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Eugenie Kain

Schneckenkönig

Eugenie Kain

Schneckenkönig

Erzählungen

O T T O   M Ü L L E R   V E R L A G

© 2009 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg
Umschlaggestaltung: Ulli Leikermoser, Salzburg
Umschlagfoto: © jhuth/PIXELIO
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Ain’t talkin’, just walkin’
Through the world mysterious and vague
Heart burnin’, still yearnin’
Walking through the cities of the plague

Bob Dylan

Oh Unvernunft, Unvernunft, Unvernunft.
Einen Reisenden zu sehen, ohne ihn auszufragen.

Sprichwort der Tuareg

Können Musen fliegen?

Eine Geschichte will geschrieben werden. Diese Geschichte will geschrieben werden. Die Geschichte vom Tankhafen und dem Tankschiff und der Tankwartin, die nach den Schiffen horcht. Vor allem die Geschichte dieser Frau will erzählt werden. Das Abendrot verfängt sich zwischen den spiegelnden Metallzylindern mit den Treibstoffreserven der Stadt, und der Tankhafen lodert auf. Sie sieht es nicht. Die Stromkilometer der Donau wickelt sie in Gedanken wie einen Wollfaden zum Knäuel, um ihn gleich wieder zu straffen: Wien, Bratislava, Budapest, Belgrad, das sind die Hauptstädte der Donau. Dazwischen und davor und danach Landschaften. Und Städte wie Linz. Nicht jede Stadt hat so einen Hafen. Und nur auf diesem gelb-grün gestrichenen Tankschiff sitzt eine Frau, die wartet und wartet und wartet. Wenn sie das Radio leiser dreht, hört sie, wie die Wellen an die Bordwand züngeln. Sie dreht das Radio nicht leiser. Die Tage und Nächte sind eintönig. Die Tage und Nächte sind lang. Die Palette mit den Bierdosen steht in Griffweite und die Dopplerflasche auch. Das sanfte Schwanken des Schiffes hat sich in ihr breit gemacht. Im Seemannsgang stöckelt sie durch das Leben. Vom Tankschiff über die Schienen des Hafengeländes zur Busstation. Von der Busstation in die Wohnung. Von der Wohnung wieder zum Tankschiff. An freien Tagen ins Stammlokal. Mit den Gedanken nie ganz bei der Sache. Ein Teil der Gedanken immer draußen bei der Freundschaftsbrücke, der letzten Donaubrücke, Stromkilometer 493.

– Das soll eine Geschichte werden? Kann das eine Geschichte werden? Schon am Anfang mangelt es an Präzision. Das Tankschiff ist ein Bunkerschiff. Binnenschiffe tanken nicht. Sie bunkern. Sie bunkern Treibstoff und Ersatzteile und andere Dinge, die Matrosen auf der Fahrt die Donau stromauf und stromab brauchen. Die Tankwartin ist keine Tankwartin, sondern die Geliebte des Tankstellenpächters. Er schwenkt den Zapfhahn. An den Treibstoff lässt er sie nicht heran.

Genauigkeit, meine Liebe, Genauigkeit. Stimmt das Detail nicht, wird die Geschichte nicht stimmig.

– Bunkerschiff. Wie das klingt. Auch Freundin des Tankstellenpächters klingt nicht gut. Das hat keine Melodie. Müsste es nicht Tankschiffpächter heißen? Warum lenkst du mich ab? Ich schreibe den ersten Entwurf dieser Geschichte. Du bist schon beim Endlektorat. Ich aber bin noch gar nicht im Schreibfluss. Ich wate im Uferschlamm. Diese Geschichte will geschrieben werden. Das ist nicht einfach. Von den Sätzen rutsche ich ab wie von glitschigen Steinen. Also Geliebte des Tankstellenpächters.

Der Tankstellenpächter ist Steirer. Er heißt Otto. In den Linzer Tankhafen hat es ihn zufällig verschlagen. Er hätte sich auch am Bodensee oder in Eisenstadt niedergelassen, wenn die Mineralölfirma dort nach einem tüchtigen und mutigen Mann für ihre Tankstelle verlangt hätte. Bier verkaufen, das Geld für den Sprit kassieren, Semmelteig in die Mikrowelle schieben, sich zu den Fernfahrern und kostenbewussten Trinkern aus der Nachbarschaft ins verqualmte Kammerl an den Stehtisch stellen. Kaugummidiebe überführen und insgeheim von überwältigten Räubern träumen. Eine gut geölte Walther in Griffweite. Wer Arbeit sucht, der findet sie.

