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Daniela Schenk

Diejenige

welche

Roman

Ulrike HELMER Verlag

Brandlöcher in der Jacke

Ich verfalle ihr im ersten Moment, so wie Wespen dem Bier verfallen, wie Ziegen dem Salz oder Motten der Glühbirne – ohne jegliche Chance zu entkommen. Es geschieht am Nachmittag an einer Bushaltestelle, als ich das tue, was man dort für gewöhnlich und unfreiwillig so tut: warten. Die Septembersonne wärmt meinen Rücken, der Verkehrslärm pustet mir seinen Benzinatem ins Gesicht. Mein Kaugummi hat jeden Geschmack verloren, ich schiebe ihn missmutig im Mund herum, bin aber zu faul, ihn in den Abfalleimer zu werfen. Ich halte meine Gedanken an der langen Leine, sie schnuppern hier und dort, bisweilen jagen sie einander.

Ja, und dann geht die Frau an mir vorbei. Sie beachtet mich nicht, ich bin für sie vermutlich so etwas wie eine Straßenlampe – völlig unbedeutend, aber ausweichen muss man ihr trotzdem. Als erstes fällt mir ihr eigentümlicher Gang auf, ihr rechtes Bein scheint sich jedes Mal ein bisschen zu verspäten, gerade so viel, dass ihr Schritt dadurch eine besondere Note erhält. Ich habe schon paar Menschen hinken gesehen – aber bestimmt noch nie auf eine solch anziehende Weise: Bei ihr wird das Hinken zum unentbehrlichen Accessoire einer attraktiven Frau.

Meine Gedanken hören auf zu schnuppern und kommen bei Fuß, gemeinsam verfolgen wir, wie die Frau vor dem Fahrkartenautomaten ihr langes, dunkelblondes Haar zurückwirft und in ihrer Tasche kramt. Ich sehe sie genauer an. Sie ist etwas größer als ich, zart, aber schwungvoll geformt. Die Füße stecken in braunen Lederstiefeln, ihre Hände scheinen mit der Luft zu spielen. Am meisten fasziniert mich aber ihr Mienenspiel. Ihr Gesicht gleicht einem Löschblatt, das auch die kleinsten Gefühlsflecke aufsaugt und abzeichnet. Einmal ist es glatt wie ein frisch bezogenes Bettlaken, das herrlich duftet; ein anderes Mal unordentlich, als hätte jemand ihr die Gesichtszüge in Teile zerschnitten und munter vermischt; dann wieder tollt ein neugieriges Mädchen darin und eine Großmama schaut geduldig zu, bis eine lebhafte Schönheit die beiden verscheucht. Ihre Lippen sind immerzu in Bewegung, als würden sie die Gedanken und Gefühle lautlos kommentieren. Vermutlich ist es ein schön geformter Mund, doch um das herauszufinden, müsste die Frau ihn einen Augenblick ruhig halten. Ich schaue gebannt, ich schaue entzückt: Dieses Gesicht, diese Frau ist ohne Zweifel von überraschender Schönheit.

Zum ersten Mal in meinem Leben hoffe ich, dass der Bus noch lange nicht kommt, damit ich die Frau ausführlicher beobachten kann. Sie mustert befremdet den Automaten, fährt mit dem Finger über die Liste der Haltestellen. Gerunzelte Stirn. Sie wird fündig und drückt zwei Knöpfe. Während sie das Kleingeld zählt, beißt sie sich auf die Unterlippe. Die Fahrkarte wird knatternd gedruckt, ihr Gesicht glättet sich und erstrahlt.

Wenn ich sie noch lange aus diesem schrägen Blickwinkel heraus mustere, wird mein Körper in dieser Position einrasten. Die Frau hätte mir dann für immer den Kopf verdreht. Ich würde an einer Nackenstarre leiden, die kein Chiropraktiker je wieder wegbrächte. Ich müsste seitwärts gehen, um vorausschauen zu können. Niemand könnte mich mehr ernstnehmen, ich würde vereinsamt sterben und das nur, weil ich eine einzigartige Frau unbemerkt beobachten wollte.

Man muss aufpassen. Grundsätzlich und ganz besonders, wenn man eine Frau ins Visier nimmt. Es ist denkbar ungünstig, Gefallen an einer Wildfremden zu finden, da man sie wahrscheinlich nie mehr wiedersieht.

Der Bus rollt heran. Sonst steht man sich hier die Beine in den Bauch, aber dieses eine Mal, da er sich alle Zeit der Welt nehmen könnte, hält er auch schon quietschend vor mir. Bevor ich Fahrradbesitzerin wurde, habe ich an dieser Station mein halbes Leben verwartet, habe Autofahrer beobachtet, die diese Straße aus unerfindlichen Gründen mit einer Rennstrecke verwechseln. Ich kenne jede Platane, jedes Graffiti und jeden Junkie, der bei Rot über die vierspurige Straße hastet; die Eisenbahnbrücke mit ihren schrill quietschenden Zügen, dahinter die Reitschule, die seit den Achtzigern von Linken und Autonomen betrieben wird. Ich kenne das hektische Kommen und Gehen in der Drogenanlaufstelle, den Sicherheitsmann, der über dem Chaos wacht und gleichzeitig so tut, als würde ihn das Treiben nichts angehen. Er steht unbeweglich unter einem kleinen Dach, die Süchtigen stehen eher im Regen. Hier habe ich begriffen, dass Drogensüchtige gestresster sind als Manager. So vieles, was sie organisieren müssen. Für ihre Sucht geben sie alles auf und alles her – ein bedingungsloses Opfer, höchst ungesund, aber ohne Wenn und Aber. Eine Hingabe, die mir fremd ist – jedenfalls bis heute.

Die Frau steigt in den Bus, sie steht nun am Fenster, hält sich an der Stange fest und blickt selbstvergessen hinaus. Ich schiebe mich auf einen Sitz neben der Tür, unweit von ihr. Ich weiß, dass ich sie nicht anstarren sollte, denn sonst brenne ich ihr mit meinen neugierigen Blicken Löcher in die Kleider. Die Frau würde einen kleinen Schrei ausstoßen und verwundert die Brandlöcher in ihrer Jacke untersuchen. Sie würde in die Richtung schauen, aus der ihr die brennenden Blicke zugeworfen wurden, und mich entdecken. Sie würde mich anblicken, mit gerunzelter Stirn und unordentlichen Lippen. Ich würde unauffällig den Blick abwenden. Davon unbeirrt, würde sie auf mich zukommen, die Arme in die Hüfte stemmen und sagen … sie würde sagen … ja, was würde sie sagen?

