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HILDEGARD VON BINGEN

WISSE DIE WEGE

SCIVIAS

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NACH DEM ORIGINALTEXT
DES ILLUMINIERTEN RUPERTSBERGER KODEX
DER WIESBADENER LANDESBIBLIOTHEK
INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN UND BEARBEITET VON

MAURA BÖCKELER

OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG

Alle Rechte, auch an den Bildtafeln, vorbehalten / Printed in Almria

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IMPRIMATUR

Fe. Ordinariat Salzburg, 13. September 1954

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Mit Erlaubnis der Ordensoberen

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1. Auflage St. Augustinus-Verlag, Berlin 1928

2., neu bearbeitete Auflage mit Farbdrucken der Kodextafeln, 1954

9. Auflage

Bildreproduklionen nach dem Kodex der Abtei St. Hildegard, Eibingen

Pergamentfaksimile des seit dem zweiten Weltkrieg verschollenen Rupertsberger Kodex,

Wiesbaden, LB, Hs. 1

Schutzumschlag- und Einbandgestaltung von Karl Weiser

Druck- und Bindearbeiten: Wiener Verlag, Himberg bei Wien

eISBN 978-3-7013-5157-2

HILDEGARD

DER SEHERIN DES LICHTES

INHALT

GELEITWORT von Abt Ildefons Herwegen

DIE 35 BILDTAFELN DES RUPERTSBERGER KODEX

Vorrede der Seherin

ERSTES BUCH: UNTER DEM FLUCH DER SONDE

1. Schau: Der Leuchtende

2. Schau: Der Ursprung des Bösen

3. Schau: Mensch und Kosmos

4. Schau: Die Seele und ihr Zelt

5. Schau: Die Synagoge

6. Schau: Die Engel

ZWEITES BUCH: DAS FEURIGE WERK DER ERLOSUNG

1. Schau: Der Erlöser

2. Schau: Der Urquell des Lebens

3. Schau: Mutterschaft aus dem Geiste und dem Wasser

4. Schau: Gesalbt mit dem Heiligen Geiste

5. Schau: Der mystische Leib

6. Schau: Die Hochzeitsgabe

7. Schau: Der Widersacher

DRITTES BUCH: DIE REIFENDE FOLLE DER ZEITEN

1. Schau: Der Lichtkreis göttlicher Macht

2. Schau: Das Gebäude des Heils

3. Schau: Der Turm des Ratschlusses

4. Schau: Die Säule des Wortes Gottes

5. Schau: Der Eifer Gottes

6. Schau: Die dreifache Mauer

7. Schau: Die Säule der wahren Dreieinigkeit

8. Schau: Die Säule der Menschheit des Erlösers

9. Schau: Der Turm der Kirche

10. Schau: Der Menschensohn

11. Schau: Das Ende der Zeiten

12. Schau: Der Tag der großen Offenbarung

13. Schau: Das Hohelied der Gnade

ANHANG

Der „einfältige“ Mensch – Hildegard von Bingen

Anmerkungen

Zum Text und seinen Unterlagen

Anmerkungen

VERZEICHNISSE

I. Hildegards Werke

II. Textausgaben, Übertragungen, Literatur

III. Schriftzitate im Scivias

REGISTER

VERZEICHNIS DER BILDTAFELN

Tafel

1  DIE SEHERIN, Vorrede, Text Seite 89 ff

2  DER LEUCHTENDE, Schau I, 1, Text Seite 9 ff

3  DER SÜNDENFALL, Schau I, 2, Text Seite 98 ff

4  DAS WELTALL, Schau I, 3, Text Seite 109 ff

5  DIE SEELE UND IHR ZELT, Schau, I, 4, Text Seite 120 ff

6  TREUE IN DER VERSUCHUNG, Schau I, 4, Text Seite 123 ff

7  AUSZUG DER SEELE AUS IHREM ZELT, Schau I, 4, Text Seite 126 ff

8  DIE SYNAGOGE, Schau I, 5, Text Seite 136 ff

9  DIE CHÖRE DER ENGEL, Schau I, 6, Text Seite 141 ff

10  DER ERLÖSER, Schau II, 1, Text Seite 149 ff

11  DIE WAHRE DREIHEIT IN DER WAHREN EINHEIT, Schau II, 2, Text Seite 156 ff

12  MUTTERSCHAFT AUS DEM GEISTE UND DEM WASSER, Schau II, 3, Text Seite 161 ff

13  GESALBT MIT DEM HEILIGEN GEISTE, Schau II, 4, Text Seite 172 ff

14  DER MYSTISCHE LEIB, Schau II, 5, Text Seite 179 ff

15  OPFER CHRISTI UND DER KIRCHE, Schau II, 6, Text Seite 192 ff

16  DIE LEBENSSPEISE, Schau II, 6, Text Seite 193 ff

17  DER GEFESSELTE FEIND, Schau II, 7, Text Seite 205 ff

18  DER VERSUCHER, Schau II, 7, Text Seite 205 ff

19  DER ALLHERRSCHER, Schau III, 1, Text Seite 217 ff

20  ERLOSCHENE STERNE, Schau III, 1, Text Seite 217 ff

21  DAS GEBÄUDE DES HEILS, Schau III, 2, Text Seite 227 ff

22  DER TURM DES RATSCHLUSSES, Schau III, 3, Text Seite 234 ff.

23  FÜNF „GOTTESKRÄFTE“ IM TURM DES RATSCHLUSSES, Schau III, 3, Text Seite 237 ff

24  DIE SÄULE DES WORTES GOTTES, Schau III, 4, Text Seite 244 ff.

25  DAS „ERKENNEN GOTTES“, Schau III, 4, Text Seite 249 f

26  DER „EIFER GOTTES“, Schau III, 5, Text Seite 251 ff

27  DIE DREIFACHE MAUER, Schau III, 6, Text Seite 257 ff

28  DIE SÄULE DER WAHREN DREIEINIGKEIT, Schau III, 7, Text Seite 272 ff

29  DIE SÄULE DER MENSCHHEIT DES ERLÖSERS, Schau III, 8, Text Seite 278 ff

30  DER TURM DER KIRCHE, Schau III, 9, Text Seite 297 ff

31  DER MENSCHENSOHN, Schau III, 10, Text Seite 311 ff

32  DAS ENDE DER ZEITEN, Schau III, 11, Text Seite 329 ff

33  DER TAG DER GROSSEN OFFENBARUNG, Schau III, 12, Text Seite 345 ff

34  DER NEUE HIMMEL UND DIE NEUE ERDE, Schau III, 12, Text Seite 349 f

35  DIE CHÖRE DER SELIGEN, Schau III, 13, Text Seite 351 ff

GELEITWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

EINBEZOGEN IN die mannigfachen Kreise stärkster Bewegung, die in der Stauferzeit eine neue Menschheitsepoche anzubahnen beginnt, steht die heilige Hildegard als geistige Größe dennoch einsam in ihrer Umwelt. Gesucht von allen, wird sie nur von wenigen verstanden, nicht einmal immer von ihren geistlichen Töchtern, die sie mütterlich führt. Kaiser und Fürsten, Bischöfe und Äbte erbaten von ihr Licht, Rat und Hilfe. Ritter und Kaufleute, Pilger und Kreuzfahrer, Scholaren und Bettler gehen auf dem Rupertsberg ein und aus. Vornehme Damen und heimatlose Mädchen, Gelehrte und Künstler, Fischer und Jäger, Bauern und Winzer, arme Frauen aus dem Volke, alle blicken zur Äbtissin auf, lauschen ihrem Wort wie einer Offenbarung, gehen getröstet von dannen oder stellen die Arbeit ihrer Hände fürs Leben in den Dienst der Heiligen.

