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Die unsichtbare Fotografin

ISBN 978-3-7013-1151-4

eISBN 978-3-7013-6151-9

© 2008 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG–WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto: Kurt Kaindl

Umschlaggestaltung: Ulrike Leikermoser

Satz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Elisabeth Reichart

Die unsichtbare
Fotografin

Roman

O T T O    M Ü L L E R    V E R L A G

Inhalt

Shanghai

Tokio

New York

Ohio

Chikago

Wien

Heathrow

Mexiko City

Mailand

Shanghai

Verändertes Shanghai – jedes Mal sah ich eine andere Stadt, soweit etwas von ihr zu sehen war und sie nicht im Smog verschwunden blieb. Ich fotografierte die Veränderungen für ein Architekturmagazin, hatte es aufgegeben, meinen Weiterflug nach Japan im Voraus zu buchen. Auf mehr als diesiges Licht hatte ich nur vor drei Jahren gehofft, als ich staunend nach dem Himmel suchte, der sich nicht zeigen wollte. Mir gefielen die Aufnahmen der Wolkenkratzer, die im Smog verschwanden, besser als die im diesigen Licht, aber das Magazin war anderer Meinung, die Architekten wollten ihre nachgeahmten Gebäude sehen, die ohne sie mitten in die Zukunft hinein wuchsen. Nirgendwo sonst pulsierte das Leben so hektisch himmelwärts stürmend wie in dieser Stadt, die keine Zeit hat, ihre Toten zu begraben. Eine ungewöhnliche Bemerkung von Li bei meinem letzten Besuch, begleitet von einem Lächeln, das ich nicht deuten konnte.

Li erwartete mich am Flughafen, würde wieder für mich übersetzen, wie bei all meinen Aufenthalten zuvor. Ich hatte mir Li nicht ausgesucht, er wurde mir von der Stadtregierung zugeteilt, eine großzügige Geste, die nur wenigen Besuchern gewährt wurde, betonte Li in unserem ersten Gespräch. Eine Fotografin braucht keinen Dolmetscher, hatte ich geantwortet und Li in Verdacht, nicht nur mein Dolmetscher zu sein. Das Lächeln begleitete inzwischen alle seine Sätze, hatte sich im Gesicht festgesetzt, wo zuvor die Überzeugungen die Haut spannten. Li ist so alt wie ich, doch das hatte unsere Unterhaltungen nicht erleichtert. Er hatte sich einfach abgewandt, sobald ich unangenehme Fragen stellte, oder mich scharf zurecht gewiesen, indem er die Weisheit der Partei betonte. Mit schneidender Arroganz hatte er manchmal hinzugefügt, ob ich etwa glaube mehr zu wissen als die Partei, und ich hatte es aufgegeben, ihn etwas zu fragen, wollte nicht vor einer menschlichen Stimme erschrecken, noch dazu vor einer, auf die ich dank großzügiger Entscheidung angewiesen, die meine zweite Stimme in diesem Land war.

Der Smog war dichter als je zuvor. Nichts wies darauf hin, dass ich in Shanghai war, ich könnte ebenso gut in Peking sein oder in einer beliebigen anderen chinesischen Boomtown. Lachend fragte ich Li, ob wir wirklich in Shanghai seien, und war überrascht von seiner Antwort: Nein, keine Spur, alle Sicherheiten seien auf den Mond ausgewandert, aber sie würden bald woanders hinziehen, wenn der Verkehr im Weltraum weiterhin so zunehme.

Ob denn die Beschwerden der Mondfrau nicht gehört würden, fragte ich zurück, und wir kicherten vor uns hin, während Li meinte, die Beschwerdekommission sei kollabiert unter dem Mondgestein, das die Mondfrau geschickt habe.

Wir sprachen Englisch, der Taxifahrer hatte mich zwar mit einer auswendig gelernten Begrüßungsformel willkommen geheißen, aber die wenigen Worte fielen ihm so schwer, dass ich sicher war, er würde uns nicht verstehen. Trotzdem wollte ich Li nicht wieder fragen, warum die Bewohner diesen Smog hinnahmen oder die Regierung das unbedingte Bedürfnis verspürte, alles unter Smog zu begraben. Die Fahrt wurde immer langsamer, bis wir nur noch standen. Neben dem Taxi ging ein Mann vorbei, der zwei Schweine an der Leine führte, die in roten Jacken steckten und Federhüte trugen. Ich hatte selten eine so komische Gruppe auf einer Straße gesehen. Welch ein mutiger Protest, flüsterte ich, um Li die Chance zu geben, mich einfach nicht zu hören. Ich fotografierte sie so, dass das Gesicht des Mannes nicht erkennbar war. Die Vorstellung, jemanden durch meine Fotos zu gefährden, hatte mir während meines ersten Aufenthalts hier schlaflose Nächte verursacht. Immer wieder war ich hochgeschreckt, hatte Fotos am Computer gelöscht, aus Angst, jemand könnte sie während meiner Abwesenheit herunterladen. Damals hatte ich wirklich nur Aufnahmen von Wolkenkratzern, Straßen, Dächern mitgenommen.

Während die Ampel auf Grün schaltete, das Taxi langsam an den Schweinen vorbeifuhr, flüsterte Li, dass immer mehr Bauern verrückt würden, ihnen werde alles zugemutet: Umsiedlungen, unmögliche Erntevorgaben, sogar des Wassers würden sie beraubt für die Boomtowns. Sie verließen das Land, aber nicht wie die Wanderarbeiter, um in der Stadt unter den unmenschlichsten Bedingungen zu arbeiten, sondern um den Wahnsinn sichtbar zu machen, den sie sich nicht länger vom Leib halten konnten. Wie um Lis Worte zu bestätigen, saß an der nächsten Kreuzung eine Gruppe von Bauern auf dem Gehsteig und peitschte einen Yak aus, der unbeweglich stand, als würde ihn das nichts angehen.

Ich bat den Taxifahrer stehen zu bleiben, hörte erst, als ich nahe bei der Gruppe war, das Pfeifen der Peitschen, das Stöhnen der Bauern. Es klang, als würden sie ausgepeitscht werden und die Peitschen wären in fremden Händen, über die sie nicht verfügten.