Der Rest der Familie war längst in das Heimattal zurückgekehrt. Die Frau fühlte sich sicherer mit Bergen im Rücken und Bergen vor Augen. Die Kinder wollten in dieser selbstgefälligen Industriestadt nicht länger wegen ihres Dialektes gehänselt werden.

Zu den Feiertagen fährt er heim. Die Ferien verbringt er mit Frau und Kindern auf Almhütten und Skipisten. Er schickt Geld, für die Ausbildung der Kinder, den Unterhalt der Frau, für einen neuen Vorhangstoff oder praktische Bodendecker im Garten. Er telefoniert jeden Samstag Vormittag mit seiner Frau, sie ruft ihn Dienstagabend an. Sie werden sich nicht scheiden lassen.

– Du hast recht. Meine Schwester mit ihrem krankhaften Zwang zur Präzision ist unsensibel. Am Detail verbeißt sie sich und denkt nicht daran, was ein Bunkerschiff im Satzgefüge anrichten kann. Am Text und an den Worten kannst du feilen bis zum Schluss. Während der Arbeit an der Erstfassung, am Endmanuskript und an den Korrekturfahnen. Aber die Melodie muss stimmen. Von Anfang an. Der Steirer an der Donau, die Familie in den Bergen und die Geliebte, die sich in Gedanken in Städten an fernen Stromkilometern herumtreibt und wartet. Hast du deinen Grundton gefunden? Welchen Grundton schlägst du an? Noch höre ich nichts. Mit Gummistiefeln stapfst du übers Feld, mit derben Schuhen. Unter den Sohlen klebt Erde. Das gibt keine Melodie. Wenn du den Text nicht zum Schwingen bringst, bleibt deine Geschichte totes Wortmaterial.

– Mir schwebt ein Grundton vor. Ein Grundton, der anschwillt und sich wieder zurücknimmt mit der Stimme der Donau und dem Wind, der aus den Bergen auf das Land fällt …

– Ich gebe meiner Schwester recht. Ich weiß, dass du unmusikalisch bist und keine gute Tänzerin. Mit dem plumpen eins – zwei – drei, mit dem du beim Walzertanzen herumsteigst, wirst du auch beim Schreiben keinen Schwung in den Text bekommen. Leichtfüßig musst du schreiben – natürlich meine ich leichthändig, damit mir die Schwester nicht wieder mangelnde Präzision vorwirft, leichtfüßig, leichthändig. Tanze mit den Donaunebeln und den Wellen und den Schneefahnen und den Kondenswolken aus den Schloten. Tanze, tanze, tanze, sieh zu, dass deine Geschichte zu schwingen beginnt. Nur so kann sie berühren.

Die Geliebte hilft ihm. Tag für Tag. Nach fixem Dienstplan verkauft sie Dosenbier, Wodkaflaschen, Schokoriegel und Zeitschriften mit nackten Frauen. Er stellt sie nicht an. Soviel trägt das Geschäft nicht. Bei den Bieren ist er dafür großzügig und bei den Dopplern und den Ferrero-Küsschen. Sie denkt nicht an fehlende Versicherungszeiten. Sie wartet. Sie hält Ausschau nach Schiffen mit rumänischer Flagge. Sie hält Ausschau und träumt von Răsvan aus Giurgiu.

Răsvan aus Giurgiu. Den hatte ihr der Krieg gebracht. Nein, der Krieg hatte ihn nicht gebracht. Aber er hatte ihn festgehalten. Hier in Linz und lange genug, um ihm nahe zu kommen. Răsvan auf seinem Schiff, das nicht ihm gehörte, aber für das er Verantwortung trug, solange die Donau nicht schiffbar war. In Novi Sad ließen die Trümmer der bombardierten Brücken im Wasser eine Weiterfahrt in den Heimathafen nicht zu. Mannschaften lassen sich ausfliegen, Schiffe nicht. Der Reeder befahl zu warten.