Der Bus fährt ab, hält an, fährt weiter. Als wir uns der Station Lorraine nähern, packt die Frau ihre Tasche und begibt sich zur Tür. Und dann geschieht das Unglaubliche (ich meine das Salz, von dem die Ziegen nicht lassen können, das Licht, in dem die Motten verbrutzeln und das Bier, in dem die Wespen ertrinken):

Sie schaut mir in die Augen.

Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, mit Menschen ist man dauernd in Augenspiele verwickelt. Aber nicht in einen solchen intensiven Kontakt wie diesen. Ich erwidere ihren Blick, sie hält ihn, und ich, zu meinem eigenen Erstaunen, ebenfalls. Unsere Blicke verschnüren sich zu einem komplizierten Seemannsknoten. Ihre Augen sind grau, mit grünen Sprenkeln darin. Irgendwo ertönen Geigen, Harfen oder Lauten, irgendwie flimmert das Licht und vibriert die Luft erwartungsvoll. Kurz bevor die Frau aus dem Bus steigt, schaut sie prüfend auf die Stufen hinunter, dann wirft sie mir noch einmal einen Blick zu mit einem Lächeln wie eine fröhliche, wilde Landschaft, wie ein unordentliches, blühendes Naturschutzgebiet.

Die Türen schieben sich mit einem Zischen zu. Die Frau eilt anmutig hinkend in die Richtung, aus welcher der Bus gekommen ist. Sie schaut kurz über ihre Schulter zu mir oder jedenfalls in meine Richtung. Ich drücke mein Gesicht ans Glas und fühle Schwäche in mir. Der Bus setzt sich mit einem Ruck in Bewegung. Ich überlege mir, ob sie mich mit jemandem verwechselt, oder ob sie sich vorgenommen hat, heute jeden anzulächeln, vielleicht hat sie sich auch nur umgedreht, weil sie meinte, ein UFO sei gelandet.

Ich bleibe erstarrt sitzen und erwache erst zwei Stationen zu spät wieder aus meiner Erstarrung. Mit einem Sprung bin ich aus dem Bus und haste durch die Allee, deren Bäume in der Spätsommersonne leuchten. Während ich im Dahineilen auf den Gehsteig starre, auf die einzelnen gelben Blätter und die flachgedrückten Kaugummimonde, schwirren die Gedanken. Was ist passiert? Ist etwas passiert? Die Frau hat mir in die Augen geschaut. Es hat mich wie ein Schlag getroffen. Ich war vom Donner gerührt, elektrisiert, ergriffen und verwirrt, und all das verdichtet sich zu einer vollkommen absurden, aber betonfesten Erkenntnis: Das ist sie sie, die ich schon immer gesucht habe. Sie, mit der ich leben, mit der ich alt werden will.

Natürlich tönt das verrückt und ist es auch. Aber ich weiß, dass sie mich erkannt hat, so wie ich sie erkannt habe, auf verwirrende Weise. Ich hielt es bisher für unmöglich, dass man in die Seele eines anderen Menschen blicken kann; jetzt beschleicht mich die schwindelerregende Ahnung, dass es so sein könnte. Ich muss sie wiedersehen, will einen zweiten Blickwechsel wagen, will das Geheimnis lüften, den Bann brechen, den Zauber entzaubern.

Bestimmt bin ich einer Illusion aufgesessen. Bestimmt ist sie meine Frau fürs Leben, es kann nicht anders sein! Bestimmt bin ich auf erschreckende Weise vollkommen durch den Wind. Bestimmt bin ich zwischen die Seiten einer Liebesschnulze geschlittert, bestimmt bin ich die Treppe hinuntergefallen, direkt auf den Kopf, und kann mich nur nicht mehr daran erinnern, bestimmt hat mir jemand Ecstasy in den Kaffee gegeben. Anders kann ich mir meine Gefühle nicht erklären.

Ich mache einen Zwischenhalt im Im Juli, der Kneipe mit diesem unmöglichen Namen. Rufst du im Oktober eine Freundin an und sagst ihr: »Ich bin im Im Juli, kommst du auch?«, so tönt das nur bescheuert. Ich lasse mich in dem schönen, hohen Raum mit seinen Jugendstilfenstern an einem der Tischchen nieder. Es sind nicht viele Gäste da, die Serviceleute – drei junge, gutaussehende Menschen – scherzen an der Theke, halten sich an das Prinzip: je weniger Gäste, desto nachlässiger bedienen. Heute stört mich das nicht, ich beobachte die wenigen Sonnenstrahlen, die in den Raum fallen, und überlege, was mir zugestoßen ist. Genau genommen nichts. Ich habe bloß eine hinkende Frau beobachtet. Nein, es ist nichts geschehen. Außer dass sich mein Herz anfühlt, als wäre es geknetet, geklopft, geraffelt, blanchiert, frittiert und flambiert worden.

Nach längerem Warten erscheint der Service, ein Junge mit modischem Backenbart und Stirnfransen, die einen nur ahnen lassen, dass er Augen hat. Vermutlich gehört er zur Familie der Bergamaskerhunde, die auch solche Fransen haben und trotzdem Katzen im Umkreis von Kilometern ausmachen können. Der Fransenjunge lächelt, ich lächle zurück. Würden sich unsere Blicke ebenfalls ineinander verknoten, wenn ich seine Augen sehen könnte? Ich bestelle einen Pfefferminztee. Er wird in einem kleinen silbernen Krug serviert, im arabischen Stil. Ich zuckere den Tee großzügig, die Araber machen das auch so. Und verbrenne mir beim ersten Schluck die Lippen. Der Mann am Nebentisch schmunzelt.

Ich stütze meinen Kopf auf, und weil ich mich in einem außergewöhnlichen Zustand befinde, vergesse ich, dass ich ein zurückhaltender Mensch bin, und frage ihn: »Hast du schon mal jemand in die Augen geschaut und gewusst: Das ist sie, die Frau deines Lebens?«

Er kichert verlegen. »Wohl kaum, ich bin schwul.«

»Also halt der Mann deines Lebens.«

»Habe das bei jedem gedacht, der mir gefallen hat. Und mir haben viele gefallen. Hat sich aber nie bewahrheitet. Deshalb verliebe ich mich auch nicht mehr. Warte allenfalls noch auf den One-Night-Stand meines Lebens. – Warum fragst du?«

»Ich habe etwas in dieser Art erlebt.«

»Den One-Night-Stand meines Lebens?«

Ich verdrehe die Augen.

»Oh, du meinst den Mann deines Lebens?«

»So ungefähr. Wir sind uns im Bus begegnet.«

»Was willst du jetzt tun?« Er zündet sich eine Zigarette an und inhaliert tief. Meine Güte, denke ich mir, habe ich Lust auf eine Zigarette! Ich zucke mit den Schultern.

