Thriller

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Das Treffen – Teil I

Tom Little – Die Folgen unserer Taten

Ein einprägsames Vorbild

Der unangenehme Weg zum Ruhm

Eine neue Bedrohung

Der Preis des Jobs

Das Treffen – Teil II

Benjamin Weiss – Anerkennung, Treue, Verrat und Liebe

Verraten, verkauft und verliebt

Zwei mächtige Verbündete

Das Treffen – Teil III

Connor Rock – Geisel des Schicksals

Auf der Suche nach der Vergangenheit

Ein fast normales Leben

Wind of Change

Eine gute falsche Tat

In den Fängen der Macht

Die Einführung

Überführt

Das letzte bisschen Menschlichkeit

Die Wahrheit über einen Freund

Connors innerer Kampf

Di Vaios Konsequenzen

Ein überraschendes Bündnis

Der Krieg der Zerours

Der Anfang vom Ende

Geduld und Planung

Verrat, Macht und Gier

Zurück in die Wirklichkeit

Die Geister der Vergangenheit

Und doch ist nichts wie früher

Danksagung

Autorenbiografie

Buchempfehlungen

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Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

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www.net-verlag.de

Erste Auflage 2016

© Coverbild: Detlef Klewer

Covergestaltung, Layout & Lektorat: net-Verlag

© net-Verlag, 39517 Tangerhütte

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-95720-146-1

***

Alles, was wir tun, alle Entscheidungen, ob große oder kleine, sind Abzweigungen in unserem Leben. Manche sind wie große Kreuzungen mit zahlreichen Wegen, andere nur kleine Schleichpfade, welche man gerne mal übersieht. Die einen entfernen uns nur leicht vom ursprünglichen Weg, andere sind Abkürzungen und wieder andere Umwege und manche sogar Sackgassen. Es gibt die leichten Wege und die unangenehmen. Es gibt schöne und düstere Pfade. Wie der Wanderer, der einfach darauf losläuft, ohne Karte, nur mit seinem Plan und Ziel im Kopf, so machen auch wir dies oftmals. Meist wissen auch wir nicht, welcher Weg der richtige ist, und vertrauen darauf, dass unser Instinkt uns leitet. Und manchmal muss man viele Weg gehen, um herauszufinden, welcher der richtige ist.

***

Das Treffen – Teil I

Oktober 2007 - Dodgeville, altes Sägewerk

Es war einer der letzten warmen Herbsttage. Die Sonne ging gerade unter, und das bunte Laub leuchtete in den letzten Sonnenstrahlen. Auf einem Fahrrad fuhr eine Gestalt durch das letzte Stück des Waldes, bis sie letztendlich in Richtung eines alten Sägewerkes aus dem Wald abbog.

Einst waren hier viele Arbeiter angestellt gewesen, und es herrschte stets Hochbetrieb. Doch seit der Stilllegung in den Achtzigern ähnelte hier das Klima einer Geisterstadt.

Der Fahrer musste ein Stück fahren, denn das Gelände des Sägewerkes war nicht gerade klein, doch schließlich hielt er an und stieg ab. Zunächst schien der Mann sehr unauffällig zu sein. Nur ein Mann, der in den Abendstunden noch einmal gemütlich durch den Wald fuhr. Auch wenn sich in dieser Gegend nur selten eine verirrte Seele blicken ließ, schien daran doch nichts ungewöhnlich.

Dem geschulten Auge fiel aber auf, dass etwas an dieser Person eigenartig war. An ihr selbst schien nichts Markantes; der Mann war mittelgroß, etwa 1,80 Meter, Mitte bis Ende vierzig und neigte bereits zur Glatze. Er machte ein ernstes Gesicht, und man sah einige Sorgenfalten und ein paar kleine Narben in einem ansonsten recht hübschen Gesicht. Doch seine Erscheinung passte nicht zu dieser Situation.

Er war nicht gerade sportlich angezogen. Zwar hatte er auch keinen Anzug an, doch trug er einen warm wirkenden Pullover, dazu abgetragene Jeans und Lederschuhe sowie einen langen Mantel über alldem. Nicht gerade eine Garderobe, die man zum Fahrradfahren nutzen sollte. Zumindest nicht für längere Ausflüge, und um an diesen abgelegenen Ort zu gelangen, bedarf es schon einiger Kilometer.

