my_cover_image

Andrea Grill
Tränenlachen

Andrea Grill

Tränenlachen

ROMAN

O T T O   M Ü L L E R   V E R L A G

ISBN 978-3-7013-1153-8
eISBN 978-3-7013-1153-8

© 2008 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg
Umschlaggestaltung: Ulrike Leikermoser
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Für Greta

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

I.

 

Genua, Villa Rosa, 20. August 2007

Sich vor Grenzen nicht zu fürchten, lernt man früh oder gar nicht, hat dein Großvater gesagt. Und es ist schwer umzulernen. Das merkt man dir an, sagte er zu mir, da hatte ich ihn gerade erst kennen gelernt, dass dein Land keine Grenzen gehabt hat. Ein Glück hast du, ein pochendes, schimmerndes, es leuchtet dir den Weg, überallhin. Egal, was sie später mit dir machen, die Grenzenlosigkeit können sie dir nicht nehmen, hat er gesagt. Dein Großvater war der zweite Albaner, den ich kennen gelernt habe, und zugleich ein Wiener. Galip hat er geheißen, wie du. „Der Siegreiche“ bedeutet das, hast du mir erklärt, es kommt aus dem Türkischen. Wie so vieles bei euch, hast du hinzugefügt, und es hat geklungen, als wäre es dir nicht ganz recht. Auch dein Großvater sei ein wenig Türke, genauso viel Türke wie Österreicher. Të Barabartë, zu gleichen Teilen. Vor allem aber ist er Albaner, und deswegen hat er die schönste Zeit seines Lebens im Gefängnis verbracht.

Dein Großvater ist ein wichtiger Mensch für dich, der wichtigste vielleicht. Stundenlang hast du von ihm erzählt. Tagelang. Lange bevor ich ihn zum ersten Mal getroffen habe, Jahre vorher, wusste ich schon mehr über ihn als über meine eigenen Großeltern. Fast mehr als über dich. Bekannt gemacht hast du uns per Telefon.

Deine Großeltern wohnten, wo sie noch immer wohnen, in einem der unzähligen unverputzten Ziegelhochhäuser Tiranas, die unfertig erscheinen oder so, als stünden sie bereits kurz vor dem Abbruch, Un-häuser, aus denen die Bewohner nur mangels anderer Wohnungen, und vielleicht auch aus Trägheit, nicht ausziehen. So hoch sind sie gebaut, dass man unten, auf der Straße, immer im Schatten geht. Kamen wir abends auf Besuch, musste erst jemand mit einer Taschenlampe aus dem fünften Stock herunterkommen, uns holen und ins Finstere hinauf vorausgehen. In den Stiegenhäusern gab es kein Licht, wie auch die Gassen und Boulevards der in zeitloser Zerrüttung erstarrt wirkenden Stadt großteils unbeleuchtet waren. Und manchmal, wenn die Batterien leer wurden, hat uns ein Feuerzeug oder eine immer wieder verlöschende Kerze den Weg nach oben gewiesen, wo der kranke Großvater in den letzten Jahren mehr gelegen als gesessen ist.

„Der Tabak,“ sagte Doktor Spahiu, „ist wohl die Todesursache Nummer eins in diesem Land, und ich scherze nicht, wenn Sie das meinen.“

Ich schreibe dir also, i dashur, mein Lieber, und überschreite damit die von dir über die letzten Jahre hinweg sorgfältig errichtete und instandgehaltene Grenze. Voreilig vielleicht. Ich erzähle dir dein Leben, soweit ich es kenne, als würdest du dich selber nicht kennen. Das ist befremdlich, und ich versuche es nur, weil du mich darum gebeten hast. Womöglich bereust du es schon. Es hat aber ernstgemeint geklungen. Du würdest so viel vergessen, hast du gesagt, alles vergessen. Ob ich den Damespieler kenne, der blind simultan spielt. Eines Tages war sein Hirn voll mit Partien, Brettstellungen, er wusste nicht mehr, wer er war. Du spielst nicht Dame, spielst den Herrn. Ob ich unser gemeinsames Da-sein noch einmal vor dir ausbreite, ich könne das, wir seien doch miteinander aufgewachsen, doch mehr als Geliebte gewesen, mehr geblieben. Mir ist vorgekommen, als hörte ich mich aus deinem Mund reden, so sehr hat es mich an das erinnert, was ich früher zu dir gesagt habe.