Jemand fasste mich am Arm, und während ich noch überlegte, ob ich ein ungeschriebenes Gesetz verletzt haben könnte, hörte ich Li freundlich sagen, keine Angst, die Yaks haben ein dickes Fell, so dick, dass sie nichts spüren. Sieh, wie die Männer die Bewegung abbremsen, kurz bevor die Peitsche trifft.

Das Lächeln machte aus dem strengen Gesicht ein komödiantisches, das mir gefiel, vor dem ich mich nicht länger fürchtete. Li hatte sich verändert, die Überzeugungen waren brüchig geworden. Das Leben in Shanghai hatte offensichtlich Tag für Tag einige Kratzer in der roten Festung hinterlassen.

Ich war im selben Hotel wie immer untergebracht. Kaum war ich in meinem Zimmer, konnte ich es nicht mehr von anderen ähnlichen unterscheiden. Ich schaltete den Fernseher ein, die Gesichter auf dem Bildschirm wirkten vertraut, ich bemerkte erst wieder, dass ich in Asien war, als ich kein Wort verstand, obwohl mir das mit einer eigenartigen Verzögerung auffiel, während der ich mir einbildete, den Nachrichten zuzuhören. Ich fiel angezogen aufs Bett und schlief sofort ein. Im Traum schlich ich durch Nebel, der immer wieder plötzlich aufriss und mir die schönsten Motive bot, doch ich war zu müde, um schnell genug nach der Kamera zu greifen.

Als ich zwanzig war, schenkte mir mein Vater die Fotoausrüstung seines Vaters. Wahrscheinlich war sie ihm im Keller oder in einem Abstellraum in die Hände gefallen, sonst gab es keine Erklärung dafür, warum ich sie nicht spätestens zur Matura bekommen hatte. Sie war wie ein Geschenk des Himmels für mich, ich war sofort besessen von der Möglichkeit, all das Schöne auf dieser herrlichen Erde festhalten zu können und wusste in dem Moment, in dem ich die Kameras in die Hand nahm, dass ich Fotografin werden wollte. Alle Unsicherheit verschwand, es war kein Problem mehr, mich für eine Tätigkeit zu entscheiden, was ich bis dahin als schreckliche Zumutung empfunden hatte, fast als Todesurteil, dem ich mit allen Tricks und Ausreden, vorgetäuschten Interessen und Krankheiten zu entkommen versuchte. Ich hatte noch nie eine eigene Wohnung, lebe lieber in Hotels und reise mit leichtem Gepäck. Seitdem ich die schweren Kameras meines Großvaters, der außer seinen Fischen nichts mit ihnen fotografiert hat, weder seine Frau noch seinen Sohn, nie den Traunsee oder Gmunden, gegen Digitalkameras getauscht habe, wiegt auch mein drittes Auge nicht mehr so schwer.

Der Wecker läutete, am liebsten hätte ich mich umgedreht und weitergeschlafen. Ich konnte mich nicht erinnern, wie sich mein Körper ausgeschlafen anfühlte, dieser erfreuliche Zustand musste Jahre her sein. Ich brauche Urlaub, Schlafurlaub, warum nicht in diesem Hotel, gleich jetzt, doch Li rief an und bestand darauf, dass der Empfang wichtig sei, es dort Informationen für mich geben würde, die ich nirgendwo sonst bekommen könnte.

Welche Informationen, wollte ich wissen und konnte mir keine einzige vorstellen, die wichtiger als mein Schlaf wäre.

Über die Entwicklung von Shanghai, meinte Li vage, und ich hörte ein Zittern in seiner Stimme. Lachte er oder hatte er Angst?

Es ist eine offizielle Einladung, wenn du keine Schwierigkeiten bekommen willst, solltest du sie annehmen.

Das Zittern der Stimme hatte sich verstärkt, und ich konnte seine Angst spüren.

Dress up, dress up, wiederholte Li. Ich stellte mich unter die Dusche, die mich halbwegs wach machte, zog mein einziges, dafür unzerknitterbares langes Kleid an, schlüpfte in mein einziges Paar Stöckelschuhe, legte mir meinen einzigen Seidenschal um und schminkte mir die Lippen. Meine Haare waren noch feucht, aber zum Föhnen blieb keine Zeit. Erst im Lift dämmerte mir, dass es bei diesem offiziellen Empfang sicher Fisch und Schalentiere zu essen geben würde, nichts als Fisch und Schalentiere sogar, denn die reichen Chinesen lieben Fisch und Schalentiere. Fisch in schwarzem Tee gekocht, der aussieht, als wäre er in einem Schlammbad erstickt. Die Vorstellung verursachte mir Gänsehaut. Dabei habe ich so gerne Fisch gegessen, jammerte ich im Taxi, aber seitdem ich vor vier Jahren in Berlin an einer Massenfischvergiftung teilgenommen habe, kann ich Fisch nicht einmal mehr riechen, ohne dass mir übel wird. Außerdem ist Fisch nicht, wie alle behaupten, gesund, triumphierte ich jetzt, die großen, langlebigen Fische sind sogar ausgesprochen ungesund, verseucht von den Schwermetallen, die wir so freundlich sind im Meer abzulagern, und von Flussfischen hier in China möchte ich nie, nie träumen. Li nickte, hörte geduldig zu, meinte freundlich, ich weiß, ich weiß, dieses Problem hast du, seitdem ich dich kenne. Umso unverschämter, mich zu einem Fischempfang einzuladen, presste ich hervor. Von all meinem Fischgerede war mir bereits schlecht geworden. Li versuchte mich abzulenken. Mein Englisch sei nicht ganz korrekt, nicht die Fische würden empfangen, sondern Architekten und Bauherren, und ich hätte sicher nicht an einer Massenfischvergiftung teilgenommen, sondern einfach giftigen Fisch gegessen. Sein Lächeln fand ich immer netter und den Singsang der Worte ebenso. Früher wäre mir eine harsche Zurechtweisung sicher gewesen, doch jetzt, welch eine Veränderung. Ich beobachtete unauffällig Lis Gesicht und fand es zum ersten Mal schön.