Es war ein Glück, wie sie es zuvor noch nie empfunden hatte, als der Mann mit Zinkennase, blauen Augen und braunen Locken auf dem Tankschiff im Regal mit den Konserven stöberte. Die großen Hände entschieden sich für einige Büchsen Ölsardinen, Bohnensuppe, Rindsgulasch und den Aktionswodka. Ich bin ein einsamer Mann hier, sagte er. Wie heißt du? Sie hieß Maria. Niemand nannte sie Maria. Dieser Name war ihr fremd. Ein Kosename aus der Kindheit hatte ihren Namen verdrängt und war bei der Fünfzigjährigen geblieben. Ich heiße Mädi, sagte sie. Mädi, sagte Răsvan, ein schöner Name. Und Mädi wusste, dass sie zupacken musste, sofort, weil die Donau nur einmal so eine Liebe herantragen würde. Sie zupfte das Dekolleté ihres Angorapullovers zurecht und verrechnete für die Ölsardinen keinen Groschen.

– Präzision, meine Liebe, habe ich eingefordert, und Genauigkeit, aber Genauigkeit heißt nicht, die Wirklichkeit eins zu eins abzubilden. Eine Geschichte ist keine Fotografie. Mädi vom Tankhafen verliebt sich in einen rumänischen Matrosen und Otto schaut zu, weil er weiß, der Matrose wird sie wieder verlassen. Strandgut wird angeschwemmt und fortgerissen. Wo bleibt die Fantasie? Du bist im Begriff, die Lebensgeschichte deiner Nachbarin nachzuerzählen.

– Warum lässt du mich nicht in Ruhe arbeiten? Ich habe nicht vor, die Lebensgeschichte meiner Nachbarin zu erzählen. Von ihr stammen nur der Name und die Arbeit auf dem Tankschiff …

– Bunkerschiff. Und Otto und die Vorliebe für Angorapullis mit tiefen V-Auschnitten … Zur Zeit geht das Schreiben ja sehr zäh voran bei dir, sonst wärst du wahrscheinlich schon bei der Vergangenheit von Mädi, ihrer Kindheit, dem Aufwachsen als Sandwich-Kind und der Jugendlichen, die mit sechzehn Mutter geworden war.

– Lass mich in Ruhe. Von Mädi will ich erzählen und von Răsvan und dem Warten auf ihn. Dem Warten auf dem Schiff. Dem Warten im Tankhafen. Răsvan hatte nicht gesagt, dass er wiederkommen wird. Sie aber dachte, genau das beim Abschied in seinen Augen gelesen zu haben. Ich möchte in Ruhe schreiben. Ohne Einflüsterung. Bitte.

– Schwestern, ich denke, wir sollten sie küssen. Es ist doch eine Qual, ihr bei der Arbeit zuzuschauen. Sie schreibt drei Sätze, löscht zwei davon wieder, schreibt neue Sätze, löscht den ganzen Absatz. So wird das keine Geschichte.

– Küssen? Einen Stoß sollten wir ihr geben, einen Tritt, damit sie weiterkommt. Sie braucht Bewegung. Sie hat sich verrannt …

– Ihr habt recht. Sie muss hinaus. Weg vom Notebook, hinaus in die Natur. Ein Blick in den Sternenhimmel, ein Blick aufs schwarze Donauwasser wird sie auf neue Gedanken bringen. Merkur ist mit freiem Auge zu sehen, im Altarm beim Segelflugplatz baut ein Biber seinen Damm, der einzige Biberdamm der Stadt liegt im Industriegelände, der Eisvogel schaukelt auf den Weidenzweigen an der Uferböschung, und die Hasen auf dem Segelflugplatz sind neugierig und fast zahm.

– Schwester, du auch hier? Du willst neue Gedanken. Biber, Eisvogel, Hasen und Sternenhimmel in der Geschichte? Das kann ja eine Geschichte werden …

In der Kajüte roch es nach Diesel. Ein Ölofen mit defekter Lüftungsklappe ratterte in der Ecke hinter der Türe. Die Vorhänge waren zur Seite gezogen. Răsvan war auf der Hut. Er trug die Verantwortung für das Schiff. Răsvan trug auch einen Ehering. Sie spürte ihn, als seine rechte Hand mit ihren Brüsten spielte. Mädi schloss die Augen. Sie fragte nicht nach dem Ring und nicht nach Răsvans Vergangenheit, nach seinem Leben in dem anderen Land. Was zählte, war die Gegenwart. Es galt der Gegenwart möglichst viel Zeit einzuräumen. Mädi warf sich auf Răsvan. Das Bett knarrte. Răsvan stöhnte. Sie war glücklich.

Răsvan summte. Im Rhythmus hörte sie den Ruderschlag einer Zille. Die Ruderblätter tauchten ins Wasser, schoben die Zille an, tauchten wieder ins Wasser und schoben. Ein einfaches, offenes Lied. Draußen vor dem Kajütenfenster sickerten die Glutfarben des Hochofens als roter Schein in den Nachthimmel. Das Schiff lag still, nur aus den leeren Laderäumen drang manchmal ein metallisches Knacken.