Halb drei in der Nacht ist es gewesen. Seit mindestens fünf Jahren hatten wir nicht miteinander gesprochen. Ob du getrunken hättest, habe ich dich gefragt, und du hast zaghaft „Nur ein wenig“ geantwortet, nicht viel, bist einen halben Satz später empört gewesen, für wen ich dich denn hielte, einen Säufer, einen, der sich eine verflossene Liebe nur anzurufen traut, wenn er betrunken ist! Genau deswegen hättest du angerufen. Um zu erfahren, für wen ich dich halte. Und ich solle dir zuliebe nichts ausklammern. Aus einer Bar hast du mich angerufen, einem Tanzlokal, ich habe die Musik hinter deiner Stimme gehört. Verzweifelt hast du geklungen, grundlos verzweifelt. Objektiv gesehen geht es dir gut, hast du ein paar Mal betont.

Die Grundlosigkeit deiner Verzweiflung hat nichts Unangemessenes an sich gehabt. Unangemessen ist, dass ich mir seit dem nächtlichen Gespräch unversehens wieder Sorgen um dich mache. Sorgen, die ich eine Weile nicht mehr gehabt habe. Länger als ein paar Jahre kann man sich nicht um einen Mann sorgen, der sich nie meldet. Kaum meldet er sich aber ein einziges Mal, hat er mich schon wieder. Ich fühle mich verantwortlich für sein Wohlergehen. Man müsste die Gabe haben, die Distanz zwischen sich und anderen nicht unabsichtlich auf Null schrumpfen zu lassen.

Nach dem Schrecken, den du mir in der Nacht eingejagt hast, bist du jetzt nämlich wieder nicht mehr erreichbar, wie du dich eben vorher jahrelang unerreichbar gemacht hast. Dass ich gleich angefangen habe, dir zu schreiben, hat auch damit zu tun. Als könnte ich deine Gegenwart kontrollieren, indem ich deine Vergangenheit beschreibe. Jedenfalls kontrolliere ich meine. Es ist ja ganz leicht, alles zum Guten wenden, mit einer Kraft, die Tempel niederreißt und wieder aufbaut, in drei Tagen, wenn es sein muss – hier zitiere ich jemanden, der mich sehr beeindruckt. Ich hab also den Mund aufgemacht, jetzt muss ich ihn zumachen, das Versprechen halten, das er gegeben hat.

Draußen hängt der Nachbar die Wäsche auf, im Garten, auf einem zusammenklappbaren Wäscheständer. Oft beuge ich mich spät nachts aus dem Fenster und sehe kaum zwei Meter von mir entfernt diesen Mann, wie er die Wäsche auf den Ständer hängt, die Stoffstücke sorgfältig über den dünnen Metallstäben ausbreitet. Oft breite ich gleichzeitig meine eigenen Blusen auf meinem Wäscheständer aus, drinnen in der Wohnung, vor dem Küchenkasten, gleich neben dem Herd. Wenn die Wäsche vor dem offenen Fenster trocknet, riecht sie besser. Oft ist es halb zwei, wenn der Nachbar und ich gleichzeitig unsere Wäsche aufhängen, kaum zwei Meter voneinander entfernt, aber doch ganz woanders. Im Sommer, wenn es heiß ist, hat er kein Hemd an, steht mit bloßer Brust im Garten vor seinem Wäscheständer. Manchmal grüßen wir uns. Meistens nicht. Ich weiß nicht einmal, wie er heißt. So wie du damals in deinem Zimmer, hänge ich jetzt in meiner italienischen Garconniere die Leintücher über offene Türen. An Waschtagen kann ich keinen Besuch empfangen.

Der Garten des Nachbarn erinnert mich an euren Garten in Tirana, den Hinterhof, in dem wir all die Sommer verbracht haben. Wo wir monatelang kaum etwas getan haben, nur im Garten gesessen sind, manchmal Feigen von den Bäumen geholt haben oder Khakis – sonst nichts. Ich weiß nicht, warum man das verlernt und ob man es sich wieder beibringen kann, in den Sommern monatelang in Gärten zu sitzen. Aber die Mehrzahl ist bereits ein Fehler. Ein Garten muss es sein, ein einziger. Der Nachbar ist nicht von hier. Vielleicht muss ich deshalb an dich denken, wenn ich ihn sehe, unter meinem Fenster, ohne ihm je begegnet zu sein.