Ihre Persönlichkeit war überragend. Erleuchtete und hochstehende Männer beugten sich dieser Frau. Ihr Wort und ihr Tun ließen ahnen, daß ihr Geist in anderen Welten weilte und doch weder Großes noch Kleines in dem sie umgebenden Bereich der natürlichen Erscheinungen übersah.

Sie hatte für alles, für Baum und Strauch, für Blume und Frucht, für den Vogel in der Luft und den Fisch im Wasser ein Auge, ein Ohr, ein Wort, einen Namen. Das Leben und Treiben der kleinen Welt war ihr aber nicht nur ein willkommener Gegenstand ernster Beobachtung, eine unversiegliche Bereicherung des Wissens, sie ordnete vielmehr die Einzelwesen stets organisch in den Makrokosmos der ganzen Natur ein.

Aber auch hiebei blieb sie nicht stehen. Jede äußere Erscheinung ward ihr zum Sinnbild. Sie lebte noch ganz in einer symbolischen Weltanschauung und sah in den Menschen sowohl wie in allem Naturgeschehen die Verwirklichung göttlicher Gedanken und daher die engsten inneren Beziehungen zwischen dem Menschen und den vernunftlosen Geschöpfen, insbesondere der Pflanzenwelt.

Die tiefe Bedeutung der Naturauffassung Hildegards liegt gerade in der charakterologischen und symbolischen Erfassung der sichtbaren Schöpfung, einer Betrachtungsweise, die in unseren Tagen durch die phänomenologische Anthropologie wieder in ihre Rechte eingesetzt worden ist. Die Realontologie von Martius1 und die Untersuchungen über die Stufen der organischen Natur und die Sphäre des Menschen von Pleßner2 zeigen rein wesensanalytisch die Bezogenheit zwischen der Welt der Erscheinungen und der sinnlich-sittlichen Person des Menschen auf. Hier ergibt sich, daß Reales und Ideales, Objektives und Subjektives gleichsam einander zuwachsen, und Claudels3 Wortspiel: Connaissance est co-naissance findet seine wissenschaftliche Begründung. Diese Co-naissance – etwa zwischen der Pflanzenwelt und dem Menschen – hat aber schon bei Hildegard einen erstaunlich klaren Ausdruck gefunden: „Als der Mensch geschaffen wurde, ward Erde von der Erde genommen, und diese Erde ist der Mensch. Alle Elemente dienten ihm, weil sie in ihm das Leben spürten. Und sie neigten sich ihm zu in all seinem Handeln und Wandeln und wirkten mit ihm und er mit ihnen. Da gab die Erde ihre Grüne nach Art und Natur und Charakter und jeglicher Eigenschaft des Menschen. So tut die Erde in ihren nützen Kräutern die Beschaffenheit der geistlichen Anlagen des Menschen bezeichnend kund. In ihren unnützen Kräutern aber offenbart sie seine unnützen und teuflische Anlagen4.“ Nachdem die phänomenologische Analyse uns heute zeigt, daß psychologisch-erlebnismäßige, physiologische und physikalische Wirklichkeitsansichten durchaus ineinander überführbare Gesichtspunkte bezeichnen, finden wir eine charakterologische Analyse der hier angedeuteten Beziehungen durchaus nicht mehr unwissenschaftlich. Sie zeigt eine Bezogenheit der sinnlichen Qualitäten auf die leiblich-seelisch-geistige Einheit der Person, die uns ein Hilfsmittel an die Hand gibt, auch die ungehobenen Schätze der alten Natursymbolik wieder ans Tageslicht zu bringen. Wie tief hat die heilige Hildegard hier geschaut! Wie bei Claudel erscheint ihr die Baumgestalt als Ursymbol des Menschen: „Was der Saft im Baum ist, das ist die Seele im Körper, und ihre Kräfte entfaltet sie wie der Baum seine Gestalt. Die Erkenntnis (intellectus) gleicht dem Grün der Zweige und Blätter, der Wille (voluntas) den Blüten, das Gemüt (animus) ist wie die zuerst hervorbrechende, die Vernunft (ratio) wie die voll ausgereifte Frucht. Der Sinn (sensus) endlich gleicht der Ausdehnung des Baumes in die Höhe und Breite. So ist die Seele der innere Halt und die Trägerin des Leibes5.“

Die charakterologisch-symbolische Naturauffassung des Mittelalters erhebt sich dann später bei Albertus Magnus und in der klassischen Scholastik zu einer Charakterologie der Lebensstufen, die bei Thomas von Aquin zu immer vollkommeneren Bildern des trinitarischen Lebens aufsteigen. Sie lebt heute wieder auf in einer Wesensanalyse der Sphären des lebendigen Verhaltens bei Pflanze, Tier und Mensch und ist auch bereits einer streng wissenschaftlichen Behandlung zugeführt worden6.

Die heilige Hildegard nimmt in dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung eine ungewöhnlich hervorragende Stellung ein, uraltes, ererbtes Wissensgut der Menschheit hütend und dessen unvergänglichen Wert auch für eine ferne Zeit ahnend. Für Hildegard, die rein religiöse Frau, mußte alles Denken und geistige Streben weit über die Grenzen der sichtbaren Natur hinausführen. Auch ihr war „alles Vergängliche ein Gleichnis“. Aus ihrer seelischen Struktur, für die sich alle Zusammenhänge der verschiedenen Schöpfungsbereiche mühelos in die organische Einheit einer großen Gottesidee einordnen lassen, erblüht auch ihre theologische Spekulation, ihre mystische Schau.

Das Sinn-Bild ist ihr notwendige Voraussetzung. Sie schaut es als eine ihr von Gott gezeigte objektive Realität. Aber es ist ihr nur Grundlage und Weg zur Darlegung der geoffenbarten Glaubenswahrheiten und der aus ihnen abgeleiteten sittlichen Forderungen. Damit gewinnt ihr mystisches Wort prophetischen Ausdruck und apostolisch gebietende Kraft.

So tritt Hildegard gänzlich aus dem Rahmen ihrer mystischen Zeitgenossen heraus. Weder mit Hugo von St. Viktor noch mit dem größeren heiligen Bernhard teilt sie ihre mystische Art. Aus der Zeitgeschichte läßt sich demnach ihre Eigenart nicht erklären7, noch ist es zulässig, sie an den Anfang einer Linie zu stellen, die mit Mechthildis endigt8. Von der bräutlichen Minne, die für die Schule von Helfta kennzeichnend ist, finden sich bei Hildegard kaum Anklänge. Wenn Mehlis mit Recht sagt: „Die kirchliche Frühmystik ist geneigt, die Wirkung der Kräfte als der göttlichen Gnadenmittel besonders zu betonen, aber die spätere Entwicklung führt dahin, die Unmittelbarkeit der mystischen Beziehungen von Gott und Seele auf das leidenschaftlichste zu betonen und dadurch die Gefahr eines religiösen Individualismus zu schaffen9“, so gehört die heilige Hildegard unbedingt noch zur frühchristlichen Mystik. Nicht zwar zeitlich, aber geistig steht sie noch ganz in der patristischen Gedankenwelt. Von ihr gilt auch, daß die Dreiheit von Begriff, Handlung und Symbol noch durchaus gewahrt wird, die in einer späteren Entwicklung der Mystik der „sehnsüchtig ekstatischen Gottesliebe“ geopfert wird10.

