zu stellen. Aber da hatte jemand längst das Schwungrad angeworfen und die Zentrifugalkräfte drückten die Beine weg. Von Türmen kannte sie die Beschaffenheit der Stufen, den Verputz der Mauer, die Holzverstrebungen, aber nicht mehr den Blick auf das Land ringsum. Die Verwerfungen im Boden der Plattform prägte sie sich ein, Flussverläufe und Straßen entdeckte sie in der Struktur von Brüstungen. Oder sie schloss die Augen, bis die anderen genug gesehen hatten, und horchte auf das Brüllen des Blutes, denn hinunter gab es auch nur diesen Weg. Für sie auf allen vieren mit dem Rücken zum Licht oder im Sitzen. Ein würdeloser Anblick. Stufe um Stufe rutschte sie, über glatt polierte Stufen, über ausgetretene, über Stufen mit scharfen Kanten und über spröde, die Holzsplitter in Fingern und Sitzfleisch zurückließen. Mit verbundenen Augen wäre sie sich sicher gewesen. Holz, Marmor, Eisen, Kalkstein, Glas. Mit verbundenen Augen hätte sie anhand von Stufen, Handläufen und Brüstungen die Türme erkannt: Den Glockenturm von Split, den Turm der Ruine Ruttenstein, den Tour Montparnasse oder den Nordturm des Stephansdoms.

Schwere Stunden standen bevor. Dem Kind musste sie es sagen. Und es gab Kinder von anderen Frauen, Geschwister und die Mutter. Sie musste die Nachricht überbringen und an alles denken, was damit zusammenhing. An das Grab, das sie noch nicht hatten, an die Sterbeurkunde, die er brauchte, daran, dass bis zur Verabschiedung eine Einstellgebühr zu bezahlen war, an das Foto für die Todesanzeige, an den Nachruf, an den Leichenschmaus. An den Anzug, den sie ihm am Morgen bringen musste. Trägt ein Toter Krawatte? Und an die Zeit, die es danach geben würde, wie es auch eine Zeit vor der Krankheit gegeben hatte. Die Erinnerung daran war ausgebleicht. Sie hatten sich auf die Gegenwart konzentriert, ihr viel Licht und kräftige Farben gegeben, um sie nicht zu übersehen. Denn daneben lief das Leben weiter.