 

Uppsala, 22. August 2007

Da sitze ich in einem schwedischen Hotel, ein Kloster ist es eigentlich, und bemühe mich um Vollständigkeit. Aber nur einzelne, fast vergessene Geschehnisse fallen mir ein. Ab und zu, in unerwarteten Momenten stürmen sie auf mich ein, ich komme mit dem Stift kaum nach. Ich bin hier auf Dienstreise. Wir kontrollieren den Schwermetallgehalt der Küstengewässer. Es ist keine schwere Arbeit. Seekrank bin ich noch nie geworden. Die Kollegen sind nett, ziemlich wortkarg, aber das stört mich nicht, weil ich sowieso ständig überlege, was ich dir noch schreiben will. Es ist, als hätte ich einen unsichtbaren Freund, seit ich dir schreibe. An invisible friend. Eine Art Idealzustand eigentlich. Ob es dir nützt? Ob du dich besser fühlen wirst, wenn du das liest, die Futzerl Vergangenheit, die ich dir hinhalte, dir helfen werden, dich selber wieder zusammenzusetzen? Du redest wie Schnee, hast du manchmal zu mir gesagt, wenn dir unklar war, was ich meinte, oder wenn es wieder einmal ganz unfriedlich gewesen ist zwischen uns. Zum Glück machst du ab und zu einen Schneeball daraus, hast du hinzugefügt.

Wie wir in den blühenden Märzenbechern gelegen sind, in der Wiese zwischen den Hochhäusern. Wie du mir diese rosa Jacke mitgebracht hast und die Bluse mit dem seltsamen Verschluss am Rücken. Kein Tag verging ohne einen leidenschaftlichen Streit; jeden dritten hast du mich „für immer“ verlassen. In den dramatischsten Augenblicken habe ich laut gelacht, als führten wir ein Stück auf, das ich später jemandem erzählen würde, und brachte dich damit noch mehr in Rage. Zugleich Schauspieler und Publikum, betrachtete ich uns aus dem Zuschauerraum, wie eine von mir selber eigens dafür erfundene Figur, eine Marionette, zwar leidensfähig, aber unverwundbar und unsterblich.

Freilich gerät das Stück zu Episoden. Ständig wird der Vorhang auf und zu gezogen, in den ungünstigsten Momenten. Wenn man etwas wirklich ernst meint, gerät es oft komisch. Unfreiwillig wird man zum Clown. Die Tränen betrachten Beobachter als aufgeschminkt. Dabei ist es alles andere als spaßig. Witzig höchstens, und nur deshalb, weil der Witz eine Form ist, das Unaussprechliche besprechbar zu machen. Ja, du fehlst mir. Wärst du aber da, bei mir im Zimmer, würdest du mir wieder zuviel werden.

Nur mit dir ist es mir einmal gelungen, mich vor Lachen zu übergeben. Wir sind erst weit nach Mitternacht heimgekommen, die Sonne ist schon wieder aufgegangen. Schon im Stiegenhaus haben wir sehr gelacht. Drinnen sind wir lachend aufs Bett gefallen. Vermutlich hast du mich auch gekitzelt. Freiwillig hast du dich erboten, das Erbrochene aufzuwischen, das Bettzeug abzuziehen, während ich mit leerem Magen weiterlachte.

Ich suche nach dir in anderen, meine, dich zu erkennen. Jemand mit einem mir bekannt vorkommenden Gang auf der Straße. Du bist es natürlich nicht. Dein Rauchen hat mich immer gestört. Dass bei uns alles nach Zigaretten gestunken hat, besonders du. Da kann ich gleich mit einem Aschenbecher schmusen, habe ich gesagt, und du bist beleidigt gewesen. Manchmal kaufe ich mir jetzt Zigaretten. Ich zünde eine davon an. Vor dem offenen Fenster halte ich sie zwischen den Lippen, nehme den Rauch in den Mund, atme ihn auf die Straße hinaus. Die restlichen Zigaretten schenke ich her.

Einmal habe ich dich mit Eis beschossen. Wir sind im Kaffeehaus auf einer Terrasse gesessen, und du hast mich aufgeregt, wie nur du mich aufregen kannst. Da ist mir in den Sinn gekommen, den Löffel umzudrehen, auf deinen Mund zu zielen. Das Eis ist dir über die Wange geronnen. Du warst in deiner Ehre gekränkt. Dabei hätte gar keiner bemerkt, was passiert ist, wenn du nicht zu schreien angefangen hättest. Ein anderes Mal war es eine Torte. Ich hatte es mir romantisch vorgestellt, jemandem ein Stück Torte ins Gesicht zu drücken. Deine Auffassung von Romantik war anders.