Obwohl er recht langsam gefahren war, wirkte er leicht entkräftet, als ob er nur selten Fahrrad fuhr. Bei näherem Blick aufs Fahrrad ließ sich dieser Verdacht bekräftigen, denn es war ein Damenrad.

Tom Little war sein Name, und er hatte sich tatsächlich noch nie viel aus dem Fahrradfahren gemacht. Zwar war er früher mal Läufer gewesen und recht gut in Form, doch nach einer Schusswunde in seinem Knie hatte er das Laufen aufgeben und sich gänzlich seinem Job gewidmet. Das Fahrrad hatte er sich von seiner zwanzigjährigen Tochter Ayleen geliehen, und wie man vermuten mag, war er nicht umsonst hier.

Hätte er eine Tasche oder einen Koffer dabei gehabt, so hätte jemand voreilig geschlussfolgert, dass Tom einen Drogendeal oder Ähnliches hier durchführen wollte. Seine Hautfarbe würde, für jemanden mit Vorurteilen, diesen Verdacht noch bestätigen, denn in den letzten Sonnenstrahlen sah man deutlich, dass er dunkelhäutig war.

Auch benahm er sich ziemlich verdächtig.

Er schob das Fahrrad seiner Tochter einige Meter und schaute sich unentwegt um. Nach kurzer Strecke blieb er stehen und atmete tief durch. Schließlich schien er sich entschieden zu haben und schob das Fahrrad wieder Richtung Wald.

Doch, anstatt aufzusitzen, ging er abseits der alten Pfade und platzierte das Fahrrad hinter einem alten, großen Baum. Das Fahrrad stand jetzt nur ein paar Schritte von einem Pfad entfernt, aber gerade weit genug, dass man es, jetzt, da es allmählich dunkel wurde, nicht sehen konnte.

Nun holte Tom eine Pistole heraus, und der Verdacht, dass hier etwas Kriminelles am Werke war, konnte so nur verstärkt werden. Doch im nächsten Augenblick erkannte man eine Dienstmarke, die ihn als Police Officer, um genau zu sein, sogar als Lieutenant, identifizierte.

Er kniete sich nieder und versteckte sie unter dem Laub am Hinterrad des Fahrrads. Für kurze Zeit musste er an seine Tochter denken, wie sie sich über ihr neues Fahrrad gefreut hatte. Ganz anders als er, mochte Ayleen das Fahrradfahren.

Er dachte an ihr bezauberndes Lächeln und an die Abende, die sie zusammen verbracht hatten. Er wusste, dass er es ihr nie an etwas mangeln ließ, zumindest seit der Trennung von ihrer Mutter.

Er war früher nie wirklich für sie da gewesen und war im Nachhinein nicht sonderlich überrascht, als seine Frau ihn verließ. Doch von da an musste er sich wieder um seine Tochter kümmern, konnte nicht mehr alles nur auf seine Ex-Frau abschieben. Auch wenn es nicht leicht war, Job und Tochter unter einen Hut zu bringen, so glaubte er – und das nicht ohne Stolz – dass er in den letzten Jahren ein guter Vater war.

Doch in letzter Zeit hatte ihn sein Job zunehmend mitgenommen, und er entfremdete sich wieder mehr von seiner Tochter, während sie langsam zu einer ansehnlichen Frau heranreifte. Er fragte sich, ob er sie jemals wiedersehen würde. Das fragte er sich häufig, denn sein Job war nicht ohne Risiko, das hatte er schon öfters zu spüren bekommen.

Nicht selten musste er seine Dienstwaffe, eine Smith & Wesson, benutzen, und jedes Mal überprüfte er vorher seine Waffe sorgfältig. So auch jetzt. Aus seiner Manteltasche holte er einen Beutel und aus ihm eine kleine Plane; auf dieser zerlegte er seine Waffe und reinigte sie noch einmal. Seine Waffe hatte immer funktioniert, vermutlich hätte sie das auch ohne diese Rituale, doch es gab ihm ein Gefühl von Kontrolle und entspannte ihn.

Viele Dinge, die Menschen tun, sind eigentlich gar nicht nötig, doch sie tun es aus Gewohnheit oder aus Aberglauben. Das wusste Tom; auch dass er genau aus diesen Gründen sein Ritual durchführte.

Schließlich lud er seine Waffe wieder und steckte sie in seinen Brustgurt. Nun griff er erneut in seine Manteltasche und holte eine viel kleinere Pistole heraus und vollführte mit ihr die gleiche Prozedur, bis er sie schließlich an seinem Knöchel platzierte.