Das vorliegende Buch, das uns Hildegards erstes und bedeutendstes Werk nahebringt, wird nicht nur ihre ganz aus dem Glauben geschöpfte Weltanschauung vor uns ausbreiten, von ihm darf auch erhofft werden, daß es die innerste Wesensart der Heiligen erkennen läßt.

Der erhabene Aufstieg aus der Fülle natürlicher Einzelerscheinungen zur gewaltigen Harmonie des gesamten Kosmos und von der als Symbol geschauten und erlebten Natur zu dem über der Welt thronenden göttlichen, schöpferischen Urbilde alles Seins ist in seiner organischen Entfaltung das Formprinzip für das Gesamtwerk der rheinischen Seherin.

Die dem Scivias folgenden größeren Schriften Hildegards: „Die Lebensverdienste“ und „Die göttlichen Werke“ nehmen – wenn auch jeweils wieder in ganz neuartiger Weise – den gleichen Weg über das Symbol zur ewigen göttlichen Wirklichkeit, dem Urquell alles Geschaffenen.

Diese großzügige Einstellung bewahrt unsere Heilige vor dem asozialen Charakter, der an sich der Mystik eigen ist. Für den Mystiker „handelt es sich in erster Linie um das Verhältnis des Einzelnen zum Absoluten, nicht aber um das Gemeinschaftsverhältnis der Individuen zueinander11“. Die Äbtissin vom Rupertsberge ist so stark mit allen Bezirken der Schöpfung und ganz besonders der Kirche verwoben und verbunden, daß ihre Werke geradezu einen vorwiegend sozialen Geist atmen. Hierin offenbart sich in weitestem Maße ihre apostolische Tendenz, und hierin beruht auch die großartige Wirkung ihres Wortes und ihrer Schriften in der Öffentlichkeit. Einsam ist sie nur in den innersten Lebensquellen ihrer Seelenkräfte. Mit ihrem Werke aber gehört sie der Kirche und ihrem Volke.

Möge die erste deutsche Bearbeitung des Scivias dazu beitragen, in die innere Welt Hildegards einzuführen, die auch für die Gegenwart, deren Streben auf Ganzheit und Wesentliches gerichtet ist, an bildenden Werten reich ist.

Abtei Maria Laach, am Ersten Fastensonntag 1928.

† ILDEFONS HERWEGEN

ABT

1  Hedwig Conrad Martius, Realontologie. Sonderabdruck aus dem Jahrbuch für Phil. und phän. Forschung. Niemeyer, Halle 1925. H. C. Martius, Metaphysische Gespräche, Niemeyer, Halle 1921.

2  Helmuth Pleßner, Einheit der Sinne. Bonn 1923. Vgl. dazu Hans André, Pleßners Aesthesiologie des Geistes. Ein neuer Zugang zur Philosophie der Natur. Hochland 1924–25, II. Heft. Helmutb Pleßner. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin 1928.

3  Robert Grosche, Paul Claudel, II. Kapitel: Speculator Mundi. Hellerau 1928.

4  Liber beatae Hildegardis Subtilitatum diversarum naturarum creaturarum (Physica), Praefatio, PL 197 1125 A. Vgl. auch Jessen, Botanik der Gegenwart und Vorzeit. Leipzig 1864, S. 214 ff.

5  Scivias, I 4.

6  Hans André, Der Wesensunterschied von Pflanze, Tier und Mensch, Habelschwerdt 1925. Hans André, Über künstliche Blatt- und Blütenmetamorphosen bei der Schneebeere (Symph. rac. Michx.). Nebst Versuch einer charakterologischen Analyse pflanzlicher Lebensfunktionen. Abhandlungen zur theoretischen Biologie, hrsg. von Prof. Dr. Julius Schaxel. Heft 25. Berlin 1927.

7  Otto Karrer, Die große Glut. Textgeschichte der Mystik im Mittelalter. München 1926, scheint gerade bei der hl. Hildegard S. 163 ff. die Bedeutung der Zeitgeschichte zu überschätzen.

8  Georg Mehlis, Die Mystik. München 1927. S. 115.

9  Mehlis, a. a. O. S. 97.

10  Mehlis, a. a. O. S. 98.

11  Mehlis, a. a. O. S. 26.

DIE 35 BILDTAFELN
DES RUPERTSBERGER KODEX

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Die Seherin

Tafel 1 / Vorrede

 

 

 

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Der Leuchtende

Tafel 2 / Schau I 1

 

 

 

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Der Sündenfall

Tafel 3 / Schau I 2

 

 

 

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Das Weltall

Tafel 4/ Schau I 3

 

 

 

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Die Seele und ihr Zelt

Tafel 5 / Schau I 4

 

 

 

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Treue in der Versuchung

Tafel 6 / Schau I 4

 

 

 

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Auszug der Seele am ihrem Zelt

Tafel 7/Schau I 4

 

 

 

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Die Synagoge

Tafel 8 / Schau I 5

 

 

 

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Die Chöre der Engel

Tafel 9/ Schau I 6

 

 

 

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Der Erlöser

Tafel 10 / Schau II 1

 

 

 

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Die wahre Dreiheit in der wahren Einheit

Tafel 11 / Schau II 2

 

 

 

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Mutterschaft aus dem Geiste und dem Wasser

Tafel 12 /Schau II 3

 

 

 

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Gesalbt mit dem Heiligen Geiste

Tafel 13 / Schau II 4

 

 

 

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Der mystische Leib

Tafel 14 / Schau II 5

 

 

 

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Das Opfer Christi und der Kirche

Tafel 15 / Schau II 6

 

 

 

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Die Lebensspeise

Tafel 16 / Schau II 6

 

 

 

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Der gefesselte Feind

Tafel 17/Schau II 7

 

 

 

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Der Versucher

Tafel 18 / Schau II 7

 

 

 

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Der Allherrscher

Tafel 19 /Schau III 1

 

 

 

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Erloschene Sterne

Tafel 20/ Schau III 1

 

 

 

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Das Gebäude des Heils

Tafel 21 /Schau III 2

 

 

 

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Der Turm des Katschlusses

Tafel 22 /Schau III 3

 

 

 

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Fünf Gotteskräfte im Turm des Ratschlusses

Tafel 23 / Schau III 3

 

 

 

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Die Säule des Wortes Gottes

Tafel 24 / Schau III 4

 

 

 

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Das Erkennen Gottes

Tafel 25 / Schau III 4

 

 

 

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Der Eifer Gottes

Tafel 26 / Schau III 5

 

 

 

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Die dreifache Mauer

Tafel 27 / Schau III 6

 

 

 

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Die Säule der wahren Dreieinigkeit

Tafel 28 / Schau III 7

 

 

 

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Die Säule der Menschheit des Erlösers

Tafel 29 / Schau III 8

 

 

 

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Der Turm der Kirche

Tafel 30 / Schau III 9

 

 

 

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Der Menschensohn

Tafel 31 / Schau III 10

 

 

 

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Das Ende der Zeiten

Tafel 32 / Schau III 11

 

 

 

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Der Tag der grossen Offenbarung

Tafel 33 / Schau III 12

 

 

 

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Der neue Himmel und die neue Erde

Tafel 34 / Schau III 12

 

 

 

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Die Chöre der Seligen

Tafel 35 / Schau III 13

 

 

 

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ES BEGINNT DIE SCHAU DER DREI BÜCHER

SCIVIAS – WISSE DIE WEGE

GESCHAUT VON EINEM EINFÄLTIGEN MENSCHEN

Bildtafel 1

UND SIEHE! Im dreiundvierzigsten Jahre meines Lebenslaufes schaute ich ein himmlisches Gesicht. Zitternd und mit großer Furcht spannte sich ihm mein Geist entgegen.