– Ratten?, fragte sie.

– Flussgeister, sagte Răsvan. Keine Angst, sie werden mich nicht ewig hier festhalten.

– Ich habe geträumt, sagte Mädi am Morgen, als sie fröstelnd in der Kombüse saßen und auf das Gurgeln des Wasserkochers warteten. Ich träume selten. Im Morgengrauen sind wir über den Flugplatz geschlichen. Ständig sind uns brummende Hasen vor die Füße gelaufen und an uns hochgesprungen. Es war nicht leicht, zum Hangar mit den Motorseglern zu gelangen. Ich setzte mich ans Steuer. Es war nicht mein erster Flug. Wir flogen über das Industriegelände, durch die gelben Nebel des Chemieparks und die weißen Dampfwolken des Stahlwerkes. Wie in Giurgiu, hast du geschrien. Dann hast du mir ohne zu fragen ins Steuer gegriffen. Der Wind knatterte an den Tragflächen. Wir folgten der Donau in die Ebene und segelten auf die Sonne zu. Wir waren nicht allein im Flugzeug. Ich hörte Frauenstimmen, die aufgeregt durcheinanderredeten. Es war niemand zu sehen.

– Können Musen fliegen?

– Schweig!

Das Leben ein Fest

Er ist immer dagestanden. Von der Gruberstraße aus war der Baum zu sehen. Im Frühjahr strahlte das weiße Blütenhaupt, im Frühsommer grüßten rote Früchte und im Herbst warfen gelbe Blätter warmes Licht auf kältere Tage. Dann war aus der Brache der ehemaligen Gärtnerei ein mehrgeschossiges Gebäude emporgewachsen – zwei ineinander verschobene, unterschiedlich hohe Quader für Büros und Wohnungen – und die Sicht auf die dahinterliegende Häuserzeile mit ihren Gärten war verstellt. Im Vorbeifahren ein schneller, schräger Blick in die Lederergasse. Vor das Küchenfenster der Großmutter hatte sich eine Betonwand geschoben. Von der Kreuzung aus gab es keinen Sichtkontakt mehr. Doch der Baum war nicht ganz hinter der senfgelben Fassade verschwunden. Einige Äste streckten ihr dichtes Blattwerk zu den Trichterwinden und Kletterrosen am Maschendrahtzaun des Nachbargartens, an dem vorbei Passanten zur nahen Frauenklinik hasteten.

Es ist nicht leicht, die Geschichte eines Baumes in Erfahrung zu bringen. Bäume stehen da. Immer ist er dagestanden. In diesem Fall heißt das: seit 1956. Die Großmutter holte den Setzling von einem Kriegsblinden, der wie sie in der Tabakfabrik arbeitete und einen Schrebergarten an der Donau gepachtet hatte. Meine Tante war dabei. Sie war damals zehn Jahre alt und genauso groß wie das Bäumchen. Als ausgewachsener Kirschbaum wurde er zur Sonne im Gartenkosmos. Er war der Besitz und das Heiligtum der Großmutter. Er war das, was die anderen nicht hatten.

Der Baum trug reichlich und verlässlich. Feste, leuchtend rote Früchte mit gelbem Fleisch, süß, ein Hauch würziger Säure und beim Kern herb. Eine alte Sorte, vermutlich die „Große Prinzessin“ oder „Schneiders späte Knorpel“. Die Kirschen waren widerständig gegen Schädlinge, empfindlich bei Regen und wehrlos gegen Amseln und Nachbarn. Die Amseln waren ständig um den Baum und die Nachbarn rückten an, wenn die Großmutter in die Fabrik zur Arbeit ging – zumindest war die Großmutter überzeugt davon und hatte in der zweiten Junihälfte keine ruhige Minute, bis alle Kirschen in Einmachgläsern in Sicherheit gebracht waren. Schwiegersöhne, der Bruder, männliche und weibliche Enkel mussten hinauf auf die Leiter, mussten hinauf auf den Baum, auf spröde, von Ameisen überlaufene Äste, und wurden von der sonst Überfürsorglichen ermuntert, im Zweifelsfall noch höher zu steigen und noch weiter hinaus, um auch noch den äußersten Zweig mit seiner Handvoll Kirschen zu angeln.