Normalerweise trug er sie fast immer dort, doch beim Fahrradfahren war ihm dies unangenehm gewesen.

Nachdem er sein Ritual beendet hatte, stand er auf und schaute auf die Uhr. Es war 17 : 45 Uhr. Es wird Zeit, dachte Tom sich und schritt nun auf das Sägewerk zu, im vollen Bewusstsein darüber, dass jeder Schritt nach vorne ein Schritt in Richtung seines Grabes sein könnte. Er dachte wieder an seine Tochter und ging in Gedanken durch, ob er auch alles berücksichtigt hatte. Er war für den Fall eines Todes hoch versichert, und seine Tochter würde eine staatliche Summe erhalten. Ein Haus würde er ihr auch hinterlassen. Seine Tochter wusste nichts von alledem. Sie wusste wohl, wie gefährlich sein Job war, aber er hatte ihr nie die wirklichen Abgründe nahegebracht.

Doch sie musste es bereits bemerkt haben, wenn er sie an manchen Tagen, an denen er etwas Gefährliches vorhatte, fester als sonst drückte. Heute nicht. Er bereute dies.

Er hatte zwar erst vor einer Stunde erfahren, dass er hierher musste, doch ein guter Vater umarmt seine Tochter täglich.

Es sind die Kleinigkeiten, die das Leben ausmachen, das war Tom schon länger, aber nicht lang genug, klar. Ob er sie jemals wiedersehen würde?

In weit über neunzig Prozent der Situationen, die er für gefährlich gehalten hatte, passierte nichts. Doch so oft, wie er sich solchen Situationen aussetzte, häuften sich die unangenehmen Ereignisse dann doch. Und dieses Treffen war besonders riskant.

Am liebsten hätte er all seine Kollegen mobilisiert. Auch wenn nicht alle mit ihm klarkamen, wusste er doch, dass alle hinter ihm standen.

Ein bitterer Gedanke bemächtigte sich seiner. Denn eigentlich wusste er nicht, ob wirklich alle Kollegen so loyal waren. Schon öfters hatte er sich gefragt, wem er alles trauen konnte. Er wusste, dass nicht all seine Kollegen nur vom Staat bezahlt wurden. Das machte sie aber nicht zu schlechten Menschen.

In welche Richtung seine Gedanken eher gingen, war, ob die Gegenseite nicht vielleicht auch jemanden eingeschleust hatte. Das machte diese Situation noch gefährlicher.

Ihm kam es so vor, als wäre der Anruf von vor einer Stunde bereits vor Tagen gewesen. Eine hektische Stimme, männlich, teilte ihm mit, dass er wüsste, dass Tom jemanden eingeschleust hatte. Der anonyme Anrufer teilte ihm diesen Ort als Treffpunkt mit. Um genau zu sein, war der Treffpunkt die alte Sägemühle auf dem Gelände des stillgelegten Sägewerks. Sie war etwa dreihundert Meter von Toms Fahrradversteck entfernt.

Wäre er nicht alleine gekommen, hätte möglicherweise ein Freund des Anrufers einen Brief versenden können, womit die Existenz seines Undercovermannes nicht mehr geheim wäre. Das konnte er nicht riskieren.

Im war also praktisch keine andere Wahl geblieben, als alleine zukommen.

Zeit, um das Ganze zu planen, hatte er auch nicht gehabt.

Er ging noch einmal alle Treffen im Kopf durch und fragte sich, ob sie entdeckt worden waren. Eben diese Frage schürte auch seinen Verdacht, dass sein Revier selbst unterlaufen worden war, obwohl es dafür eigentlich keinen Anlass gab. Zwar wusste niemand, wer sein Undercovermann war, und die wenigsten, dass er einen hatte, doch einige ahnten es sicher, auch wenn sie nicht so töricht waren, es anzusprechen.

Eigentlich war es hirnrissig zu glauben, dass jemand dessen Identität kannte. Denn manchmal fragte sich Tom, ob er nicht zu sicher vorging, und ob, falls er sterben sollte, jemals jemand von den Taten seines Undercovermannes erfahren würde. Aber vielleicht war es nur eine Falle, und man wollte ihn dazu zwingen, seinen Spitzel zu verraten.