Ich sah einen sehr großen Glanz. Eine himmliche Stimme erscholl daraus. Sie sprach zu mir: „Gebrechlicher Mensch, Asche von Asche, Moder von Moder, sage und schreibe, was du siehst und hörst! Doch weil du schüchtern bist zum Reden, einfältig zur Auslegung und ungelehrt, das Geschaute zu beschreiben, sage und beschreibe es nicht nach der Redeweise der Menschen, nicht nach der Erkenntnis menschlicher Erfindung noch nach dem Willen menschlicher Abfassung, sondern aus der Gabe heraus, die dir in himmlischen Gesichten zuteil wird: wie du es in den Wundern Gottes siehst und hörst. So tu es kund wie der Zuhörer, der die Worte seines Meisters erlauscht und sie ganz, wie der Meister es meint und will, wie er es zeigt und vorschreibt, weitergibt. So tu auch du, o Mensch! Sage, was du siehst und hörst, und schreibe es, nicht wie es dir noch irgendeinem andern Menschen gefällt, sondern schreibe es nach dem Willen dessen, der alles weiß, alles sieht, alles ordnet in den verborgenen Tiefen seiner geheimen Ratschlüsse.“

Und wieder hörte ich die Stimme vom Himmel zu mir sagen: „So tue denn diese Wunder kund! Und schreibe sie, also belehrt, und sprich:“

„Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, des Gottessohnes, als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte mir Herz und Brust gleich einer Flamme, die jedoch nicht brannte sondern wärmte, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den sie ihre Strahlen legt. Nun erschloß sich mir plötzlich der Sinn der Schriften, des Psalters, des Evangeliums und der übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testamentes. Doch den Wortsinn ihrer Texte, die Regeln der Silbenteilung und der [grammatischen] Fälle und Zeiten erlernte ich dadurch nicht.

Die Kraft und das Mysterium verborgener, wunderbarer Gesichte erfuhr ich geheimnisvoll in meinem Innern seit meinem Kindesalter, das heißt, seit meinem fünften Lebensjahre, so wie auch heute noch. Doch tat ich es keinem Menschen kund, außer einigen wenigen, die wie ich im Ordensstande lebten. Ich deckte alles mit Schweigen zu bis zu der Zeit, da Gott es durch seine Gnade offenbaren wollte.

Die Gesichte, die ich schaue, empfange ich nicht in traumhaften Zuständen, nicht im Schlafe oder in Geistesgestörtheit, nicht mit den Augen des Körpers oder den Ohren des äußeren Menschen und nicht an abgelegenen Orten, sondern wachend, besonnen und mit klarem Geiste, mit den Augen und Ohren des inneren Menschen, an allgemein zugänglichen Orten, so wie Gott es will. Wie das geschieht, ist für den mit Fleisch umkleideten Menschen schwer zu verstehen.

Als ich die Mädchenjahre überschritten hatte und zu dem erwähnten gereiften Alter gekommen war, hörte ich eine Stimme vom Himmel sagen: Ich bin das lebendige Licht, das alles Dunkel durchleuchtet. Den Menschen, den Ich erwählt1 und den Ich, wie es Mir gefiel, machtvoll erschüttert habe, stellte Ich in große Wunder hinein, mehr noch als die Menschen der alten Zeiten, die viele Geheimnisse in Mir schauten. Doch warf Ich ihn zur Erde nieder, damit er sich nicht in Geistesaufgeblasenheit erhebe. Die Welt hatte keine Freude und kein Ergötzen an ihm und fand ihn ungeschickt für weltliche Geschäfte, denn Ich habe ihn von trotziger Verwegenheit befreit. Furcht erfüllt ihn, und er zittert in seinen Mühen. Er leidet Schmerzen in seinem Marke und in den Adern seines Fleisches. Sinn und Gefühl sind ihm beengt, und schweres Leiden duldet er in seinem Körper, so daß keine Sicherheit in ihm wohnt, er sich vielmehr in allem als schuldig erachtet. Die Ritzen seines Herzens habe Ich umzäunt, damit sein Geist sich nicht in Stolz und Ehrsucht erhebe, sondern aus all dem mehr Furcht und Schmerz als Freude und Lust schöpfe.

So sann er denn aus Liebe zu Mir in seiner Seele nach, wo er den fände, der ihm helfend entgegenkomme. Und er fand einen2 und liebte ihn in der Erkenntnis, daß er ein treuer Mensch sei, der gleich ihm sich um den Auftrag Gottes mühe. Und er hielt ihn fest. Gemeinsam arbeiteten sie im hochstrebenden Eifer, meine verborgenen Wunder kundzutun.

Er aber [der von Mir Erwählte] erhob sich nicht über sich selbst, sondern neigte sich in der Selbsterhöhung der Demut und in der Zielstrebigkeit guten Wollens seufzend dem zu, den er gefunden.

Du also, o Mensch, der du all dies nicht in der Unruhe der Täuschung, sondern in der Reinheit der Einfalt empfängst, hast den Auftrag, das Verborgene zu offenbaren.

Schreibe, was du siehst und hörst!“

All dieses sah und hörte ich, und dennoch – ich weigerte mich zu schreiben. Nicht aus Hartnäckigkeit, sondern aus dem Empfinden meiner Unfähigkeit, wegen der Zweifelsucht, des Achselzuckens und des mannigfachen Geredes der Menschen, bis Gottes Geißel mich auf das Krankenlager warf. Da endlich legte ich, bezwungen durch die vielen Leiden, Hand ans Schreiben. Ein adeliges Mädchen von guten Sitten3 und der Mann, den ich, wie oben gesagt, heimlich gesucht und gefunden hatte, waren meine Zeugen. Als ich nun zu schreiben begann und alsbald, wie anfangs berichtet, die Gabe tiefsinnender Schriftauslegung in mir wirksam fühlte, kam ich wieder zu Kräften und stand von meiner Krankheit auf. Nur mit Mühe brachte ich in zehn Jahren dieses Werk zustande und vollendete es.

In den Tagen des Erzbischofes Heinrich von Mainz4, des Römischen Königs Konrad5 und des Abtes Kuno vom Disibodenberg6, unter dem Papste Eugenius7 sind diese Gesichte und Worte an mich ergangen. Und ich sagte und schrieb dies nicht nach der Erfindung meines Herzens oder irgendeines Menschen, sondern wie ich es in Himmelskundgebungen sah, hörte und empfing durch die verborgenen Geheimnisse Gottes.

Und wiederum hörte ich die Stimme vom Himmel. Sie sprach:

So rufe denn und schreibe also:

1  Hildegard.

2  Den Mönch Volmar vom Disibodenberg. Vgl. S. 376 f., 382.

3  Richardis von Stade, eine der geistlichen Töchter Hildegards.

4  Heinrich I. von Wartburg, Erzbischof von 1142–1153.

5  Konrad II., 1138–1152.

6  1136/37–1155.

7  1145–1153.