Offensichtlich bin ich dabei, mich zu verlieben, sagte ich nachts zu Bob am Telefon, und mein Bruder stöhnte, bitte nicht, tu mir das nicht an, Alice, erinnere dich an deine letzte Verliebtheit, es war schrecklich, um die ganze Welt seid ihr euch ständig nachgereist, nur um euch immer um einige Stunden zu verpassen, das war ein unendlicher Horrortrip, ihr zwei habt gereicht, um den Globus zu vernichten! Ich hätte Bob an seine Exfrauen und die von ihm veranstalteten Exzesse erinnern können, aber ich war zu beschwingt von dem Wein, dem kribbelnden Gefühl in meinem Körper, der Pekingente, die Li für mich bringen ließ, ist das nicht nett von Li, fragte ich Bob, ohne seine Antwort abzuwarten, alle anderen haben Fisch und Schalentiere gegessen, sogar Hummer, nein, vor allem Hummer, dabei glauben die Chinesen an die Wiedergeburt, sogar an eine als Tier, und wer bitte möchte schon lebendig gekocht werden, doch Bob wurde ungeduldig, wollte nichts hören von der köstlichen Pekingente und den armen Hummern, sondern wissen, wann ich endlich wieder nach Chikago käme, unser Freund Fred hätte eine sensationell erfolgreiche Ausstellung, von der die internationale Kunstwelt schwärme, beinlose Pferde, überall falle man über diese beinlosen Kreaturen, schauerlich! Aber ich bitte dich, Bob, wegen einer schauerlichen Ausstellung soll ich nach Chikago kommen, du bist ja schon genauso verrückt wie Fred. Das hätte ich besser nicht gesagt, denn nun begann Bob über die Vorteile der Verrücktheit zu monologisieren, alle Normalen seien einfach unerträglich langweilig, jede Minute mit ihnen Zeitverschwendung, und lieber wäre er noch viel verrückter als Fred, sollte das der Preis sein, um schreiben zu können, wenn auch nicht über beinlose Pferde, nein, so ein Schwachsinn interessiere ihn nicht einmal in den schrecklichsten Stunden seiner abgründigen Gedankenstille, aber wahrscheinlich sei genau das sein Problem, dass ihn beinlose Pferde nicht inspirierten, ja, nicht einmal interessierten. Dieses mangelnde Interesse sei ein eindeutiger Beweis für die Überreste des Kleinbürgertums in ihm. Es sei doch kein Zufall, dass er sich immer am wohlsten fühle, wenn er an einem Manuskript die kleinen Unstimmigkeiten ausbessere, das seien seine wahren Glücksmomente, Fehler zu entdecken und zu korrigieren, eigentlich sei er ein zum Volksschullehrer geborener Mensch, und vielleicht sollte er diese Bestimmung endlich annehmen, oder müsse es heißen, sie erfüllen? Egal, als Volksschullehrer wüsste er wenigstens, dass er innerhalb eines Jahres sterben würde, und vielleicht sei so ein Ablaufdatum die wahre Herausforderung?

Bob, wir kommen aus einem großbürgerlichen Haus, warf ich ein, doch mein Bruder lachte mich aus. Unser Elternhaus sei zwar groß, meinte er, aber darin erschöpfe sich bereits alle Größe, ja, das riesige Haus hätte jegliche Größe für sich beansprucht, sodass nichts, absolut nichts davon für uns übrig blieb. Ein Wirtschaftsanwalt, der den Ausverkauf Österreichs an das deutsche Großkapital rechtlich ermöglichte, sei kein Großbürger, auch kein Weltbürger, wie ich sicher in ewiger Verteidigung unseres Vaters einwenden wollte, sondern ein Kleinbürger, der nur an sein eigenes Geld denke. Und eine Mutter, die zwar Schürzen verabscheue, aber dafür tagsüber im Abendkleid herumrenne, sei… Nein, Bob, ich habe heute nicht die geringste Lust, mir das anzuhören, unterbrach ausnahmsweise ich meinen Bruder. Verliebte sind Egomanen, stöhnte er, aber du hast recht, ich bin zu alt dafür, ich sollte endlich erwachsen werden, warum hast du mich nicht mitgenommen in dein Zelt, dann wäre ich dem Haus entkommen, aber nein, du wolltest schon als Kind lieber allein sein. Das stimmt doch nicht, Bob, du hast das Zelt gemieden, ich hätte mich sogar über Kürzestbesuche von dir gefreut. Doch Bob interessierte sich nicht mehr für mein Zeltleben, sondern stöhnte: Wenn ich nur schreiben könnte, das kommt alles nur daher, weil ich so eine verfluchte Fantasieblockade durchlebe, und das ausgerechnet jetzt und ausgerechnet in Chikago: Die Welt um mich vibriert, das Stipendium ist großzügig, die Bibliothek ist Tag und Nacht offen, alle Spezialisten warten nur darauf, dass ich sie mit meinen Fragen bedränge, aber ich habe keine Fragen, keine einzige, obwohl, vielleicht habe ich heute endlich eine neue Hauptfigur gefunden, Bernays, ein Neffe von Sigmund Freud, unglaublich, er hat Freuds Entdeckung des Unbewussten für den Kapitalismus nutzbar gemacht: Wecken wir Bedürfnisse, von denen die Menschen nicht einmal ahnen, dass es sie gibt. Dieses verrückte Land sieht selbst im Unbewussten nur eine Quelle für Profit. Bernays wurde nicht nur steinreich, sondern auch steinalt. Hast du ihn nicht einmal fotografiert?

Ich bin müde, es war ein langer Tag, und wie immer konnte ich im Flugzeug nicht schlafen.

Alice, hast du ihn nun fotografiert oder nicht?