Tom machte sich da keine Illusionen, er wusste genau, dass er irgendwann nachgeben würde. Jeder Mensch hat seine Grenze, da machte Tom sich nichts vor. Er hoffte bloß, dass seiner Tochter dabei nichts geschehen würde. Dennoch – Tom hatte sich vorbereitet. Er wusste, dass es einen Zeitpunkt geben würde, an dem er einfach nur einen Namen ausspucken müsste und man ihm glauben würde. Selbst wenn er lügen würde, natürlich musste es ein passender Name sein.

Aber Tom kannte seine Gegner. Natürlich wusste er nicht genau, wer kommen würde, sofern es eine Falle war, aber er konnte es sich bildlich vorstellen.

Tom musste sich jetzt ernsthaft zusammennehmen, um wieder in die Realität zu kommen. Er brauchte einen klaren Kopf, um Herr der Lage zu sein.

Er sah schon Horrorszenarien vor seinen Augen. Seine Tochter, wie sie vom schlimmsten Abschaum, den man sich vorstellen konnte, vergewaltigt wird. Tom schrie den Namen nur so raus, doch es half nichts.

In einer anderen Vorstellung sah er seine Tochter vor seinem Grab, einem leeren Grab, da seine Leiche nie gefunden wurde. Sie schrie vor seinem Grab und verfluchte ihn; ihn, der sie alleine und im Stich gelassen hatte.

Schließlich verdrängte Tom all dies und war wieder im Hier und Jetzt. Er befand sich schon auf dem Gelände und fragte sich gerade, wie er durchs Tor gekommen war. Er wusste wirklich nicht mehr, ob es offen gewesen war, er das Schloss aufgebrochen hatte oder ob er über die Gitter geklettert war. Er war sich absolut im Klaren, dass seine Gedanken seine größte Schwäche waren und dass er bereits jetzt so ziemlich alles falsch gemacht hatte. Vor ihm hätte sich die Schweizer Garde postieren und er bereits umzingelt sein können, er wäre wohl mitten in sie hineingelaufen. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für seine Gedanken.

Wenn er abends von der Arbeit mal nach Hause lief, weil er alleine sein wollte, ja dann, dann konnte er so viel denken, wie er wollte. Doch hier musste er auf der Hut sein, er brauchte alle Sinne beisammen.

Kaum hatte er sich aus den Gedanken gerissen, begann er, die Umgebung ganz anders wahrzunehmen. Er schätzte seine Fluchtmöglichkeiten ein und welche Chance zum Verschanzen das Gelände bot. Natürlich wäre es ein Vorteil, jetzt zu wissen, ob er das Tor aufgelassen hatte. Andererseits, wenn es ein Hinterhalt sein sollte, würden sie ihm sicher dort zuerst den Weg versperren.

Alles in allem war das sowohl für einen Hinterhalt als auch für eine Flucht ein geeigneter Ort. Sicher, wären es mehr als ein Dutzend, die ihn angriffen, dann wären wohl alle Fluchtwege und Verstecke besetzt. Bei so einer Anzahl von Gegnern konnte er so oder so nicht hoffen zu entkommen. Im Nachhinein ärgerte er sich, dass er sich gegen Handgranaten entschieden hat. Er fand diese immer sehr brutal, doch so kurz vor einem möglichen Tod stellte er sich vor, wie er die Hälfte all seiner Angreifer mitnahm und wenigsten so in seinen letzten Momenten seinen Dienst an der Gesellschaft erfüllte und diesen Abschaum beseitigte.

Tom war nie ein brutaler Polizist gewesen. Nie einer von denen, die Verbrecher ausmerzen wollten. Doch bei dem Gedanken, sterben zu müssen, fiel es ihm leicht, möglichst viele seiner Mörder mit zunehmen.

Doch natürlich wusste er selbst, dass dieser Gedanke absurd war und er nicht so ohne Weiteres an Granaten gekommen wäre.

Er war nun vor dem Holzlager angekommen und schaute sich um. Es war mittlerweile etwas dunkel, und in dieser Gegend gab es keine Beleuchtung. Auf dem Gelände selbst standen mehrere alte Laternen, welche früher, als hier noch Betrieb herrschte, aktiv waren. Vermutlich musste auch irgendwo ein Sicherungskasten sein. Aber selbst wenn hier immer noch Strom fließen sollte, würde Tom dadurch riskieren, dass sein Treffen platzte.