ERSTES BUCH

UNTER DEM FLUCH DER SÜNDE

Sie erkannten meine Wege nicht Ps 94

DER LEUCHTENDE

Bildtafel 2

ICH SCHAUTE – UND SAH etwas wie1 einen großen, eisenfarbigen Berg. Darauf thronte ein so Lichtherrlicher, daß seine Herrlichkeit meine Augen blendete. Von beiden Schultern des Herrschers ging, Flügeln von wunderbarer Breite und Länge gleich, ein matter Schatten aus. Vor Ihm, zu Füßen des Berges, stand ein Wesen, das über und über mit Augen bedeckt war – so sehr, daß ich wegen der Augen nicht einmal die menschlichen Umrisse erkennen konnte. Vor diesem Wesen stand ein anderes, im Kindesalter, mit mattfarbenem Gewand und weißen Schuhen. Über sein Haupt ergoß sich von dem, der auf dem Berge saß, solchen Lichtes Fülle, daß ich des Mägdleins Antlitz nicht zu schauen vermochte. Auch gingen von dem, der auf dem Berge saß, viele lebendige Funken aus, die die Gestalten mit sanftem Glühen lieblich umflogen. Der Berg selbst hatte sehr viele kleine Fenster, in denen Menschenhäupter, teils bleich, teils weiß, erschienen.

Und siehe, der auf dem Berge saß, rief mit starker, durchdringender Stimme und sprach:

Gebrechlicher Mensch, Staub vom Staub der Erde, Asche von Asche, rufe und sage, wie man in die Erlösung, die alles wiederherstellt, eingeht, damit die unterrichtet werden, die, obgleich sie den innersten Gehalt der Schriften kennen, ihn dennoch nicht aussprechen oder verkünden wollen. Denn sie sind lau und schwerfällig, die Gerechtigkeit Gottes zu beobachten. Ihnen tue die verschlossenen Geheimnisse kund, die sie furchtsam in verborgenem Acker fruchtlos vergraben. Ergieße dich wie ein überreicher Quell, und ströme geheimnisvolle Lehre aus, damit durch die Flut deiner Wasser die aufgerüttelt werden, die um der Sünde Evas willen dich [als Frau] für verächtlich halten. Denn du empfängst diese [Geistes-] Schärfe und Tiefe nicht von einem Menschen. Von dem himmlischen, furchtbaren Richter wird sie dir von oben her gegeben, wo dieses starke Licht unter den Leuchtenden mit heller Klarheit flammen wird.

Erhebe dich also, rufe und sprich, was dir durch die so starke Kraft göttlicher Hilfe kund wird, denn der, der seine ganze Schöpfung mit Macht und Milde regiert, durchströmt die, die Ihn fürchten und Ihm mit hingebender Liebe im Geiste der Demut dienen, mit dem Lichte himmlischer Erleuchtung und führt sie, wenn sie auf dem Wege der Gerechtigkeit verharren, zu den Freuden der ewigen Schau.

Erkenne nun, was du siehst:

Der große, eisenfarbene Berg bedeutet die Kraft und Ständigkeit des ewigen Reiches Gottes, das durch keinen Angriff hinfälliger Veränderlichkeit zerlöst werden kann. Der auf dem Berge in so hellem Lichte thront, daß die Herrlichkeit deine Augen blendet, sinnbildet im Reiche der Seligkeit den Beherrscher des ganzen Erdkreises im Blitzesleuchten unvergänglichen Lichtes, in göttlicher Hoheit. Unfaßbar ist Er dem menschlichen Geiste. Aber von seinen beiden Seiten geht, Flügeln von wunderbarer Breite und Länge gleich, ein matter Schatten aus. Das ist der treuhegende, milde Schutz, der in Ermahnung und Züchtigung die Geschöpfe beseligend umschirmt und die unaussprechliche Gerechtigkeit im endlichen Sieg ausgleichender Weisheit gerecht und gütig offenbart.

Die „Gottesfurcht“

Vor Ihm steht zu Füßen des Berges ein Wesen, über und über mit Augen bedeckt. Es ist die „Furcht des Herrn“, die vor Gott steht. In Demut schaut sie auf das Reich Gottes, ganz eingehüllt in die durch-dringende Schau guter und gerechter Zielstrebigkeit. Eifer und Beständigkeit wirkt sie in den Menschen. So groß ist die Menge der Augen, daß du ihretwegen nicht einmal die menschlichen Umrisse an ihr erkennen kannst, denn durch ihr unentwegtes Schauen schüttelt sie jedes Vergessen der göttlichen Gerechtigkeit, das häufig den Geist des Menschen einschläfert, von sich ab, und kein neugieriges Forschen, das den Sinn der Sterblichen entnervt, erschüttert ihre Wachsamkeit.

Die „Armut im Geiste“

Daher erscheint auch vor ihr ein anderes Wesen, im Kindesalter, mit matfarbenem Gewand und weißen Schuhen. Wenn nämlich die Furcht des Herrn vorangeht, folgen ihr die Armen im Geiste. Denn die Furcht des Herrn ist in der Hingabe der Demut der starke Halt für die Beseligung durch die Armut im Geiste. Nicht auf Prahlerei und Herzenshochmut sinnt sie, sondern liebt Einfalt und Nüchternheit des Geistes. Sie schreibt nicht sich, sondern Gott ihre guten Werke zu – darauf deutet ihr mattfarbenes Gewand – und folgt getreulich – mit weißen Schuhen – den lichten Spuren des Gottessohnes. Über ihr Haupt ergießt sich von dem, der auf dem Berge sitzt, solchen Lichtes Fülle, daß du des Mägdleins Antlitz nicht zu schauen vermagst. Denn mit so großer Macht und Kraft der Beseligung durchströmt die lichte Heimsuchung dessen, der jedes Geschöpf preiswürdig beherrscht, diese Tugend, daß dein unzureichendes, sterbliches Sinnen die Spannweite solcher Seligkeit nicht zu fassen imstande ist. Hat doch Er selbst, der die Reichtümer des Himmels besitzt, Sich in Demut unter die Armut gestellt.

Wenn endlich von dem, der auf dem Berge sitzt, viele lebendige Funken ausgehen, die die beiden Gestalten mit sanftem Glühen lieblich umfliegen, so bedeutet dies, daß vom allmächtigen Gott mannigfaltige, überstarke und in göttlicher Herrlichkeit leuchtende Kräfte kommen, um die, die wahrhaft Gott fürchten und getreulich die Armut im Geiste lieben, helfend und schützend zu umgeben und sie mit der sänftigenden Glut ihres Wirkens zu umfangen.

Darum sieht man auch im Berge selbst sehr viele Fensterchen, in denen Menschenhäupter, teils bleich, teils weiß, erscheinen. Denn der hocherhabenen, abgrundtiefen, alles durchschauenden Erkenntnis Gottes kann das Streben der menschlichen Handlungen nicht verhehlt noch verborgen werden. Sie tragen das Zeugnis ihrer Lauheit oder Reinheit in sich selbst. Manchmal ermatten nämlich die Menschen in ihren Herzen und Taten und überlassen sich schmachvollem Schlafe. Manchmal sind sie angeregt und wachen in Ehre, wie Salomon nach meinem Willen bezeugt: „Eine lässige Hand schafft Not, aber die Hand der Starken sammelt Schätze“ (Spr 10, 4).

Das heißt: Schwach und arm macht sich der Mensch, der nicht Gerechtigkeit wirken noch die Bosheit vernichten noch seine Schulden lösen will. In seinem Müßiggang hat er keinen Teil an den wunderbaren Werken der Seligkeit. Wer aber die heldenstarken Werke des Heiles tut und den Weg der Wahrheit läuft, der gräbt sich einen Quell unversieglicher Herrlichkeit, durch den er sich die kostbarsten Schätze auf Erden und im Himmel erwirbt.

Wer immer Erkenntnis im Heiligen Geiste und die Flügel des Glaubens besitzt, der gehe nicht achtlos an meiner Ermahnung vorüber, sondern er koste, umfange und trage sie in seiner Seele!