Unlängst bin ich seit langem wieder einmal bei ihr auf dem Heuboden gewesen, habe unsere Schachteln betrachtet, die seit fünf Jahren unberührt da oben stehen. Mir Schiefern eingezogen. Im Staub geniest. Fast als ahnte ich, dass du anrufen würdest. Sie hat nach dir gefragt. Ja, sie fragen immer noch nach dir. Insbesondere sie, meine Kindheitsfreundin; wir kennen uns, seit wir sieben waren. Sie hat dich gern gehabt, hat sich vermutlich mehr mit dir befreundet gefühlt als mit mir. Seit du weg bist, muss sie sich mit mir begnügen. Das tut sie gern, sagt sie, ich wäre ruhiger geworden. War ich früher unruhig? An deiner Seite? Sie benutze den Heuboden als Depot für ihre vagabundierenden Freunde, sagt sie, und dass ich nichts wegholen muss, alles lassen kann, mich von nichts zu trennen brauche. Sie meint es ernst, streicht sich ihre blonden Haare zusammen, bündelt sie über die Schulter nach vorne. Du kennst sie ja. Ich will mich aber trennen. Zwei, drei Koffer, die alten Schi und das Aquarium habe ich ihr für den Flohmarkt überlassen. Was ich mit deinem Zeug machen soll, weiß ich nicht. Damals bist du einfach gefahren, hast kaum etwas mitgenommen. Geärgert hat mich das besonders, weil ich es bewundert habe. Wie du gegangen bist, die Hände – leer – in den Hosentaschen.

Da oben auf dem Heuboden habe ich die Zettel gefunden, deine Zettel. Das klingt wie aus einem Heimatfilm, Halm ist am Heuboden aber keiner zu finden, statt dessen eine Modelleisenbahn inklusive Lokomotive, Schienen und zentimetergroßen Plastiktannenbäumen. Ein mit einem bunten, glänzenden Band zusammengebundenes Paar Plüschtiere, ein Esel und ein Hase. Das sind wir beide. Die Kindheitsfreundin hat sie uns geschenkt, als wir in unsere erste gemeinsame Wohnung eingezogen sind, ein gutes Geschenk von einer guten Freundin! Die Schischuhe meiner Großmutter. Mit denen hätte ich mir einmal fast die Knöchel gebrochen, als ich neue Schi ausprobierte, am Hang hinter dem Heuboden. Weißt du das noch, oder war das nachher, warst du da schon weg? Die verstaubten Koffer trage ich auf den Sperrmüll und auch den Rest, falls beim Flohmarkt etwas übrig bleibt, auch deine Sachen. Falls du etwas dagegen hast, lass es mich wissen. Die Zettel lege ich dir bei. Ich bring es nicht übers Herz, sie einfach wegzuschmeißen.

Gott ist ein großer Individualist schriebst du zum Beispiel im Juli 1996. Mehr nicht. Schreiben kannst du erst, wenn du Ruhe hast, hast du damals gesagt. Ich habe keine Ruhe, habe immer viel geschrieben, deshalb. Wie immer, genau im Gegensatz zu dir, wenn du „weiß“ gesagt hast, habe ich „schwarz“ gesagt, und während du nur warten kannst, kann ich alles außer warten. Non lasciar perdere ogni tenerezza, anche in pochi si vince, magari non le guerre ma le vite … Das war im August 1997.

Unterwegs zum Bahnhof habe ich vorhin auf einer berstenden Mauer eine Zeichnung gesehen, eigentlich eine Malerei. Über den Riss war ein großes Pflaster gemalt. Es hat ausgeschaut, als wäre es echt, als würde es wirklich die Ränder einer Wunde zusammenhalten. So überzeugend, wie das Pflaster gezeichnet war, hält die Mauer bestimmt noch lange. Es hat geregnet und alle sind vom Strand heraufgerannt, haben sich Badetücher über die Köpfe gehalten, Strohtaschen vor die Brust, sind zum Zug gelaufen, den man von der Hauptstraße aus stehen gesehen hat. In einem Durchgang zu einer Seitenstraße ist unter einem Torbogen ein Paar gestanden. Die Frau im geblümten Kleid, er vor ihr, seinen Rücken gegen die Straße gerichtet, ein Schutzschild vor dem Anderen, den Vorbeigängern. Von der nassen Hauptstraße aus beobachtete ich, wie die Leute in den Zug stürmten. Die beiden im Durchgang stellten sich näher zusammen, blieben dort, nahmen den Zug nicht. Ich bin gerannt, um ihn nicht zu versäumen.