»Du hast zu viele Liebesfilme gesehen«, konstatiert er.

»Ich schaue lieber Dokumentar- und Nachrichtensendungen.«

»Dann halt Liebesgeschichten gelesen.«

»Ich bevorzuge Literatur, in denen die Liebe ein sicherer Faktor für Chaos, Absturz und Desillusionierung ist.«

»Hmmm …«

Sein Zigarettenrauch legt sich in blauen Schichten über uns, franst an den Rändern aus und löst sich auf. Ein Mann kommt herein und setzt sich zu meinem Nachbarn, unser Gespräch ist damit wohl beendet. Ich beobachte, wie die Sonnenstrahlen manche Stellen in eine Bühne verwandeln und den Rest zum Zuschauerraum machen. Staub tanzt im Licht. Und so etwas atme ich ein! Erstaunlich, dass alle atmenden Wesen durch diese eine Luft verbunden sind. Ich tanke vom gleichen Tank wie meine Feinde, wie meine mürrische Tante Luise, wie meine Exfreundinnen, wie die zukünftigen, wie Siri Husvedt, DJ Bobo, der Papst oder eben diese Frau von der Haltestelle. Ein Gedanke, der mich durcheinanderbringt. Vielleicht könnte ich mit ihr über den alles verbindenden Atem kommunizieren. Nicht über die Stimmbänder, sondern direkt über die Luft. Atmend würde ich sie fragen: Wer bist du? Wo lebst du? Wie lebst du? Was ist deine Lieblingsmusik? Welche Filme bringen dich zum Lachen? Warum bewegst du dein rechtes Bein zögerlich? Warum hast du mich angelächelt – hast du mich angelächelt?

Ich beobachte ein junges Paar beim Hereinkommen. Beide schwarz gekleidet, er eine schwarze dickrandige Brille, sie die Haare kunstvoll hochgesteckt. Sie nehmen lässig auf dem Sofa Platz, während sie um sich schauen, als wollten sie irgendwas oder irgendwen nicht verpassen. Ich möchte ihnen am liebsten zurufen, dass sie so oder so neunundneunzig Komma neun, neun, neun Prozent im Leben verpassen, insbesondere auf Sofas.

Ich muss nach Hause, arbeiten. Im Büro war es mir zu lärmig, der Abgabetermin drängt, also habe ich meine Sachen gepackt und den wissenschaftlichen Text mitgenommen. Ich bin Übersetzerin, meine Mutter war Schwedin, aus ihrer Sprache übersetze ich ins Deutsche. Eine gute Weile muss ich noch warten, bis ich beim Fransenmann endlich zahlen kann. Ich gebe ihm Trinkgeld, obschon er es sich nicht verdient hat.

Ich wohne in einem Reihenhaus, im fünften Stock, Lift gibt es keinen, das ewige Treppengehen hält mich fit. Ich stelle die Tasche in meiner Wohnung ab und nehme die einfache Holztreppe, die zum Dachboden und darüber hinaus auf die Dachterrasse führt. Eine Dachterrasse wie aus einem Hollywood-Film. Die Aussicht ist großartig, besonders an diesem Spätsommertag, da die Farben satt leuchten und die Sicht glasklar ist. Unten liegt die Moserstraße, auf der eine Straßenbahn rumpelt und Spielzeugautos fahren; die Häuserfront aus grüngrauem Sandstein ragt auf der anderen Straßenseite hoch auf, überall Dächer, dahinter der Jura, der sich wurmförmig bis nach Genf fortsetzt, und wenn man sich umdreht, die gesamte Bergkette vom stupsnasigen Stockhorn bis zum kantigen Finsteraarhorn.

Nichts auf dieser Welt kann so langandauernd und selbstverständlich dahocken wie Berge, als hätten sie einen ewigen Pachtvertrag mit der Zeit. Unbeeindruckt schauen sie dem irdischen Treiben zu, während sie gemütlich vor sich hinbröckeln. Seitdem der Permafrost teilweise auftaut, bröckeln sie etwas ungemütlicher.

Ich könnte problemlos auf Bern verzichten, aber nicht auf die richtige Distanz und nötige Nähe zu den Bergen. Ich liebe es, dass sie da sind, gleichgültig, wie lang ich weg war. Sie sitzen an der genau gleichen Stelle und würdigen mich keines Blickes. Nichts anderes auf der Erde bringt diese Beständigkeit zustande – außer dem Meer vielleicht. Berge erinnern mich daran, nein, sie versichern mir, dass es etwas gibt, das unzerstörbar ist. Natürlich, letztlich werden auch sie vergehen, zerbröckeln, zusammengequetscht oder flachgelegt werden – das jedenfalls behaupten die Geologen –, trotzdem.

Es wäre wunderbar, jetzt eine Zigarette zu rauchen. Glücklicherweise liegen keine Schachteln der Nachbarn herum. Ich wohne seit sieben Jahren hier, ebenso lang habe ich nicht mehr geraucht und auch keine Partnerschaft gehabt. Die Beziehung mit Antonia zu beenden und mit dem Rauchen aufzuhören passte perfekt zusammen: Wenn schon, denn schon, sagte ich mir, verlor gleichzeitig an Gewicht und den Glauben an die Liebe. Es ist nicht so, dass ich in den letzten Jahren keine Frauen hätte haben können – im Gegenteil, es scheint etwas an mir zu sein, was sie anzieht. Vielleicht liegt es an meiner distanzierten Art, vielleicht daran, dass sie bei mir eine Ähnlichkeit mit Annemarie Schwarzenbach zu sehen meinen. Die menschliche Gabe, Wünsche und Ähnlichkeiten zu projizieren, ist bekanntlich ausgeprägt. Ich hätte also Frauen haben können, aber ich besitze nicht mehr die Fähigkeit, mich zu verlieben.

Ich bleibe rund zwei ungerauchte Zigarettenlängen auf der Terrasse, dann gehe ich hinunter, an die Übersetzungsarbeit, der Abgabetermin ist morgen. Ich braue mir einen starken Kaffee und mache mich ans Werk. Während ich einen um den anderen Satz übertrage, wandert die Sonne über den Tisch, lässt mich schließlich allein zurück. Ich arbeite im Halbdunkeln weiter, bis ich Vaters Stimme in mir höre, die mich ermahnt, das Licht einzuschalten, weil ich mir sonst die Augen ruiniere. Ich arbeite ohne Unterlass bis zehn Uhr. Kein Telefon stört, ich habe das Festnetz herausgezogen und das Handy abgestellt, in weiser Voraussicht. Sonst hätte bestimmt Mandel angerufen. Mandel heißt eigentlich Raphaela Mandelstam, aber alle nennen sie Mandel, und sie ist meine beste Freundin.