Nur in der Bejahung der eigenen Unzulänglichkeit, in Demut und heiliger Furcht öffnet sich der geschaffene Geist für das flutende Licht des Urlebendigen und wird Gefäß des sich mitteilenden Gottes. Einfalt, Nüchternheit und Wahrheit sind die Grundpfeiler dieser geistigen Haltung, göttliche Erkenntnis und tiefinnere Beseligung ihr überreicher Besitz. – Nun löst die zweite Schau die erste große Frage aus dem Werdegang der Menschheit: Woher stammt das Böse? Gut ist der Mensch vom guten Gott geschaffen, und doch spürt er in sich und um sich eine Macht, die nicht von der ewigen Liebe kommen kann. Mit tausend Gefahren umlauert sie von „unten“ her sein gottgeschenktes Leben. Woher stammt diese Macht, und wer hat sie gerufen?

1  Die Scheu, das übersinnlich Geschaute möchte durch konkrete Benennung auf gleiche Stufe mit den Sinneserkenntnissen der Körperwelt gestellt werden und so seinen rein symbolischen Charakter verlieren, veranlaßt die Seherin, ihren Beschreibungen oft ein einschränkendes Wort: „gleichwie“ oder „ähnlich wie“ (quasi, velut) vorauszusetzen. Wir lassen dies bei der Obersetzung häufig unberücksichtigt.

DER URSPRUNG DES BÖSEN

Bildtafel 3

ALSDANN SAH ICH eine unzählige Menge lebendiger Leuchten in strahlender Herrlichkeit. Wie des Feuers blitzende Glut flammten sie auf und prangten dann in ruhigem, heiterem Glanze. Doch alsbald erschien ein breiter, tiefer See. Sein Schlund öffnete sich wie ein Brunnen. Feurigen, stinkenden Rauch atmete er aus. Ein entsetzlich finsterer Nebel entstieg ihm und dehnte sich langgestreckt, bis er etwas wie eine Ader berührte, die voll des Truges zu sein schien. Durch diese drang er in ein lichtdurchstrahltes Land und wehte eine blendendweiße Wolke an, die von eines schönen Mannes Gestalt ausgegangen war. Viele, viele Sterne trug sie in sich. Und der Nebel verjagte die Wolke mitsamt der Mannesgestalt aus dem lichten Lande. Da lagerte sich der Lichtglanz gleich einem Walle um das Land. Zugleich gerieten alle Elemente der Erde, die zuvor in tiefer Ruhe verharrten, in Aufruhr und offenbarten furchtbar ihre erschreckende Macht1.

Und wiederum hörte ich die Stimme, die schon früher zu mir gesprochen hatte, sagen:

Wer mit gläubiger Hingabe Gott anhängt und in seiner Liebe brennt, den wird nie der Ansturm der Ungerechtigkeit schrecken und der Herrlichkeit ewiger Beseligung entreißen. Wer aber Gott nur zum Scheine dient, dem bleibt es nicht nur versagt, zu Höherem emporzusteigen, sondern er wird durch gerechtes Gericht von dem herabgestürzt, was er fälschlich erreicht zu haben vermeint.

Tafel 3 oberes Feld

Darauf deutet die unzählige Menge lebendiger Leuchten in strahlender Herrlichkeit, die du siehst. Sie sinnbilden das übergroße Heer der himmlischen Geister, die da aufblitzen in seligem Leben und in Herrlichkeit und Schönheit prangen. Als sie von Gott erschaffen wurden, machten sie nicht stolze Erhebung zu ihrem Anteil, sondern beharrten starkmütig in der Liebe Gottes. Wie des Feuers blitzende Glut flammten sie auf und prangen nun in ruhigem, heiterem Glanze. Das war, als Luzifer es wagte, sich mit seinem Anhang gegen den höchsten Herrn und Schöpfer zu empören. Da entbrannte in ihnen ob des Sturzes der Abtrünnigen der Eifer Gottes, und sie umkleideten sich mit der Wachsamkeit der göttlichen Liebe. Jene hingegen umdunkelte der Schlaf der Unwissenheit, die Gott nicht kennen will. So entstieg dem Sturze des Teufels in den Engelgeistern, die unerschüttert bei Gott verharrten, ein gewaltiger Lobpreis. Erleuchtet von der Schau [Gottes], erkannten sie mit durchdringender Klarheit, daß Gott nicht gestürzt werden kann. Da flammte in ihnen die Liebe auf. Auch sie sind nun gefestigt in der Gerechtigkeit. Alle Ungerechtigkeit ist ihnen wie Staub, den sie verachten.

Luzifer, der ob seines Hochmutes aus der himmlischen Herrlichkeit verstoßen wurde, war im Anfang seiner Erschaffung so vollendet, so groß, daß er seiner Schönheit und Kraft keinen Mangel erspürte. Doch er sah seine Schönheit und erwog bei sich die Gewalt seiner Kraft und – verfiel dem Stolz. Der redete ihm zu, er solle nur alles beginnen, was er wolle. Er werde schon fertig bringen, was er beginne. So erspähte der stolze Engel den Platz, den er erreichen zu können glaubte, an dem seine Kraft und Schönheit zur vollen Geltung kommen würden, und er sprach zu sich selber: „Dort will ich glanzen, wie dieser [Gott], hier“. Und seine ganze Streitschar stimmte ihm bei und sagte: „Was du willst, wollen auch wir“. Kaum aber gedachte er, vom Stolze aufgeblasen, diesen Wahnwitz auszuführen, da erhob sich wie eine feuerspeiende, schwarze Wolke der Eifer des Herrn. Die Teufelsbrut zerstob. Sie stürzte und wurde finster, lichtlos, sie, die in Himmelsherrlichkeit gestrahlt. Was soll das? Hätte Gott ihre Anmaßung nicht niedergeschlagen, Er wäre ungerecht, denn Er hätte denen Schutz gewährt, die die unteilbare Gottheit teilen wollten. Aber Er stürzte sie und machte ihre Bosheit zunichte. So tut Er allen, die sich gegen Ihn zu stellen wagen. Er stößt sie zurück vom Anblick seiner Herrlichkeit. Wie mein Knecht Job sagt: „Der Gottlosen Leuchte erlischt. Verderben kommt über sie. Er [Gott] teilt die Schmerzen seines Zornes aus. Wie Stroh vor dem Winde werden sie sein und wie Spreu, die der Sturm verweht“ (Job 21, 17) ...

Tafel 3 unteres Feld

Darum erscheint alsbald ein breiter, tiefer See. Das ist die Hölle. Breit wegen der Menge der Laster. Tief, denn sie ist der Abgrund des Verderbens. Sein Schlund öffnet sich wie ein Brunnen. Feurigen, stinkenden Rauch atmet er aus. Denn die Hölle verschlingt gefräßig die Seelen, hält ihnen verlockende Reize vor und zieht sie durch gottlosen Betrug hinab an den Ort der Qualen, wo das Feuer brennt, der Rauch sich erschreckend zusammenballt und todbringenden Gestank ausatmet. Grauenvolle Martern sind hier dem Teufel und seinem Anhang bereitet. Da sie sich vom höchsten Gute abgewandt haben, Es nicht kennen noch anerkennen wollten, sind sie nun von jedem Gute abgeschnitten, nicht weil sie es nicht erkannt, sondern weil sie es in maßlosem Stolz verachtet haben.