Im Zug habe ich mich nicht hingesetzt, wollte keinen neben mir haben, bin stehen geblieben. Mir gegenüber ist ein Herr gestanden, der ein Hemd voll winziger Menschlein anhatte. Manche davon mit Hörnern und Kreuzchen anstelle der Gesichter.

Während ich stand, mich an einer Stange festhielt, um nicht umzufallen, habe ich an das Lied gedacht, das du nie mochtest, das wir immer nur gehört haben, wenn ich dran war, Musik aufzulegen:

„Ich schwor einen goldenen Eid,
dass uns nie was entzweit,
hab meine Liebe gut verschlossen
und dann ihr Herz gebrochen,
das älteste traurige Gefühl,
die Felder weich und grün,
wer in Erinnerungen räumt,
ist unschuldig, wenn er träumt,
lass rennen über den Friedhof
meinen Liebling, die Freunde und mich,
geloben, dass nichts uns wird verderben,
bis dass wir alle sterben…“

 

Uppsala, 23. August 2007

Flüchtlinge sollten besser keine Mütter haben, hast du gesagt, die sorgten sich zuviel. Als du im Frühjahr 1991 über die Mauer der italienischen Botschaft geklettert bist und fünf Tage lang nicht mehr aus dem Hof herauskamst, der dahinter lag, ist deine Mutter über Nacht ergraut. Das war dein erster Fluchtversuch. Am Morgen des sechsten Tages bist du wieder heimgekommen und hast eine weißhaarige Frau in der Küche vorgefunden. Am folgenden Tag hat sie sich die Haare gefärbt. Niemand weiß, dass sie weiß ist, unter der Farbe. Glänzend schwarz wie die deinen sind ihre Haare vorher gewesen. Du bist der einzige, der sie je weiß gesehen hat. Seither färbt sie immer rechtzeitig nach. Flüchtlinge hätten besser keine Mütter, hast du gesagt, und ich habe mir gedacht, aber wer würde dir dann Geld schicken? Flüchtlinge hätten besser keine Söhne, hätte ich gesagt. Außer diese schickten ihren Müttern Geld. Wie ein Flüchtling hast du aber sowieso nicht ausgeschaut, eher wie ein Rockstar auf Urlaub, der versucht, Volleyballer zu werden, aber man weiß schon, und er weiß es auch selber, dass das nichts werden kann, weil er zu sanfte Hände hat.

Wir sind unter der Brücke am Fluss gesessen, haben Eis gegessen, auf die Häuser an der gegenüberliegenden Seite geschaut, das Haus, in dem ich damals wohnte. In dem Haus daneben hat einmal ein berühmter Komponist gewohnt, zwei Wochen lang. Es steht auf einer Tafel, die an die gelb gestrichene Mauer genagelt ist. Du hast mir erzählt, dass du musizieren kannst, Gitarre spielen und Geige, wie deine Mutter, und dass du Italienisch sprichst, deine Mutter übrigens in Mailand lebt, hast gefragt, ob ich in der Schule Italienisch lernte. Auch singen könntest du, hast du hinzugefügt, ohne meine Antwort abzuwarten, und nach einer kleinen Pause gemeint, das würdest du mir aber nicht vorführen. Ich habe gesagt, dass da mein Vater aus der Haustür tritt, gegenüber, am anderen Ufer des Flusses. Er hielt einen Hund an der Leine. Und gleich habe ich auch verraten, dass das mein Hund ist, den mein Vater da hinauslässt. Du bist ziemlich erschrocken, als änderte das etwas, bekäme unser Sitzen am Fluss auf einmal eine andere Bedeutung, weil aus dem Haus gegenüber gerade mein Vater getreten war.

Du warst der erste Albaner, den ich kennen lernte.
Beim vierten Versuch ist dir die Flucht gelungen.