Ja, vor vielen Jahren, wie du dir ausrechnen kannst. Wahrscheinlich war Thomas verkatert oder krank, sicher bin ich für ihn eingesprungen. An den alten Herrn erinnere ich mich kaum, aber selbst wenn ich mich an jede Geste, jedes Wort von ihm erinnerte, würde dir das nichts nützen, du weißt doch, dass dir erfolgreiche Männer nicht liegen, binnen weniger Wochen endet alles in einem Fiasko.

Bob hatte aufgelegt. Er ertrug es nicht, an seine gescheiterten Versuche erinnert zu werden. Kaum hatte ich Ruhe, sah ich Lis Augen wieder vor mir, hörte den Singsang der Stimme in mir, spürte erneut seine Aufmerksamkeit, die mich den ganzen Abend umgab. Li hatte eine Mappe meiner Shanghaifotos auf den Empfang mitgebracht und sie mehreren Gesprächspartnern gezeigt, eher geheimnisvoll als aufdringlich. Wie hätte ich ohne Li wissen können, wer an meinen Fotos interessiert war, oder wer die Zukunft noch mit aufbauen durfte oder bereits zu mächtig geworden war und von anderen bald beneidet werden würde, weil er rechtzeitig das Land verlassen hatte? Li schien allwissend, manche Visitkarten verschwanden in der rechten Jackentasche, diejenigen, die ich später bekam, landeten in der linken. Auf jeder war das geplante oder im Entstehen begriffene Bauprojekt vermerkt. Dank Lis Beziehungen könnte ich die nächsten Jahre hier verbringen, all diese Architekten und Bauherrn, die ihr einmaliges Hochhaus, das höchste, beste und innovativste von mir fotografieren lassen wollten, waren bereit, für die Dokumentation ihrer nicht unbedingt neuen Ideen gut zu bezahlen, wie mir Li zuflüsterte, dabei interessierte mich Architektur nicht, nur diese verrückte Stadt und seit heute Abend Li.

Am nächsten Tag – von Shanghai war noch immer nicht viel zu sehen – flogen Li und ich nach Xining, ins Hochland. Li versicherte mir, wir würden angerufen, sobald sich der Smog zu lichten begänne. Auf dem Weg zum Flughafen tauchte aus dem Nebel eine gebückte Gestalt auf. Eine Frau wusch sich ihre langen, schwarzen Haare auf dem Gehsteig. Ich bat den Taxifahrer, stehen zu bleiben, doch er reagierte nicht, bis Li ihn anschnauzte – wie früher verließen harte Laute seinen Mund. Vor der Frau stand ein Plastikeimer, in der Hand hielt sie einen Becher, mit dem sie das Wasser aus dem Eimer schöpfte, um es sich über das Haar zu gießen. Ich wusste, alle alten Wohneinheiten auf dem Weg zum Flughafen waren längst planiert, und in den neuen Wolkenkratzern waren die Wohnungen mit einem Bad ausgestattet. Dann sah ich das Gesicht der Frau: Sie war viel älter als ihr dunkles Haar und ihre zarte Gestalt mich vermuten ließen. Sie musste eine der Frauen sein, von denen mir Li gestern erzählte: Viele alte Menschen schaffen die Umstellung von den Gemeinschaftshäusern in die Hochhäuser nicht. Manche verließen ihre Zellen nicht, weil sie eine unüberwindbare Angst vor dem Lift und den endlosen Stiegen hatten und verhungerten, andere begingen Selbstmord, aber das wurde als Unfall registriert, alte Leute fallen eben leicht aus Fenstern. Dagegen erschien das Beharren dieser Chinesin auf ihrem alten Lebensstil geradezu rebellisch, sie bestand auf dem Leben in der Öffentlichkeit, verweigerte die Einsamkeit in der bequemen Zelle. Nur war niemand mehr da, der ihr half, die Haare zu waschen: keine Nachbarn, keine Kinder.

Es gibt den Himmel noch, welch eine Freude! Sonne, Mond und Sterne sind nicht nur abstraktes Wissen, sondern sichtbar. Und die Luft roch nach unbekannten Gewürzen, nicht nach Abgasen. Grüne Berge umrahmten das Hochplateau, stellte ich verblüfft fest. Ich hatte Steinriesen erwartet wie in den Alpen oder braune Bergrücken wie in Montana, braun erst, seitdem der Regen ausblieb, doch hier war alles anders, weitete eine nie gesehene Landschaft den Blick. Es sei eine der ärmsten Provinzen Chinas, meinte Li. Wie er das sagen könne, sie sei überreich an Schönheit.

Ich fühlte mich wohl in Lis Gegenwart, doch seitdem ich verliebt war, war ich gleichzeitig so schüchtern, als wäre ich wieder ein Mädchen. Li war aufmerksam, sogar fürsorglich, aber nichts deutete auf mehr als eine neue professionelle Freundlichkeit hin. Wenn ich mich zu erinnern versuchte, wie frühere Liebschaften anfingen, fielen die Bilder in meinem Kopf ineinander wie zwei Körper, die nichts anderes ersehnten als zusammen zu sein, sich aus der Trennung hinauskatapultieren wollten in die Einheit.

Die dünnere Luft auf zweitausend Metern war angenehmer als die in Shanghai, doch als wir am nächsten Tag zum Qinghai See fuhren, vorbei an tibetischen Bauern, ihren Zelten und Yaks, wir uns an seinem Ufer niederließen, Li das mitgebrachte Essen auspackte, hatte ich das Gefühl, mein Körper verliere seine Festigkeit. Wir sind nur über dreitausend Meter, sagte ich mir, doch diese Information beeindruckte meinen Körper nicht. Er bestand darauf, leicht zu werden, durchlässig, und als ich mich nicht mehr dagegen wehrte, merkte ich, wie angenehm sich diese Auflösung anfühlte. Nur aufstehen würde ich mit diesen weichen Teilen nicht können und manchmal hatte ich den Eindruck umzukippen, aber es geschah nicht. Ich saß nur da und sah auf das grünblaue Salzwasser, das sich irgendwo am Horizont verlor oder in mir oder ich mich in ihm. Alles wurde unwichtig in dieser Auflösung, sogar meine Gefühle für Li. Ohnedies existierte nichts außer dem Wasser und dieser dünnen Luft, die vibrierte und sichtbar war und mich schwerelos machte.