Beim Sturze des Teufels ist diese äußerste Finsternis, die jede Art von Strafe in sich schließt, erschaffen worden. Denn diese bösen Geister haben gegen die Ehre, die ihnen bereitet war, das Elend und die Strafe eingetauscht und statt der lichten Herrlichkeit, die sie besaßen, die dichteste Finsternis angezogen. Als der stolze Engel sich wie eine Schlange emporreckte, wurde er dem Kerker der Hölle übergeben, denn es kann nicht sein, daß einer sich über Gott emporschwinge. Könnten wohl in einer Brust zwei Herzen sein? So dürfen auch im Himmel nicht zwei Götter sein. Weil aber der Teufel und die Seinen dies in stolzer Anmaßung erstrebten, deshalb fanden sie den See des Verderbens bereit. Ihnen werden die Menschen, die ihre Nachahmer sind, beigesellt. Es gibt solche, die die letzte Verdichtung der Verdammnis erfahren, weil das Erkennen Gottes sie verworfen hat. Sie fahren hinab in die höllische Pein ohne den Trost jemaliger Errettung. Andere, die zwar Böses taten, aber nicht darin verharrten, stehen nicht im Vergessen Gottes. Sie empfangen Reinigung in jenseitigen Prüfungen. Einmal werden ihre Bande gelöst, und sie gelangen zur Ruhe in Gott.

So hat die Seherin2 den Uranfang des Bösen, die erste Sünde, in symbolischem Bilde geschaut. Eindringlich wendet sich nun die himmlische Stimme an die Menschen, um sie vor dem Verführer zu warnen. Sie sollen den Teufel fliehen, Gott lieben und alles Böse von sich werfen, wie mein Knecht Ezechiel mahnt: „Kehret um! Laßt ab von all euren Missetaten, daß nicht die Sünde euch zu Fall bringe“ (Ez 18,30) ... Dann nimmt die Stimme die Erklärung des Gesichtes wieder auf und geht damit zum zweiten Teil des Hauptthemas über: A Wie kam das Böse in den Menschen?

Ein entsetzlich finsterer Nebel steigt aus dem See herauf und dehnt sich in endlose Fernen, bis er etwas wie eine Ader berührt, die voll des Truges zu sein scheint. Das ist die Teufelslist, die aus dem Abgrund tiefsten Verderbens emporstieg und, um den Menschen zu täuschen, in die giftige Schlange fuhr, die den Frevel trügerischen Wollens in sich trug. Denn als Satan den Menschen im Paradiese sah, rief er mit großem Schrecken aus: „Wer ist dieser, daß er seine Stelle in der Wohnung der wahren Beseligung einnehmen soll?“ Er wußte ja, daß er seine eigene Bosheit noch nicht soweit getrieben hatte, sie in anderen Geschöpfen zur Vollendung zu bringen. Vielmehr sah er Adam und Eva in kindlicher Unschuld im Garten der Wonne weilen. Da erhob er sich mit großer Schlauheit, um sie durch die Schlange zu betrügen. Warum durch sie? Weil er erkannte, daß die Schlange ihm ähnlicher sei als jedes andere Tier. Durch ihre Arglist wollte er heimlich vollbringen, was er offen, in seiner eigenen Gestalt, nicht hätte vollführen können.

Als er nun beobachtete, wie Adam und Eva sich der Seele und dem Leibe nach von dem verbotenen Baume abwandten, wurde ihm klar, daß hier ein göttliches Verbot vorliegen müsse, und so gedachte er, gleich in seinem ersten Angriff sie mit Leichtigkeit zu stürzen. Er wußte nämlich nicht, daß ihnen der Baum verboten war, und folgerte es erst aus ihrer Antwort auf seine listige Frage.

So dringt denn, wie du siehst, der entsetzlich finstere Nebel in das lichtdurchstrahlte Land und weht die blendendweiße Wolke an, die, von eines schönen Mannes Gestalt ausgegangen, viele, viele Sterne in sich trägt. Das ist die unschuldige Eva, die aus dem unschuldigen Adam hervorgegangen, mit ihm im Garten der Wonne weilt. Alle Menschenkinder trägt sie – so hat es Gott vorherbestimmt – leuchtend in ihrem Schoße. Aber nun fällt der Teufel sie an, um sie durch Schlangentrug zu stürzen. Warum das? Weil er wußte, daß die Weichheit des Weibes leichter zu besiegen sei als die Stärke des Mannes. Zugleich erkannte er, daß in Adam die Liebe zu Eva so mächtig brannte, daß, wenn es gelingen würde, sie zu besiegen, Adam alles tun würde, was sie ihm sagte. Und der Nebel verjagte die Wolke mitsamt der Mannesgestalt aus dem lichten Lande. Der alte Verführer vertrieb durch seinen Betrug Eva und Adam aus der Wohnung der Seligkeit und stürzte sie in die Finsternis des Chaos. Eva hatte er zuerst verführt, damit sie Adam gewinne. Denn eher als jedes andere Geschöpf vermochte sie den Mann zum Ungehorsam zu bringen, weil sie aus seiner Rippe gebildet war ...

Daß die erste Frau aus dem Manne geformt wurde, deutet auf die eheliche Verbindung der Frau mit dem Manne. Nicht ziellos und in Gottvergessenheit darf diese Vereinigung vollzogen werden, denn der, der das Weib aus dem Manne nahm, hat diese Vereinigung gut und in Ehren eingesetzt, um Fleisch aus Fleisch zu bilden. Wie daher Adam und Eva ein Fleisch waren, so werden auch jetzt Mann und Frau ein Fleisch in der Vereinigung der Liebe zur Mehrung des Menschengeschlechtes. Deshalb muß vollkommene Liebe zwischen beiden sein wie einst zwischen den ersten Menschen. Adam hätte sein Weib verklagen können, weil sie ihm durch ihren Rat den Tod gebracht hatte. Dennoch entließ er sie nicht, solange er in dieser Welt lebte, da er erkannte, daß sie ihm durch göttliche Macht zugesellt sei. Um der vollkommenen Liebe willen also verlasse der Mann sein Weib nicht. Keine Scheidung sei zwischen ihnen, es sei denn, daß beide in einmütiger Gesinnung auf meinen Sohn schauen wollen und in brennender Liebe zu Ihm sprechen: „Wir wollen die Welt verlassen und dem folgen, der für uns gelitten hat“. Wenn sie aber nicht beide in solch einhelliger Frömmigkeit zusammenstimmen, sollen sie keineswegs auseinandergehen. Denn wie das Blut nicht vom Fleische getrennt werden kann, solange der Geist darin verweilt, so dürfen auch Mann und Frau sich nicht scheiden lassen, sondern sollen eines Willens miteinander wandeln.

Selbst wenn gesetzwidrige Unzucht an Mann oder Frau erfunden wird, sollen sie, entweder aus eigenem Antrieb oder vom Priester veranlaßt, als öffentliche Sünder den Urteilsspruch der geistlichen Obrigkeit nach Recht und Gericht auf sich nehmen. Der Gatte wie die Gattin können vor der Kirche und ihren Behörden gerechte Klage gegeneinander führen, doch niemals so, daß sie eine andere Verbindung suchen. Entweder sollen sie gemeinsam in ihrer berechtigten Bindung bleiben, oder sie sollen sich nach kirchlicher Entscheidung gemeinsam enthalten. Sie sollen nicht nach dem Sinne der Schlange ihr Einssein im Fleische zerreißen, sondern mit reiner Liebe einander lieben, denn sie selber – Mann und Weib – sind aus ehelicher Bindung hervorgegangen, wie mein Freund Paulus bezeugt: „Wie die Frau vom Mann, so der Mann durch die Frau, alles aber aus Gott“ (I Kor 11, 12) ...