Das hätte ich dir, ganz ehrlich gesagt, nie zugetraut. Traue ich dir nicht zu, obwohl ich weiß, dass du es getan hast. Wie ich dich kannte, warst du ein anderer. Keiner, der nachts über Grenzen rennt. Sich erschießen ließe für so einen Spaziergang. Das sei Unsinn, meintest du, bei uns werde niemand an der Grenze erschossen. Uns hast du gesagt, kurz bevor du weggegangen bist, hast dich dazu gezählt. Dein Vertrauen in „uns“ in Ehren, ich wäre mir da nicht so sicher. Du hättest es leicht gehabt, hast du gesagt, leicht im Vergleich zu den ersten, die geschwommen waren. Du seist ja mit dem Flugzeug gekommen.

Da war eine Frau, hast du gesagt, der ist es geglückt. Sie ging hinüber, schon lange vorher, in den achtziger Jahren, gelangte bis Amerika, Washington D.C., und erzählte dort, wie sie trainiert hatten, am Strand von Durrës, Durazzo, eine Gruppe von Freunden. Die übrigen sind untergetaucht, im kristallklaren Bad, nie mehr an die Oberfläche gekommen. Die Gedanken frei wie Delphine, schwammen sie ans andere Ufer, das eine Insel war und die Verbindung zur Welt. Bei sich nur, was sie am Körper trugen, ein Stück Stoff, eine Silberkette, einen goldenen Armreif, gerieten die meisten nicht weiter als einige hundert Meter vor die Küste bei Ksamil. Dort blieben sie und bleiben, hundert unbekannte Seelen zwischen Insel und Land, hängen an unter den Wellen gespannten Drähten, elektrisch geladen; oder sie wurden hinunterschossen wie Enten, ganz hübsche Enten, ungefiedert.

Vierzehn Sommer später schwammen wir. So nah die Insel, Kerkira, ein Leichtes, sie zu erreichen, sage ich. Erneut ist alles paradiesisch geworden über den Klippen, ein bisschen Klettern vor dem Absprung. Jetzt könnten wir hinüberschwimmen, wenn wir wollten. Unbewohnt und leer tagsüber, nachts sieht man die Lichter der Stadt, die Passagierschiffe aus Igoumenitsa, die nach Venedig fahren und Triest. Von den Schiffen aus sehen die Passagiere nur Berge, ein karges Land. Einmal standen wir beide nebeneinander an der Reling, auf einer Reise nach Patras, sahen die Sonne das Licht verschütten über den albanischen Hügeln, bis die Blaugraswiesen gelb wurden und gelbe Blätter durch die Luft schwebten.

Beim Nordtor blies der Wind voll Sand, einsam, vom Beginn aller Zeiten. Er erklomm Turm um Turm, das Land der Barbaren zu schauen, schauderliche Burgen und der Himmel: eine Wüste. Keine Wand schließt hier an die Mauern seines Dorfes an, nur Gebeine, weiß im Frost, bröselig, spröde geworden. Und Kummer, Kummer wie Regen. Und die Wächter des Tores an Tiger verfüttert. Nein, Kaimane. Gleichfalls: spitze Zähne. (August 1991)

Darüber, dass du es vier Mal probieren musstest, bis dir die Flucht endlich gelang, hast du selten geredet. Das erste Mal war am aufregendsten, hast du mir auf mein Drängen hin erzählt, obwohl du ja damals gar nicht aus Tirana hinausgekommen bist. Der ganze Innenhof der italienischen Botschaft muss voller Studenten gewesen sein. Ihr habt am Boden geschlafen und gefeiert. Überall wurde Pink Floyd hingesprüht. Led Zeppelin. Auch draußen in den Parks, auf die Sockel der Denkmäler, denen die Büsten fehlten. Die gestürzten Helden dienten als Material für die Fundamente der illegalen Kioske, die im Park aus dem Boden schossen, als hätte einer Saatgut für Verkaufsbuden gestreut.

Das zweite Mal fuhrst du mit einem der großen Schiffe. Wieder war das Ziel Italien, das vom Satellitenfernsehen hochgelobte Land. Du hast es sogar geschafft, echten italienischen Grund und Boden zu betreten. Kein digitaler Papst stand da allerdings bereit, dich mit offenen Armen zu empfangen. Weiter als ins Hafengelände von Bari ließen sie dich nicht vor, und nach drei Tagen wurdet ihr alle miteinander in ein anderes Boot gesetzt und zurückgeschickt. Das Schiff, mit dem ihr gekommen wart, schien den Italienern zu verrostet.