Irgendwann bemerkte ich Lis besorgten Blick. Ich war erstaunt, dass ich die Wasserflasche halten konnte. Ich sollte trinken, gut, warum nicht. Mehr. Ich trank mehr. Erst beim zweiten Schluck spürte ich meinen Durst. Danach fühlte sich mein Körper wieder vertraut an, der See zog sich aus mir zurück, die Luft wurde beinahe unsichtbar. Vielleicht könnte ich Li bei der Rückfahrt überreden, auf der Passhöhe eine Pause zu machen. Schon sehnte ich mich nach der Leichtigkeit, der Weite meines Körpers, der Verschmelzung mit der Umgebung. Auf viertausend Höhenmetern müsste ein ähnliches Phänomen geschehen, und morgen könnten wir auf einen Berg fahren, der fünftausend Meter hoch war und immer höher und höher hinauf, aber vorher musste ich die Gesichter der Tibeter fotografieren, diese dunklen, schönen Gesichter, mit einer Haut wie gegerbt… Li sagte streng: Alice, iss etwas! Es war wunderbar, wenn er meinen Namen sagte, der See hatte ihn gehört und in die Luft erhob er sich, umtanzte die Berge, aber essen würde ich hier sicher nicht, ein voller Magen würde mich so schwer machen wie zuvor, diese gebliebene Leichtigkeit, die ich noch wahrnahm, wollte ich nicht gegen Essen tauschen.

Li umarmte mich, flüsterte: Verzeih mir, ich hätte dich nie hierher bringen dürfen, meine Liebe, es ist nur so schön hier, ich wollte dir etwas Schönes von meinem Land zeigen, dich nicht krank machen, bitte, hör mir zu, du bist höhenkrank, ich werde dich zum Auto tragen, keine Angst, Liebste, es wird vorbei sein, sobald wir im Hotel sind, aber wir müssen jetzt aufbrechen, bitte!

Wie gut mir diese Sätze taten, Li war verliebt wie ich, nur Verliebte reden so! Dieser schmale Körper, zart wie meiner, an den ich mich jetzt schmiegen durfte, in den ich am liebsten hineingesunken wäre. Keine Angst, Li, ich bin nicht höhenkrank, ich kenne die Symptome, viele Kollegen haben in Tibet gearbeitet oder wollten hier arbeiten, stattdessen haben sie ausführlich über Kopfweh und Herzflattern, Atemnot und Hustenanfälle berichtet, aber all das quält mich nicht, meine Symptome sind anderer Art, ich löse mich nur auf, in dir, in dieser Schönheit rings um uns. Sieh doch, wie der See funkelt, als wäre seine Oberfläche diamanten. Li war nicht überzeugt, doch dann sahen wir uns an und flossen ineinander. Tränen, Speichel und Schweiß vermischten sich, wir wurden eins mit all den Flüssen, die hier entsprangen, tauchten ein in den gelben Fluss, durchquerten Asien nach Süden und Osten, ertranken irgendwo oder vertrockneten, es war ohne Bedeutung, die Berge quollen über von Wasser, das uns in jedem Frühling erneuerte.

Shanghai gönnte uns die dünne, duftende Luft nicht. Noch in der Nacht bekam Li einen Anruf, dass die Sterne zu sehen seien, es ein klarer Tag werden würde, der Wind komme vom Meer und vertreibe den Smog. Arme Bauern, meinte ich, und Li nickte. Wir flogen nach Shanghai zurück, und zum ersten Mal sah ich zwischen den herumziehenden dunkelbraunen Wolken oder Smogfetzen einige Teile der Stadt vom Flugzeug aus. Die Baustellen wirkten wie Krater zwischen den aufschießenden Wolkenkratzern.

Li hatte ein Polizeiauto organisiert, alles sei möglich, alles nur eine Frage von Beziehungen oder Geld – bei diesen Worten wirkte sein Lächeln aufgesetzt. Im Auto schwiegen wir, Li war nervös oder es irritierte ihn das Sirenengeheul. Wir rasten durch den Tunnel, vom Fernsehturm aus sah ich zum ersten Mal bis zum Hafen, aber der Hafen ging mich nichts an, ich fotografierte die Stadt unter mir, die Baustellen, die neuen Hochhäuser, dann fuhren wir zu den einzelnen neuen Gebäuden, ich bekam dank der Polizei überall Zugang und konnte die Stadt wie nie zuvor aufnehmen, die Wolkenkratzer spiegelten sich ineinander, die Stadt funkelte und glitzerte, wurde zu einem Versprechen, das am nächsten Tag bereits wieder im diesigen Licht versank. Ich hatte, wie immer bei der Arbeit, auf das Essen vergessen, Li hatte mir hin und wieder die Wasserflasche in die Hand gedrückt, wortlos. Jetzt gingen wir in ein Restaurant, in dem ausschließlich Pekingente serviert wurde. Li hatte zum Glück einen Tisch reserviert, denn die Menschen standen Schlange davor.

Li meinte lachend, dass es während der Maozeit gerade ein oder zwei Lokale in Shanghai gegeben hätte, ich mich nicht wundern sollte, dass alle, die es sich irgendwie leisten könnten, so gerne essen gingen.

Zu zweit hatten wir keine Chance auf ein Nebenzimmer, in dem großen Raum war es fast unerträglich laut, Li und ich verzichteten darauf, die anderen zu überschreien. Als mich Li mit seinem alten Wagen ins Hotel fuhr, wurden die Nebelschwaden dichter, verschluckten die Autos um uns, die Menschen. Der Wind hatte gedreht, brachte den Dreck zurück, den Gestank. Li entschuldigte sich, er müsse eine Übersetzung beenden, obwohl er lieber bei mir bleiben würde, sah mich nicht an, während er hastig sprach, und verschwand, bevor ich antworten konnte.