Ich plündere den Kühlschrank und sichte meine Ausbeute – falls man eine halbe Gurke, eine vergammelte Tomate (wandert in den Abfalleimer), ein paar Scheiben Lyoner Wurst und ein angeschimmeltes Stück Käse als Ausbeute bezeichnen kann. Im Küchenschrank finde ich einen Rest Haferflocken, den ich mit Milch und Honig vermenge. Eines der Festmahle, die bei mir regelmäßig stattfinden. Ich arbeite bis ein Uhr, dann bin ich fertig und stelle die Verbindung zur Außenwelt wieder her. Mandel hat mir vier SMS geschrieben, Überlegungen angestellt, was mit mir los ist, drei Räubergeschichten erfunden und mich getadelt, weil ich sie so sträflich vernachlässige. Ich gehe lächelnd ins Badezimmer. Während des Zähneputzens denke ich an die Frau im Bus – ihr Lächeln war so … ihr Blick unglaublich …

Als ich das Licht lösche, versichere ich mir, dass morgen, wenn ich erst einmal darüber geschlafen habe, diese unsinnige Schwärmerei bestimmt verflogen sein wird.

Niimmmm miiiichhh!

Am Morgen beim Erwachen denke ich als erstes ans Klo, was beruhigend ist. Auf dem Weg dorthin fällt sie mich wieder an. Der Irrsinn ist also noch da! Ich kann mich an keinen Traum erinnern, sondern war in den üblichen komatösen Schlaf gefallen, der mich überkommt, wenn ich bis in die Puppen gearbeitet habe.

Ich bin wie immer spät dran, mache mir einen doppelten Espresso, finde ein paar gummiartige Knäckebrote und stippe sie in den Kaffee. Beschließe, einkaufen zu gehen – ein mir lästiges Unternehmen. Vielleicht kommt Mandel mit, oder Sofie, die unter mir wohnt. Ich leide unter einer schweren Lebensmitteleinkaufs-Neurose und kann deshalb nicht allein einkaufen gehen. Für gewöhnlich gebe ich meiner Begleiterin den Einkaufszettel und stoße den Wagen hinter ihr her, den Blick stur auf den Boden gerichtet.

In einem Supermarkt ist es mir, als würden mich alle Produkte fordernd anstarren und mir zuschreien: »Kauf miiiich!« Ich verstehe nicht, dass die anderen diese Blicke und das Geschrei nicht bemerken. Kommt dazu, dass die verschiedenen Marken des gleichen Produkts ganz unharmonisch in den unterschiedlichsten Tonlagen durcheinander schreien. Pepsi will Cola übertönen, Cailler-Schokolade die Lindt, Biomilch die konventionelle, nicht zu reden von den vielen unterschiedlichen Käsesorten. Ach, gäbe es doch von allem weniger – nur eine Sorte Butter, Mayonnaise, Brot, Kaffee, Käse, Limonade!

Ob die Bus-Frau gerne einkauft?

Das Wetter hat umgeschlagen, ein heftiger Regen hat eingesetzt, der Himmel spiegelt sich in den grauen Straßen und umgekehrt. Ich haste zum Bus und werde nervös, denn es könnte ja sein, dass die Frau …! Aufgeregt überfliege ich die Wartenden, sie befindet sich nicht darunter. Als wir an der Lorraine-Station anhalten, rast mein Herz. Menschen strömen herein, aber die Frau ist nicht dabei.

Im Büro hämmert Carla, die Italienisch-Übersetzerin, schon auf ihre Tastatur ein, Englisch-Übersetzer Johann lässt einen Kaffee aus der Maschine, Marla und Joelle, die für Spanisch und Französisch zuständig sind, plaudern miteinander. Vor sieben Jahren haben Marla, Johann und ich dieses Kollektiv unabhängiger Übersetzer gegründet. Jeder arbeitet selbständig, zahlt und beansprucht aber die gemeinsame Infrastruktur samt Sekretärin. Zurzeit überlegen wir uns, ob wir nicht auch Übersetzer aufnehmen, die aus dem Deutschen übertragen. Das Büro platzt aus allen Nähten, wir müssen eine neue Lokalität suchen. Ehrlich gesagt, macht mich das stolz. Das Berufsleben ist einer der wenigen Bereiche, die ich erfolgreich im Griff habe.

Ich grüße die Kollegen, schließe meinen Laptop an und drucke die Arbeit von gestern aus. Es war ein anspruchsvoller Artikel für die Zeitschrift Swiss Engeneering. Vermerke, wie viele Stunden ich gearbeitet habe.

Am Abend treffe ich mich mit Mandel. Sie hat sich bereiterklärt, mit mir einkaufen zu gehen. Wie immer kommt sie zu spät. Ich habe mir angewöhnt, eine Viertelstunde später als abgemacht aufzukreuzen, aber sie kommt dennoch später als ich. Ich erkenne sie sofort in der Menge: Sie bewegt sich rasch und schwungvoll, sie hat etwas Eifriges an sich, das mich immer wieder rührt. Wir haben uns vor sechs Jahren im Pilates für lesbische Frauen kennengelernt. Ich hätte geradesogut in ein »normales« Pilates gehen können, denn Pilates bietet nicht wie Schwulensaunas eine Grundlage für handfeste Betätigungen. Die Frauen haben sich jedenfalls nicht lüstern auf den Matten herumgewälzt. Bei der Bauchübung machte Mandel die erste Grimasse in meine Richtung, worauf ich zurückgrimassierte, worauf wir lachen mussten, aber nicht durften. Ein Quartal lang quälten wir uns durch die Pilatesstunden, jede Lektion begossen wir mit Bier. Dann gaben wir den Kurs auf, unsere Freundschaft hingegen wurde ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens.

Wir geben uns wie üblich einen einzigen Kuss auf die linke Wange, Mandel haut mir auf die Schulter, was ich nicht so mag, ihr aber nicht abgewöhnen kann. Weil es nieselt, hat sie die Kapuze hochgezogen. Ein Großteil ihres Haars quillt jedoch darunter hervor und ist nass.

»Ist es wieder einmal Zeit für einen Großeinkauf, du Ladenphobikerin?«, grinst Mandel.

Ich brummle nur.

»Hast du deine Einkaufsliste?«

Ich reiche sie ihr.