Das dritte Mal kamst du bis Ungarn. Du warst mit deinem Cousin unterwegs. Abi, der das schwere Magenleiden hat. In Budapest hat euch ein alter Kommunist verpfiffen. Du kanntest ihn noch von früher, aus Tirana. Er trug ein Röhrchen im Hals, durch das er atmete und sprach.

Das vierte Mal bist du problemlos bis zur ungarischösterreichischen Grenze gelangt. Du warst allein. Keinen Lärm machen, jetzt nicht. Es hat geschneit und geschneit, du bist weiter und weiter gegangen, bist gerannt, es hat weiter geschneit, und dann warst du da. Hier, meine ich. Darüber sind wir uns nie einig geworden, was da war und was hier. Weil bei mir alles da ist. Du warst also da. Hallo, hast du geschrien, here I am, I am here. Sie haben dich gut empfangen, hast du gesagt, bei den ersten Schritten im neuen Land. Dir eine Suppe gegeben, eine Decke. Nein, wie ein Flüchtling hast du nie ausgesehen, auch nicht mit der grauen Wolldecke um die Schultern, in die du dich nicht wickeln hast wollen, nur locker umgehängt hast du sie dir, wie die Schleppe eines Königssohns. So einer zu sein, hast du dir immer gewünscht. Oder vielmehr, wie so einer bist du dir vorgekommen, und mittlerweile denke ich, dass du recht hast und ein Recht darauf hast. Jeder darf sein, was er will, wenn er es gut macht, überzeugend. Unë jam shqiptar. Ich bin Albaner, hast du zur Grenzpolizei gesagt.

Großzügigkeit vor allem vermisse ich in Euren Bräuchen. Generous spirits. (November 1991)

 

Uppsala, 24. August 2007

Als ich dich zum ersten Mal sah, bist du auf einem Podium gestanden und hast das hässlichste T-Shirt im Saal getragen. Auf dem Podium habt ihr, Asylwerber unterschiedlicher Herkunft, um Hilfe geschrien. Aber gemäßigt, wohlerzogen. Schließlich fand die Veranstaltung im Pfarrheim statt.

Du seist verzweifelt, hast du dort oben auf dem Podium gesagt. Englisch hast du geredet und ziemlich laut. Du hättest studieren wollen, hast du gesagt, wolltest noch immer studieren, bei euch, hast du es genannt. Bei uns, habe ich gedacht. Und jetzt hast du eine Benachrichtigung bekommen, ein offizielles Dokument, dass du das Land verlassen musst. Morgen vielleicht schon. Springen würdest du, von einer dieser bezaubernden Brücken, die den Fluss querten, der durch unser bezauberndes Städtchen floss, hast du gesagt. Du warst damals 21, fünf Jahre älter als ich. Immerhin hatte ich damals eindeutige politische Vorlieben. Das meterhohe Poster des Zukunftsforschers Robert Jungk in meinem Zimmer hast du mich aber bald ersucht zu entfernen, du fandest es bedenklich, dass sich eine Sechzehnjährige einen alten Mann an die Wand hängt.

Nein, zum Narren halten will ich dich nicht, aber Narren sind wir gewesen, jeder auf seine Weise. Du auf dem Podium und ich unten, zwischen denen, die euch retten wollten. Wovor wir euch retten wollten, ist eine gute Frage. Zuallererst wollten wir uns retten. Vor dem schlechten Gewissen, wenn wir euch nicht retteten.

Kaum hatte ich dich bemerkt, hast du mich gestört. Wie du angezogen warst, der aufgedruckte Schriftzug „Scorpions“ und die bunten Silhouetten der Musiker darunter auf schwarzem Hintergrund; dein Haarschnitt, wie ein katalanischer Fußballer, vorne kurz, hinten lang. Mir gefiel ein anderer, ein Russe, der auch im Raum war, nicht am Podium, sondern zurückhaltend ganz hinten zwischen den Fenstern, an einen Heizkörper gelehnt. Mit ihm kam ich nicht ins Gespräch. Bald würdest du von der Brücke springen, hast du noch einmal gesagt, als du vom Podium herunten warst. So ein Bald bleibt hängen. Im Raum, in der Luft, im Gedächtnis. Bald. Wann ist bald? Wann findet bald statt? Von der Brücke direkt in den Fluss, hast du gesagt. Ich hab dir meine Telefonnummer gegeben, damit du mich anrufen könntest. Dann käme ich winken.

Mein Publikum ist der Mörder. Aber alle blickten schlussendlich leer vor sich hin. (Juli 1992)