Am nächsten Tag fuhren wir erneut mit dem Polizeiauto durch die Stadt, die gleiche Route wie gestern, Li saß wieder nervös neben mir, redete kein Wort. In dem diesigen Licht wirkte Shanghai wieder vertraut, entstanden Fotos, die zu den Serien der vergangenen Jahre besser passten als die glitzernden, funkelnden Spiegelbilder von gestern.

Li und ich gingen essen, dieses Mal in eine Spelunke, aber die Küche übertreffe jedes Spitzenrestaurant, meinte er. Es war der erste Satz, den er an diesem Tag sagte. Ich gab ihm, kaum kostete ich von einem der Nudelgerichte, recht. Während wir unser Nudelgelage genossen, fragte er mich flüsternd, ob er heute mit mir kommen dürfe, er hätte mich vermisst letzte Nacht, aber wenn ich lieber allein wäre… Ich nickte nur, wollte sagen, ich freue mich, aber mein Mund war zu trocken, wahrscheinlich vertrug ich die scharfen Speisen nicht oder den Schnaps oder war nur zu überrascht von seinem Wunsch nach all dem Schweigen heute, hatte mich damit abgefunden, dass ich seine Zärtlichkeit der dünnen Luft verdankte.

Umarmt werden, umarmen, Haut an Haut liegen, zwischen der Gier das Eintauchen in die Zärtlichkeit, manchmal hatte ich das Gefühl, in den Armen eines Knaben zu liegen, so zart war sein Körper, und wenn er sich an mich schmiegte, auf mir lag, war es, als würde ich meinem Zwilling begegnen – ich verdoppelte mich in ihm auf die angenehmste Art, die mir vorstellbar war, bis der Schlaf uns trennte, dieses Gefühl in den Träumen nachschwang, die spielerisch ineinander glitten, Wasserträume, Luftträume.

Nachts hatte es Li nach einem Anruf plötzlich eilig. Am Telefon hatte seine Stimme aufgeregt geklungen, er lachte, flüsterte, obwohl ich nichts verstand, wie er wusste. Nachdem er aufgelegt hatte, strahlte er, doch als er aus dem Bad zurückkam, wirkte er ernst. Er bat mich um Hilfe, aber auf meine Fragen erhielt ich nur ausweichende Antworten, dann schwieg er, während er sich anzog. Das Schweigen war ein anderes als früher, nicht abweisend, eher ängstlich, unsicher, wie sein flackernder Blick. Als ich in seine Nähe kam, spürte ich die Hitze, die von ihm ausging, vor der ich zurückwich. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als ich verstand, dass ich etwas fotografieren sollte, was ich nicht fotografieren durfte. All die Schilder, die das Fotografieren untersagten, angebracht an beliebigen Häuserfassaden, fielen mir ein und Lis Warnung, diese Verbote ernst zu nehmen, fünf Jahre Haft sei die Durchschnittsstrafe für Ausländer, die glaubten, sich nicht darum kümmern zu müssen. Ich bin kein mutiger Mensch, die Angst kroch bereits den Rücken hoch, ließ mich frösteln, mein Magen verkrampfte sich zu einem Stein, aber ich wollte Li nicht im Stich lassen. Außerdem bin ich keine Spezialistin im Neinsagen, besonders nicht, wenn ich verliebt bin. Während ich meine Kameras kontrollierte, erinnerte ich mich, dass ich immer, wenn ich mich verliebte, mehr im anderen als in mir war, und dass ich irgendwann diese Auswanderung aus mir keinen Tag länger ertrug. Aber noch war es nicht so weit, noch zog ich die Jeans an und das dunkelblaue T-Shirt, das Li für mich ausgesucht hatte, schlüpfte in die Turnschuhe und eilte ihm nach. Ich hatte viel Zeit meine Angst zu beobachten. Trotz der Hitze hatte ich einen Schüttelfrost, während wir schweigend mit Lis altem Karren aus der Stadt hinausfuhren, schweigend durch ein Gelände gingen, in dem es nichts gab außer Baracken: kurz waren sie im Scheinwerferkegel sichtbar gewesen, dann war nur noch Dunkelheit um uns, durch die wir uns unsicher bewegten. Wenigstens musste ich die Verbotsschilder nicht wahrnehmen, die durchgestrichenen Fotoapparate nicht sehen. Li ging voraus, hielt mich an der Hand. Seine war heiß und feucht, zittrig wie meine eiskalte. Manchmal wurde es so eng um uns, dass er meine Hand loslassen musste. Plötzlich hörte ich sie: jaulende Hunde, heulende Hunde! Tiere im Käfig, ein Alptraum für mich. Nie wollte ich sie fotografieren, ihre Gefangenschaft teilen, ich liebe Hunde, Bob liebt Hunde, immer schon wollte Bob einen Hund. Während ich zwischen Baracken herumschlich, Lis Hand mein einziger Schutz war, erinnerte ich mich plötzlich an all die schrecklichen Weihnachten, zu denen Bob immer wieder nur einen Plüschhund statt des versprochenen Hundes bekam, er schreiend durch das Haus lief, und zwängte mich hinter Li zwischen Bretterverschlägen durch, verlor jede Orientierung. Ohne Li würde dieser Ort für mich zu einem Gefängnis werden, ich würde mit den Hunden hier verrecken. Li blieb stehen, flüsterte irgendwo in der Nähe meines Ohres, ich solle nicht so hastig atmen. Ich versuchte mich zu beruhigen, indem ich mir einredete, ich mache hier einfach einen Job, nichts sonst. Li ist so dünn wie der Schatten eines Bretts, gäbe es hier Licht und Schatten. Trotz meiner fünfzig Kilo empfand ich mich als viel zu breit, ich brauchte mehr Raum als Li, steckte immer wieder fest, mein Kopf stieß gegen Dinge, ich erzeugte Lärm, der uns gefährdete. Jedes Mal, wenn mein Kopf gegen etwas stieß, spürte ich, wie Li vor mir erstarrte. Ich erstarrte mit. Vor lauter Erstarrung stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, was ich hier verdammt noch einmal machte. In dieser Dunkelheit war an gute Fotos nicht zu denken, schlechte Fotos konnte Li selbst machen, warum stolperte ich hinter ihm her in dieser unwirklichen Barackenlandschaft? Ich blieb stehen, war entschlossen, keinen Schritt mehr in diese Dunkelheit hineinzugehen, hörte Li weitergehen, stehen bleiben, zurückkommen, seine Augen waren eindeutig nützlicher in dieser Finsternis als meine. Er umarmte mich und flüsterte, bitte, es ist nicht mehr weit, ich brauche deine Hilfe. Diesem Flüstern konnte ich nichts entgegensetzen. Nach wenigen Schritten blieb er stehen: Hier ist es, mach die besten Fotos, die dir möglich sind.