»Das kann nicht dein Ernst sein, die ist ja mickrig! Du brauchst viel mehr! Komm.« Sie zerrt mich zu einer überdachten Bank und peppt meine Liste auf, das heißt, sie macht sie etwa doppelt so lang, denn sie geht davon aus, dass in meinen Küchenschränken gähnende Leere herrscht, womit sie so Unrecht nicht hat. Energisch zerrt und stößt sie mich zum Einkaufzentrum Wankdorf, wo man strategisch weise vorgehen muss, sonst läuft man sich die Füße wund. Mandel holt einen überdimensionierten Einkaufswagen. In meiner Kindheit waren sie halb so groß und die Menschen nur halb so dick wie heute. Würde man das Volumen der Einkaufswagen verkleinern, wären wir das Übergewichtsproblem los, das ist meine Theorie.

Ich schiebe das Monstrum, den Blick gesenkt. Mandel, mit dem Einkaufszettel in der Hand, eilt durch die Regale. Knäckebrot fällt in den Wagen, frisches Brot, Fleisch, Würste, Salami, Butter, Käse, Milch, Quark, Eier und so weiter. Zwischendurch schaue ich auf, die Lebensmittel funkeln mich an. Nimm mich!, schreien sie, niiimmmm miiiichhh! In kleinen Quartierläden könnte ich selbständig einkaufen, nur ist hier das Problem, dass es zwar noch Quartiere gibt, aber nicht mehr die dazugehörenden Läden.

Während Mandel Äpfel auf die Waage legt, denke ich mir, dass unsere westliche Zivilisation an der Qual der Wahl krankt. Wir können uns alles beschaffen: tropische Früchte, Lachs aus Alaska, russischen Kaviar, Känguruhfleisch, neuseeländische Kiwis und afrikanischen Roiboosh (früher auch afrikanische Sklaven). Beim Mineralwasser müssen wir uns zwischen zwanzig verschiedenen Marken und Flaschenformen entscheiden. Wir können für eine Woche in die Südsee gehen oder schnell mal den grönländischen Gletschern beim Kalben zusehen. Kinder dürfen zwischen fünfzig verschiedenen Freizeitbeschäftigungen und unter ebenso vielen Turnschuhen wählen, wir haben zweihundert Fernsehsender oder auch mehr; wir finden im Internet Sites über jeden großen und kleinen Irrsinn. Wir können alles ausprobieren und kaufen, nein, wir müssen, wir könnten sonst etwas verpassen – ungefähr Null Komma eins Prozent von den neunundneunzig Komma neun, neun Prozent, die wir eh verpassen.

Mich macht das krank.

Als ich zwanzig war, begleitete ich meinen Vater nach Budapest, wo er geschäftlich zu tun hatte. Ich ging allein auf Entdeckungsreisen und konnte es nicht fassen: Die Läden waren halb leer! Das war für die Ungarn bestimmt nicht lustig, ich hingegen fand es befreiend, ich konnte es befreiend empfinden, weil ich ein paar Tagen später in die üppige Schweiz zurückflog, erster Klasse wohlgemerkt. Aber trotzdem: Ich mochte diese Kargheit, ich fühlte keinen Druck, Dinge zu kaufen, die sowieso entbehrlich sind, keine Werbeaktionen, keine nett lächelnden Damen, die mich mit Parfum einsprühen, und keine Super-Aktionen, die zu Hause verstauben und verrotten. Ich bin vermutlich die erste und letzte Person, die leere Regale mag.

Mandel kippt Kaffeepackungen in den Wagen und fragt mich nach meinem Befinden. Ich schaue auf und lächele tapfer. Schon wirbelt sie wieder davon. Nach dem Einkauf gehen wir ins Im Juli. Mandel setzt sich just an den Tisch, an dem ich gestern gesessen bin. Sie schält sich aus Regenund Jeansjacke und versucht Ordnung in ihre Haare zu bringen, indem sie die Unordnung von einer Seite auf die andere verschiebt. Nach zwei Ewigkeiten erscheint der Service – diesmal eine zierliche junge Frau, bei der wir einen Milchkaffee für mich und für Mandel einen Schwarztee ordern.

Als die Getränke kommen, klatscht sich Mandel an die Stirn. »Scheibenkleister, ich habe vergessen, dass es hier nur offenes Kraut gibt. Nun hocken die Blätter auf dem Grund, und wenn ich mich nicht beeile, wird das Gesöff ungenießbar.«

Sie fischt die Teeblätter aus der Kanne und häuft sie auf dem Unterteller auf. Manches fällt auf die Tischplatte. Dann gibt sie ein Löffelchen Zucker in die Tasse und mustert mich. »Du hast mir was erzählen wollen.«

Ich nicke, aber weiß nicht mehr, ob es eine gute Idee ist, ihr von meinem Erlebnis zu erzählen. Ich setze mich im Stuhl gerade auf, räuspere mich und beginne mit meiner seltsamen Geschichte. Mandel hört zu, runzelt die Stirn, macht große Augen und dann noch größere. Am Schluss meiner Geschichte sind ihre Augen etwa so groß wie die Untertasse, auf der die Teeblätter liegen. Schweigend nimmt sie einen Schluck Tee, der nach ihrem Gesicht zu urteilen schon ziemlich bitter sein muss. Sie schaufelt noch mehr Zucker hinein. Nach dem Umrühren deutet sie mit dem Löffelchen auf mich: »Du willst also behaupten, dass du in die Augen einer Frau geschaut hast und wusstest, dass sie diejenige welche ist, gleich fürs ganze Leben?«

Ich nicke verlegen.

»Hast du sie nicht alle? Du kennst die Frau nicht die Bohne!«

Ich nicke noch verlegener.

»Hallo, du bist ein besonnener Mensch, zu besonnen, würde ich mal sagen.« Mandels Haar fliegt mit ihrem empörten Gesicht hin und her.