Zwar hatten manche Väter des Alten Bundes nach ihrem Willen mehrere Frauen zugleich. Aber das war vor der Menschwerdung meines Sohnes. Noch hatten sie darüber nicht ein offenkundiges Verbot vernommen. Erst mein Sohn kündete die eine, bleibende Bindung, solange Gatte und Gattin in diesem Leben atmen, wie es auch die Bindung zwischen Adam und Eva gewesen war. Denn diese Bindung soll nicht aus dem Willen eines Menschen, sondern in Gottesfurcht vollzogen werden ...

Aufrechte Treue und reine Liebe sei in Anerkennung Gottes zwischen ihnen, damit nicht ihr Tun – ohne Gottesfurcht und menschliche Zucht – meine Rache herausfordere. Nach gerechtem Gerichte Gottes werden häufig zur Strafe solcher Vergehen denen, die daraus geboren werden, die Glieder verkrüppelt, und ihr Leben wird ein elendes sein ... Würde ein Töpfer Schmutz oder Kot in den Ton mischen, könnte das wohl ein haltbares Gefäß werden? So auch, wenn die Begegnung zwischen Mann und Frau in Sünde geschieht, wird sie dann Söhne der Kraft erzeugen? Viele mühen sich schwer unter der Unstäte ihrer Sitten und ihrer Adern. Sie ahmen in ihrem Ringen das Martyrium meines Sohnes nach, wenn sie die Keuschheit bewahren, und tragen sein Leiden an ihrem Leibe. Wo ich die Fruchtbarkeit versagen will, da versage Ich sie. Mein Gericht ist gerecht. Was wunderst du dich aber, Mensch, wenn Ich aus Sünde Kinder hervorgehen lasse? Mein Gericht ist gerecht. Seit dem Falle Adams finde Ich im menschlichen Samen die Gerechtigkeit, die in ihm sein sollte, nicht mehr. Der Teufel hat sie durch das Kosten des Apfels verjagt. Darum sandte Ich meinen Sohn in die Welt – ohne Sünde aus einer Jungfrau geboren –, damit Er in seinem Blute, dem keine Fleischesbefleckung anhaftet, dem Teufel das, was er dem Menschen geraubt hatte, entreiße.

Denn weder der in Sünden empfangene Mensch noch der körperlose Engel konnte den in Schuld darniederliegenden und unter der Schwere des Leibes sich mühenden Menschen der satanischen Gewalt entwinden. Nur der Eine, der ohne Sünde kam und einen reinen, sündelosen Leib empfing. Er hat den Menschen durch sein Leiden befreit. Darum sammle Ich die Menschen, obgleich sie in Sünden geboren sind, in mein himmlisches Reich – wenn sie es gläubig suchen. Meine Auserwählten kann kein Aufrührer mir entreißen, wie die Weisheit bezeugt, da sie sagt:

„Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand, und Todesqual berührt sie nicht“ (Wsh 3, 1) ...

Die Ohnmacht des Menschen gegenüber der dunklen Macht, die seit dem ersten Ungehorsam im Paradies vom menschlichen Geschlecht Besitz genommen hat, leitet den Gedankengang der Vision weiter zu der tiefer liegenden Frage nach dem Geheimnis: Wie pflanzt die Sünde sich fort?

Nachdem Adam und Eva aus dem Orte der Wonne vertrieben waren, erkannten sie in sich die Kraft, Kinder zu empfangen und zu zeugen, und da sie durch ihren Ungehorsam dem Tode verfallen waren, fanden sie Geschmack an der Süßigkeit der Sünde. Denn sie wußten nun um ihr Sündigen-Können. So kehrten sie meine gute Einrichtung in sündhafte Lust. Sie hätten wissen sollen, daß der Antrieb ihrer Adern nicht auf das Kosten der Sünde, sondern auf die liebende Sorge um Nachkommenschaft hinziele. Sie aber vergabten ihn unter Teufelseinflüsterung der bösen Lust. So verloren sie die Unschuld ihrer Begegnung und tauchten sie in Sünde. Weil aber dies auf Eingebung des Teufels geschehen ist, darum wirft der Versucher [immer wieder] nach dieser Tat seine Fangnetze aus, damit sie sich nicht ohne seinen Einfluß vollziehe. Er sagt sich: „Meine Macht beruht auf der Empfängnis des Menschen. Ihretwegen ist der Mensch mein!“3 Und da er erkannte, daß der Mensch Genosse seiner Qual sein müsse, weil er ihm zugestimmt hatte, sprach er weiter bei sich selbst: „Dem starken Gott ist alle Bosheit zuwider. Denn Ungerechtigkeit ist nicht an Ihm!“ Das also setzte der Betrüger in seinem Herzen als sein besiegeltes Recht fest: Der Mensch, der sich aus freien Stücken eines Sinnes mit ihm erklärt hat, könne ihm nicht mehr entrissen werden.

Aber gerade deswegen bestand in Mir der geheime Ratschluß, meinen Sohn zur Erlösung der Menschen zu senden, damit der Mensch dem himmlischen Jerusalem zurückgegeben werde. Keine Bosheit konnte diesen Ratschluß stürzen. Denn mein Sohn, der Menschgewordene, zog alle an Sich, die auf Ihn hören, Ihm folgen und der Sünde entsagen wollten. Ich bin gerecht und aufrecht und will das Böse nicht. Doch du, o Mensch, greifst nach dem Bösen, seit du die Erkenntnis des Bösen hast. Beide stürztet ihr, du und Luzifer, da ihr – kaum gerufen aus dem Nichts – euch wider Mich empörtet. Vom Guten fielt ihr ab zum Bösen. Aber Luzifer nahm das Böse ganz in sich hinein, und ganz verwarf er das Gute. Nichts davon kostete er und – fuhr hinab in den Tod. Adam kostete das Gute, solange er den Gehorsam umfing. Dann aber stieg in ihm die Lust zum Bösen auf, und er vollbrachte es in seiner Gier und kehrte sich gegen Gott.

Warum das so geschehen ist, sollst du, Mensch, nicht erforschen. Kein Sterblicher kann wissen, was vor der Grundlegung der Welt war, noch was nach dem Jüngsten Tage sein wird. Gott allein weiß es. Es sei denn, daß Er einiges davon seinen Erwählten zu wissen gestattet ...

In mahnender Milde und mit tiefem Ernst geht nun die erklärende Stimme noch einmal auf das Verhältnis von Mann und Frau ein. Blutsverwandte sollen sich nicht ehelichen, wenn dies auch im Alten Bunde um der Geschlossenheit des auserwählten Volkes willen gestattet war. Denn mein Sohn brachte die Fülle der Liebe, die die ungezügelte Fleischesverbundenheit in die züchtige Selbstbeherrschung eines neuen Volkes wandelte, das Er seiner Kirche aus dem geheiligten Taufquell erweckt.

Nur ein gereifter Mann soll eine gereifte Frau zur Ehe führen, und der Mann soll sich in Ehrfurcht zurückhalten, wenn das Mutterwerden der Frau oder ein schon beginnendes Menschenleben gefährdet ist.

Eindringliche Mahnungen schließen diese Gedankengänge. Wenn sich vor der ersten Sünde im Paradies die Harmonie des menschlichen Wesens und die Macht des Geistes nirgends so hoheitsvoll auswirkte wie in der Einbeziehung des Fleisches in die Schöpfung Gottes, die neue Menschen ins Dasein setzt, so traten nach