Erleichtert atmete ich auf, natürlich, ich war hier, um zu fotografieren. Es ist unbedeutend, wo wir sind, Li ist da, führt mich, ich muss mich um nichts kümmern, nur um die Aufnahmen. Die Hunde waren weit weg, außer ihrem Heulen und Jaulen hörte ich nichts. Schemenhafte Hunde bewegten sich unter schwachem Laternenlicht in der Ferne. Durch die Löcher in den Brettern würde ich keine guten Aufnahmen schaffen. Kaum konzentrierte ich mich, wurde ich ruhig. Ich bestand flüsternd darauf, dass wir entweder ein Brett entfernten oder mir Li die Räuberleiter machte, damit mir dieser Lattenzaun nicht im Weg war. Letzteres sei besser, meinte Li, obwohl ich etwas wacklig auf seinen Händen stand, bis unsere Körper eine gemeinsame Balance fanden. Ich fotografierte jeden Winkel vor mir, wie immer von links nach rechts, hatte so nah gezoomt, dass ich mir kurz einbildete, siamesische Zwillingshunde zu sehen, doch kaum hatte ich sie aufgenommen, waren sie aus dem Suchfeld verschwunden. Irgendetwas veränderte sich plötzlich vor mir, die Hunde bellten lauter, jaulten noch schauerlicher, ich glitt zu Boden, fasste nach Lis Hand und flüsterte: hurry, please hurry!

Wir schlichen zurück, und ich ahnte nicht, woran sich Li orientierte. Wieder im Auto sah mich Li mit einem eigenartig starren Blick an, ich nahm die Chips aus den Kameras, Li gab sie in einen winzigen Behälter, der so schnell verschwand, dass ich nicht sah, wo das Versteck war. Li überreichte mir die Chips mit den Aufnahmen der Hochhäuser – zu deiner Sicherheit, meinte er. Ich hatte nicht geahnt, dass er sie mir gestohlen hatte. Ich wollte ihn anschreien, seit wann mich ausgerechnet die unter Polizeischutz gemachten Aufnahmen gefährden würden, doch dann sah ich seine zittrigen Hände und beruhigte mich. Er hätte mich nie erpresst, sagte ich mir, er wollte mich nur beschützen, falls wir kontrolliert würden, eine Polizeisperre oder weiß der Himmel was… Was weiß der Himmel über China, lenkte ich mich ab, dieser durch Smog verdreckte Himmel?

Morgens lag ich allein im Bett. Ich hatte von Bob geträumt, von unserer Zeit in Indien, und im ersten Moment bildete ich mir ein, wieder in Delhi zu sein, doch langsam wurde mir bewusst, dass Li nicht da war, vielleicht hatte er nicht schlafen können, war frühstücken gegangen. Etwas an diesem Gedanken fühlte sich falsch an, aber noch weigerte ich mich zu glauben, dass Li sich heimlich davongeschlichen hatte.

Ich flüchtete zu Bob, zu meinen Erinnerungen an ihn. Im Gegensatz zu mir wusste Bob von Anfang an, was er werden wollte: ein berühmter Schriftsteller! In den ersten Jahren nach dem Studium sammelte er Erfahrungen, heiratete Doris, eine Französin, lebte mit ihr in Paris, spielte ihren Dackel, wie er sich ausdrückte, um zu erleben, wie sich ein gebrochener Mensch fühlt. Als Doris sich scheiden ließ, fand er aus dem Spiel nicht mehr heraus. Jetzt erst wurde Doris zu seiner heftigen, unbezähmbaren Liebe, und er hoffte ernstlich, sein schlechtes Gewissen zu entdecken. Er kaufte sich ein Zelt und campierte auf dem Gehsteig vor ihrer Pariser Wohnung, ließ sich verhaften, setzte sich, nachdem man ihm immer wieder sein Zelt stahl, während er unfreiwilliger Gast der Polizei war, als Bettler vor ihre Haustür, beobachtete die Passanten und schrieb die witzigsten Kurzgeschichten, die ich je gelesen habe. Er vergaß seinen Vorsatz, das schlechte Gewissen zu kultivieren oder zumindest zum Leben zu erwecken, bestand lieber darauf, dass seine Liebe ein Sturm sei, der alles niedermäht, alle Zweifel von Doris wegfegen und hoch in die Luft schleudern, ihre Bedenken wahllos in Stücke reißen und so lange wüten würde, bis kein liebloser Gedanke mehr ganz sei. Kein Sturm fegte in diesem Sommer durch Paris, und Doris verbrachte ihn auf dem Land. Im Herbst, als sie endlich zurückkam und ihn nicht einmal auf ihre geliebte Schokolade einlud, sondern ihn wie einen beliebigen Bettler behandelte, verließ Bob endlich Doris und heiratete Maria-Thérèsa, eine Kolumbianerin, die ihm täglich Essen gebracht hatte. Sie reisten in ihre Heimat, wo er sein Bestes tat, um sich täglich in den Slums von Medellin zusammenschlagen und ausrauben zu lassen, bis sich Maria-Thérèsa weigerte, ihm weiterhin Geld für diese Streifzüge zu geben und ihn vor die Tür setzte, er sich auf dem Müllberg verkroch wie Tausende andere, dessen Gase er immer noch vor sich sah und dessen Gestank er bis heute nicht losgeworden ist, wie er immer wieder betonte, und sicher hatte er sich dort vergiftet oder verstrahlt, leider hatte er zu spät erfahren, dass die kolumbianische Regierung dort, mitten in der Stadt, sogar Atommüll abgelagert hatte, wovon er natürlich nichts gemerkt hätte, weswegen die Ratten am schlimmsten für ihn gewesen seien, die Flöhe und Wanzen, verwanzt, verfloht hätte er sich in seiner ohnmächtigen Wut einer Freiheitsbewegung angeschlossen, die so geheim war, dass kein Mitglied etwas von einem anderen Mitglied wusste, was einfach überlebenswichtig war, nur blieb es für mich – und wahrscheinlich auch für Bob – ein ewiges Rätsel, wie er einer geheimen Geheimorganisation beitreten konnte, in der keiner den anderen kannte.