»Ich verstehe es ja selber nicht – ich habe so etwas, eine solche Intensität noch nie erlebt. Es war das Erkennen eines anderen Menschen, durch alle Schichten hindurch. Es war ein Augenblick vollkommener Schönheit und Nähe. Er hat mich zutiefst berührt.«

»Gib’s zu, du warst bekifft.«

Es ist eindeutig keine gute Idee gewesen, Mandel von der Begegnung zu erzählen. »Ich habe mehr Verständnis erwartet von dir«, sage ich, »gerade von dir!«

»Was soll das nun wieder heißen?«

»Du stürzt dich ja auch mit Volldampf in deine Liebschaften, du kennst das, wenn man den Kopf verliert.«

»Natürlich, wenn du alles über verkorkste und misslungene Frauenbeziehungen wissen willst, bin ich die Spezialistin schlechthin.«

»Nun übertreibst du aber, mit Tamara –«

»– war ich acht Monate zusammen, und davon waren sechs Monate Krise. Wir reden seither nicht mehr miteinander.«

»Dann nehmen wir Deborah –«

»Sechseinhalb Monate, im zweiten Monat ging sie fremd. Ich brauchte ewig, um von der Beziehung loszukommen.«

»Aber du kannst dich im Unterschied zu mir noch erinnern, wie das mit einer Frau ist.«

»Ja, natürlich. Zwei hochexplosive Hormonbomben, die abwechselnd wegen nichts in die Luft gehen – je nachdem, welche gerade prämenstruell ist. Oder postmenstruell. Oder welcher die Tampons ausgegangen sind.«

»Wenn das deine Einstellung ist, warum stehst du dann auf Frauen?«

»Erstens stehe ich nicht auf den Frauen, sie stehen auf mir, besser gesagt, sie trampeln auf mir rum, zweitens wählt man so was nicht freiwillig. Es ist ein Fluch.« Mandel hat sich aufgeregt, ihre Wangen sind gerötet, der Blick dunkel. »Was willst du von mir? Dass ich dir erkläre, warum dir die Frau eingefahren ist? Ob es die Frau fürs Leben ist? Wie du sie finden kannst?«

Sie stochert mit dem Löffel in den Teeblättern und verursacht noch mehr Chaos. Mein Milchkaffee, zur Hälfte getrunken, ist erkaltet. Gestern hat alles so einfach geschienen, ich schaute in die Sonnenstrahlen und sinnierte darüber, dass ich über den universalen Atem mit der Bus-Frau verbunden bin, die Welt war erfüllt von Zauber.

Mandel winkt den Service herbei und bestellt ein Bier, ich bestelle noch mal einen Kaffee. Wir schweigen. Die Servicefrau kommt mit den Getränken. Mandel nimmt einen langen Schluck. Als sie absetzt, hat sie einen weißen Schnauz, den sie sich wegwischt. »Du bist keine Frau auf die Schnelle, das weißt du doch.«

»Wie willst du das so genau wissen? Ich lebe seit sieben Jahren als Single.«

»Eben!«

Ich rolle die Augen. »So hilf mir doch!«

Mandel nimmt wieder einen langen Schluck und stellt das Glas laut ab. »Okay, was willst du?«

»Sie finden.«

»Gib ein Inserat auf.«

»Spinnst du?«

»Du beschreibst die Frau, sagst, dass sie dann und dann dort und dort gewesen sei und dass du sie wiedertreffen willst, weil ihr Haar so gut gerochen hat und du den Namen ihres Shampoos wissen möchtest.«

»Sehr witzig!«

»Am besten im Anzeiger oder in der Berner Zeitung

Sie nimmt ein Blatt Papier aus ihrer Tasche, schreibt hastig ein paar Zeilen und reicht mir das Blatt.

»Ich kann hebräische Schrift nicht lesen.«

»Das ist Deutsch.«

»Nein, eine kryptische Zumutung – zum Glück schreibst du mir nie Briefe!

«Mandel reißt mir das Blatt aus der Hand und beginnt vorzulesen: »Habe Dich, weibl. in den Dreißigern, langes Haar, am Di, xx.xx. an der Bushaltestelle xxx gesehen. Du bist an der Station Lorraine ausgestiegen. Wir haben einen intensiven Blickwechsel ausgetauscht. Ich, ebenfalls weibl., würde Dich gerne kennenlernen

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Was hast du schon zu verlieren – außer deiner Würde?« Sie lacht.

»Nie im Leben!«

»Dann gibt’s auch kein Wiedersehen in diesem Leben.«

»Du bist gemein.«

»Ich würde eher sagen, realistisch.«

Mit Mandel zusammen komme ich regelmäßig an den Punkt, da ich mich frage, wo der Sinn einer Freundschaft liegt. Nicht dass ich mich das wirklich frage, es ist bloß so, dass ich sie öfters zum Teufel wünsche. Was übrigens vergebliche Liebesmüh ist, denn Mandel ist jüdisch, und im Judentum gibt es keinen Teufel, so wie wir ihn kennen. Der jüdische Satan operiert schön brav im Auftrag Jahwes. Zur Hölle kann ich sie nicht schicken, denn auch die kennt man im Judentum nicht – man geht davon aus, dass beim Tod die reine Seele zu Jahwe zurückgeht. Was sehr sympathisch ist.

Zu Hause werfe ich mich aufs Sofa, ausgelaugt von den Einkäufen und dem Gespräch mit Mandel. Ich schaue eine Zeitlang dem Regen zu, wie er am Fensterglas Tropfen hinterlässt, von denen manche zu Rinnsalen werden. Ich werde natürlich nie ein Inserat aufgeben, das weiß Mandel. Wenn die Begegnung mit der Frau schicksalhaft war, werden wir auch so einander wiedertreffen. Ich hoffe nur, dass das Schicksal mit der Organisation einer nächsten Begegnung nicht wartet, bis ich grau und krumm geworden bin.

Ick konnte dick auch nicht vergessen, beautiful woman

Drei Tage später ruft mich Mandel ins Büro an. »Schau in die Berner Zeitung, unter der Rubrik Kontakte. Es ist dufte rausgekommen, finde ich.«

Ich klemme den Hörer zwischen Schulter und Ohr und gehe mit schlimmen Vorahnungen zum Zeitungsständer. »Wenn es das ist, was ich meine, bringe ich dich um.«

Mandel lacht vergnügt.

Ich blättere hastig durch die Zeitung, zwei Mal vorwärts, zwei Mal rückwärts, bis ich das dumme Inserat finde. Ich kann es nicht fassen, obschon es schwarz auf weiß vor mir liegt: Habe Dich, weibl. in den Dreißigern, langes Haar, am Di, xx.xx. und so weiter. Wenigstens steht am Schluss nicht meine Telefonnummer, sondern eine Chiffre.

»Die Leute werden ihre Nachricht auf einen Anrufbeantworter sprechen, und du kannst sie mit einem Code abhören.«

»Leute?«

»Na ja, vielleicht fühlen sich verschiedene von deinem Inserat angesprochen.«

»Mandel!«

Ich beschließe, den AB nicht abzuhören. Zwei Tage später fragt Mandel in einer SMS, ob sich die Frau gemeldet habe. Ich verneine. Ob ich denn überhaupt die Messages abgehört hätte. Ich verneine. Zu meiner Verwunderung macht sie mir keine Vorwürfe und schreibt auch sonst nichts. Erst mal. Eine Stunde später meldet sie sich wieder: –Da du wieder mal unfähig bist, habe ich die Botschaften abgehört. Es sind drei.

Ich starre auf mein Handy, bis das Display dunkel wird. Erzürnt rufe ich Mandel an. Sie meldet sich fröhlich, ich sage, dass es erstens eine Frechheit sei, für mich ein Inserat zu schreiben, und zweitens sei es die noch größere Frechheit, die Botschaften abzuhören. Das sei Einmischung in meine Privatsphäre.

Ich beeindrucke sie nicht. »Ja, ja, du hast ja recht, aber hör dir die Nachrichten an, sie sind zum Brüllen.«

»Warum tust du mir das an?«

»Weil ich dich kenne. Ohne meine Unterstützung sinnierst du die nächsten paar Jahre über diese Begegnung nach und am Ende bist du das, was du schon seit Jahren bist: ohne Beziehung. Ab und zu muss man dir auf die Sprünge helfen.« Kichernd hängt sie auf.

Ich schwanke zwischen Empörung und Amüsiertheit – das hat man davon, dass die beste Freundin Nägel mit Köpfen macht.

Am Nachmittag hört es auf zu regnen, ich gehe auf die Dachterrasse und beobachte, wie sich die Wolken wieder und wieder zu neuen Formationen zusammenfügen. Einen kurzen Moment lassen sie die Sonne durch und es wird warm, dann schieben sie sich wieder ineinander. Eigentlich erstaunlich: Die Sonne ist im Vergleich zur Erde riesig, aber wenn sich ein wenig Wasserdampf zwischen sie und uns drängt, ist ihre Kraft gebrochen. Die Passanten auf dem Gehsteig muten an wie Ameisen. Von hier aus scheint es unmöglich, dass man mit einer dieser Ameisen einen bedeutungsvollen Blick austauschen könnte. Die Sicht von oben relativiert einiges, das gefällt mir. Darum liebe ich auch den Moment, wenn ich in einem Flugzeug sitze und es abhebt. Bald lösen sich vor meinen Augen die Menschen auf, dann die Autos und die Häuser. Zurück bleiben wunderschöne Strukturen und Faltenwürfe, und man kann sich nicht vorstellen, dass die Erde an einer Menschenepidemie krankt.

Was, wenn die Frau auf die Mailbox gesprochen hat? Nach langem Zögern wähle ich die Nachrichtennummer. Hänge gleich wieder auf. Drücke die Wiederholungstaste. Im Hintergrund läuft schmalzige Geigenmusik. Eine Frau sagt mit rauchiger Stimme: »Nun, ehrlich gesagt mag ich mich an keinen intensiven Blickkontakt in einem Bus erinnern, aber vielleicht war ich gedanklich mit etwas anderem beschäftigt, und da wäre es schade, wenn wir uns verpassen würden, nur weil ich in Gedanken versunken war. Zugegeben, ich fahre nie mit dem Zwölferbus, sondern mit dem Einundzwanziger. Bist du sicher, dass wir uns nicht auf dem Einundzwanziger getroffen haben? Ich würde dich gerne kennenlernen, ich bin hübsch«, sie entfernt sich und stellt die Musik lauter, »und sehr romantisch, wie du hören kannst. Ich freue mich auf dich. Ruf mich an.«

Die zweite hat keine Musik laufen. Sie sagt lange nichts, räuspert sich, als hätte sie einen ganzen Teich Kröten verschluckt. »Ehm, ich fahre selten Bus, ich habe meine Yamaha, und vielleicht (Räuspern) möchtest du dich mal hinten draufsetzen und dich an mich drücken. Ich kann dir Blicke zuwerfen, da wird es dir anders, (Räuspern), also warte nicht auf eine Frau, die du nie mehr wiedersehen wirst. Ich hab übrigens (Räuspern) eine heiße Lederkluft, echt geil.« (Räuspern).

Die dritte Frau spricht mit gepresst tiefer Stimme und englischem Akzent. »Hi there, ick heiße Raphy und ick bin so froh, dass du hast gemeldet dick. Ick konnte dick auch nicht vergessen, beautiful woman, ick finde, du könntest etwas mehr essen, aber deine dunkeles Haar gefällt mir, auch wenn du hast schon ein paar weiße Haare. Deine Auge, was das sein fur eine Farbe? Brown? Green? Braungrün? Lass uns wieder verbinden unsere Blicke, bis ick die Farbe of your eyes verstehe.«

Luder.

Ich stelle Mandels Telefonnummer ein. »Raphy Mandelstam, du bist die unmöglichste Freundin dieser Hemisphäre!«

»Dir gefällt doch englischer Akzent und sowieso.« Sie kichert.

»Du hast dein Geld für dieses Inserat voll in den Sand gesetzt.«

»Vielleicht, aber ich hatte eine Menge Spaß. Was hat Frau Nummer zwei gesagt: Ich habe eine heiße Lederkluft, echt geil. Und Frau Nummer eins: Ich bin hübsch und seeeehr romantisch! So viel Schmonzes!« Sie imitiert schwülstige Geigen.

»Raphaela Mandelstamm, dich sollte man verbieten!«

»Tut mir leid, es ist von Gesetzes wegen verboten, mich zu verbieten.«

Ich stehe auf und kann nicht anders: Ich lache. Mandel ist ein Schlitzohr, sie weiß zwar nicht, wann genug ist, aber meine Güte, ist sie unterhaltsam! Wir verabreden uns für eine Runde Billard im Sherlock’s, und wenn ich es mir recht bedenke, so ist mir die Frau aus dem Bus gerade ziemlich egal.

Welche Ohren und welcher Mund zu welchem Dummkopf gehört

Ich verstehe es nicht. Gestern Abend beim Billardspielen fühlte ich mich frei und ungebunden und hatte den Eindruck, dass das Thema Bus-Frau erledigt sei. Heute jedoch erwache ich aus einem intensiven Traum: Da war die Frau, und da war ich, und da waren unsere Verbundenheit und Anziehung. Jetzt erfüllt mich eine dumme, durchdringende Sehnsucht, sie überschwemmt mich geradezu, entzieht sich meiner Kontrolle. Die Frau hat meinen Thron in Beschlag genommen, ich stehe vor den Toren der Stadt und finde keinen Einlass. Das alles ist sehr, sehr beunruhigend!

Die Tage gehen, wie sie gekommen sind: unspektakulär. Ich ackere mich durch endlos scheinende schwedische Texte. Manchmal wäre ich froh, ich könnte meine Mamma wegen Grammatikfragen und Redewendungen fragen. Ich gehe allein oder mit Freunden ins Kino, spiele mit Mandel Billard, male an dem Bild, an dem ich seit Wochen bin, treffe mich bei Sofie zu einem Schluck Wein, gehe Vater besuchen, erfinde gegenüber Tante Luise neue Ausreden, warum ich sie nicht besuchen kann, lade zum Apéro ein oder überwinde mich und gehe mit Sofie oder Mandel einkaufen. Die Wochen reihen sich aneinander, der sonnige September weicht einem nassen Oktober.