Ich war stolz auf ihn, als er seinen ersten Roman publizierte, in dem ich all die Sätze wieder entdeckte, die uns als Kinder wieder und wieder gesagt wurden: sich selbst treu bleiben, war so ein Lieblingssatz von Großmutter Anni in Gmunden gewesen. Ich sehe sie immer noch vor mir, wie sie Holz in den gefräßigen Ofen schiebt, die Töpfe darauf herumrückt oder ihre vom kalten Schwemmwasser roten Hände über ihm wärmt und kann ihre Worte jetzt noch hören, in diesem Hotel mitten in Shanghai: Alice, kein Elektroherd, keine Waschmaschine sind einen Verrat wert. Glaub mir, das wichtigste im Leben ist, sich selbst treu zu bleiben. Aber was ist das Selbst, habe ich mich, als ich denken konnte, ängstlich gefragt und meinen großen Bruder gefragt, der meinte, das Selbst sei der eigene Wille, und seines sei ein Schriftstellerselbst, und auf meine Frage, seit wann er das wisse, ohne nachdenken zu müssen antwortete: seit meiner Geburt. Schrecklich, dachte ich, ich habe keine Ahnung von meinem Selbst, bei meiner Geburt musste es verloren gegangen sein, denn mein Bruder war mein Vorbild und mein Gott, und noch nie war meine Angst, nicht so zu werden wie er, spürbarer gewesen als in diesem Moment, der mich mit meinem verloren gegangenen Selbst konfrontierte. Tagelang weinte ich, verkroch mich in meinem Zimmer, das er seit Jahren nicht mehr betrat, verächtlich über Mädchenträume redend, als ich ihm einst stolz meine rosaroten Vorhänge zeigte, dabei gab es längst keine rosaroten Vorhänge mehr, immer wieder hatte ich mich in sein Zimmer geschlichen und meines seinem so ähnlich gemacht, dass er sich in der Tür hätte irren können und dennoch in seine Welt gekommen wäre. Kein erlösendes Wort, nichts. Meine Mutter weinte mit mir, als ihr Weinen meines nicht beendete wie sonst, brachte sie mich zu einem Kinderpsychologen und seither habe ich einen Knacks. Der Psychologe versuchte mir einzureden, dass ich ein Selbst hätte, während ich genau spürte, dass all mein Wollen darin bestand, so zu sein wie Bob, sein Selbst meines längst verschlungen hatte. Ich glaube den Worten nicht mehr bedingungslos. Hinter jedem noch so harmlos klingenden Satz kann plötzlich eine Fratze auftauchen und mir den Satz so lange ins Hirn hämmern, bis es zusammenbricht. Niemand kann mir garantieren, dass ich eine nette Verrückte werden würde wie meine Wiener Großmutter, vielleicht würde ich eine aggressive Verrückte, wie mein Gmundner Großvater in seinen letzten Jahren, der eines Tages glaubte, die Nazis seien zurückgekommen, seinen Rucksack packte und dieses Mal in die Berge ging und auf jeden schoss, der zufällig in seine Nähe kam, während er auf der Suche nach den Partisanen war, um sich ihnen endlich anzuschließen. Anfangs schoss er daneben, traf höchstens einen dicken Baum, doch seine Wahnvorstellungen wurden immer schlimmer, jeden Jäger verwechselte er mit einem Nazi, nicht mit einem gewöhnlichen Nazi, mit den Mitläufern gab sich sein Gehirn nicht ab, nein, jeder, den er durch sein Fernglas beobachtete, war Gauleiter oder einer von der Gestapo, und Großmutter Anni verstand ihn, denn sie alle hatten sich zu Kriegsende hier versteckt, die faschistische Prominenz aus Europa, die ehemaligen Regierungen Ungarns, Rumäniens, Bulgariens und der Slowakei, mit ihnen die Nazispitze, die nicht mit dem Führer in Berlin sterben wollte, August Eigruber, Ernst Kaltenbrunner, Konrad Henlein, Hugo Jury, Otto Skorzeny. Nach ihnen begann eine Völkerwanderung, es kamen die Namenlosen, die versprengten Truppen, Flüchtlinge, Heimatlosen, Herumirrenden, und nach ihnen kamen die Überlebenden aus den Arbeitslagern und Konzentrationslagern, und Großmutter Anni verstand auch, dass er es sich nicht verzieh, Soldat gewesen zu sein, während andere Partisanen waren, aber unheimlich war ihr, dass er ununterbrochen redete, ausgerechnet dieser große Schweiger kann keine Minute mehr still sein, seufzte sie und brachte ihm jeden Tag sein Essen in die Höhle und eine Flasche Wein, bis zu jenem Tag, an dem sie nicht mehr zurückkam.

Als ich Bobs Buch las, aufgeregt, neugierig, hoffte ich, dass es mir das Urvertrauen in die Worte zurückgeben würde, doch es wurde zu einem Wortstrick. Er erinnerte sich an unsere Kindheit und Jugend ganz anders als ich, die fünf Jahre Altersunterschied waren eine zu hilflose Erklärung, auch mein Versuch, den männlichen Blick dafür verantwortlich zu machen, scheiterte, denn manche seiner Erinnerungen, besonders die an unsere Großeltern in Gmunden, stimmten ja mit meinen überein, was mich erst recht verrückt machte.