Verglichen mit dem Großteil der Menschheit, ist mein Leben phantastisch. Warum reicht das Wissen um die Leiden der anderen nicht aus, damit mein phantastisches Leben sich auch phantastisch anfühlt? Warum habe ich dieses schale Gefühl, dass das Leben ungelebt an mir vorbeirast? Dass mir etwas Grundlegendes fehlt? Dass dieses Grundlegende jene Frau aus dem Bus sein könnte? Ich denke unentwegt an sie, aber ich erwähne das niemandem gegenüber, nicht einmal Mandel.

Mandel ist übrigens wieder einmal in die Fänge Amors geraten. Sie ist während einer Frauendisco beim Billardtisch herumgestreunt und hat auf eine Spielpartnerin gewartet. Die ist aufgetaucht, in Form einer sehr großen blonden Frau. Sie spielten, bis sie vier Uhr morgens rausgeworfen wurden. Das Spiel stand unentschieden. Mandel lud Chléo zu einem Frühstück ein. Seither höre ich wenig von ihr, sehen tue ich sie noch seltener, dafür erhalte ich regelmäßig SMS:

– Wow, diese Frau! – Es ist so geilllll mit ihr! – Sie ist süßer als süß! – Mit ihr werde ich alt! – Hätte nie gedacht, dass ich so empfinden könnte! – Endlich habe ich mal Massel!

Sehe ich sie doch mal, muss ich mir vorschwärmen lassen, wie berauscht, beglückt und erfüllt sie sei, wie wunderbar, besonders und umwerfend Chléo sei, dass ihr Leben eine völlig neue Wendung genommen habe und dass es ein Glück gewesen sei, so lange zu warten. Und so weiter. Und das stundenlang. Meine freundschaftlichen Gefühle werden auf die Probe gestellt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Mandel derart hyperventiliert. Bei jeder neuen Liebe sagt sie: Die Tore zum Paradies sind geöffnet. Gegen Ende der Beziehung will sie dann nach Jerusalem an die Klagemauer.

Schließlich habe ich das zweifelhafte Vergnügen, mit Mandel und Chléo einen Abend zu verbringen. Ich drehe unentwegt an meinem Weinglas, während ich mir jede kleinste Einzelheit ihres Kennenlernens und ihrer Eigenheiten anhören muss. Sie turteln so intensiv, dass ich manchmal nicht mehr weiß, welche Ohren und welcher Mund zu welchem Dummkopf gehört.

Wieder einmal kriege ich die Bestätigung: Verliebtheit ist eine Krankheit. Die davon befallen sind, sollten während vier bis sechs Monaten unter Quarantäne gestellt werden, dann erst dürfte man sie wieder auf die Menschheit loslassen. Ich beschließe, die zwei Turteltäubchen, oder wohl eher Turtelgeier, erst wieder einzuladen, wenn sie zu Streithennen mutiert sind. Und ich bin froh, dass ich über den Niederungen des Verliebtseins stehe.

In der zweiten Novemberwoche sitze ich zuhinterst im Bus und döse einem langweiligen Feierabend entgegen. Ich habe einen anstrengenden Arbeitstag hinter mir. Der Bus ist proppenvoll, alle scheinen ähnlich schlecht gelaunt zu sein wie ich. Es fallen Schneeflocken, und das verdirbt mir den Rest meiner Laune. Bei der Lorraine-Haltstelle schaue ich desinteressiert zu, wie die Leute aussteigen. Die meisten haben den Kopf in den Mantelkragen gezogen, als wären sie Schildkröten. Der Bus setzt sich wieder in Bewegung.

Da sehe ich sie!

Einfach zu erkennen an ihrem Gang und dem langen Haar. Sie hat sich offenbar vorn im Bus befunden. Zielstrebig geht sie in die Richtung, aus welcher der Bus gekommen ist. Wie ich ihr mit offenem Mund hinterherschaue, bügelt die Scheibe meine Nase flach. Und ich mache etwas, das weit unter meiner Würde ist: Ich klopfe wie verrückt ans Fenster, winke und rufe »Hallo, hallo!«, was nur die Menschen im Bus verstehen, und das viel zu gut. Ich stürze nach vorn und schreie: »Anhalten, bitte anhalten, ich muss raus!« Ich remple Schultern, einer Frau reiße ich das Kind beinahe aus den Armen, was sie vermutlich nicht schätzt. Vorn angekommen, bitte ich den Fahrer zu stoppen, was er nicht tut. Da könne ja jeder kommen, sagt er. Ich erfinde eine Geschichte: Ich hätte meine Großmutter gesehen, sie sei voller Taschen gewesen, und ich hätte Angst, dass sie wegen des Schneematschs stürzen würde, er kenne ja die Knochen der alten Leute – morsch und mürbe. Ich wolle ihr unter die Arme greifen. Endlich hält der Fahrer an, öffnet die Tür und erklärt, dass dies die absolute Ausnahme sei. Ich danke tausend Mal und schlittere über den matschigen Gehsteig Richtung Bus-Station. Suche und suche, bis ich gewiss alle Straßen und Sträßchen des Lorraine-Quartiers abgesucht habe. Nichts. Das einzige, was ich herausfinde: Mit meiner Kondition steht es nicht zum Besten. Enttäuscht und zutiefst aufgewühlt begebe ich mich auf den Heimweg, schlurfe die fünf Stockwerke hoch und lasse ein Bad ein. Ich ärgere mich nicht mal darüber, dass ich keinen Badezusatz habe und mit Duschgel vorliebnehmen muss. Im Bad überlege ich mir, was ich zu der Frau gesagt hätte. Ich hätte vermutlich etwas Unzusammenhängendes gestammelt, die Frau hätte gedacht, dass ich eine Dealerin oder Meuchelmörderin bin, hätte geistesgegenwärtig das Handy gezückt und ich säße jetzt in Untersuchungshaft. Dann doch lieber ein warmes Bad mit Duschgel, das nicht schäumt.

Als ich schier drauf und dran war, die Scheibe einzuschlagen, um mich bei der Frau bemerkbar zu machen, hatte sie kurz aufgeschaut. Unsere Blicke kreuzten sich, ich war elektrisiert. Gelähmt ließ ich die Arme sinken, die Frau setzte ihren Weg fort. Sie hatte mich nicht erkannt.