Tom schaute auf die Uhr: 17 : 50 Uhr, noch zehn Minuten. Er kramte in der Innentasche seines Mantels und zündete sich eine Zigarre an, die er daraus hervorzauberte. Eigentlich war Tom gar kein Raucher. Doch er hatte sich angewöhnt, in solchen Situationen immer einige Zigarren dabei zu haben. Das machte auf die Personen, die er zu treffen pflegte, einen gewissen Eindruck, und nicht wenige mochten dann auch eine seiner Zigarren, das lockert eine solche Situation unheimlich auf. Zudem hatte es den Vorteil, dass seine Hände beschäftigt waren und er sich nicht auch noch Gedanken darüber machen musste, wie er diese am besten halten sollte. Handbewegungen sind mit das Natürlichste der Welt, aber wenn man unter Druck ist, weiß man plötzlich nicht mehr, was man mit den Händen anfangen soll, ohne durch eine Geste falsche Signale auszusenden.

Nun setzte er sich, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf den Boden und wartete. Die Zeit verstrich, und seine Uhr zeigte bereits 18 : 05 Uhr an. Doch Tom wusste, dass das nichts Ungewöhnliches war; der anonyme Anrufer war vermutlich schon lange hier und beobachtete ihn nur, schaute, ob er auch alleine sei. Tom hatte schon einmal knappe zwei Stunden bei einem ähnlichen Treffen warten müssen, bis sein Gegenüber auftauchte. Aber er hatte auch schon wesentlich länger vergebens gewartet.

Dann ging alles ziemlich schnell. Jemand rief seinen Namen. Tom stand auf. Sein Herz pochte, und selbst das Atmen fiel ihm schwer.

Plötzlich ging das Licht der Anlage an. Tom wurde es mulmig zumute; er konnte sich nicht vorstellen, dass es noch Strom gab. Er war sich fast sicher, dass es sich um eine Falle handelte. Er kannte seine Feinde und wusste, dass sie die Macht hätten, hier für Strom zu sorgen. Er hatte sich schon in vielen Ecken mit anonymen Typen getroffen. Dieser Ort hier wäre der perfekte für einen jener, der nur so vor Paranoia strotzte, eben eine solche Person würde niemals das Licht anmachen.

Unweigerlich ärgerte Tom sich, nicht stärker bewaffnet gekommen zu sein. Doch noch gab es Hoffnung. Tom war nicht unbekannt, die Medien kannten ihn. Bei einer Hinrichtung hier und jetzt würde er vermutlich zum Märtyrer. Das wollte Tom zwar nicht wirklich werden, aber er wusste, dass auch andere das nicht wollten. Sein Tod könnte eine panische Welle der Empörung auslösen, allerdings sind die Zerours mittlerweile so stark, dass es sie nicht interessierte.

Vielleicht wollte man ihn bedrohen, erpressen oder für einen Verrat einspannen. Doch all seine Hoffnung schwand, als sich acht Personen auf Tom zubewegten und Tom den Ersten erkannte.

Tom bekämpfte seit Jahren das organisierte Verbrechen. Doch seit einiger Zeit kämpfte er weder gegen die Triaden noch gegen die Mafia oder Ähnliches. Er kämpfte gegen alle. Irgendwann waren es die vielen Organisationen leid, sich gegenseitig auszulöschen, und schlossen sich zusammen zu einer großen, die sich simpel, prägnant und natürlich inoffiziell die Zerours nannte, was von der Stunde Null abgeleitet worden war. Damit wurde verhindert, dass durch die Namenswahl eine der alten Organisationen besonders herausstach. So war zumindest vom Namen her klar, dass alle Beteiligten gleich sind. Wobei gar nicht sicher war, ob der Name von den Zerours selbst als Solcher erdacht war. Es spielte keine Rolle, woher er letztlich stammte, aber er hatte sich durchgesetzt und bezeichnete Toms schlimmsten Albtraum.

Natürlich gab es intern eine bestimmte Hierarchie, die durch viel Blut vor der Fusion der Organisationen erkauft wurde. Und ein Mann hatte im Endeffekt die Hauptmacht, womit natürlich dem eigentlichen Sinn einer Gleichberechtigung durch einen eigenen Namen widersprochen wurde.

Seitdem begann eine harte Zeit für die Polizei, die Verluste unter ihren Reihen nahmen wieder extrem zu. Die Organisationen waren stärker denn je, schwächten sie sich doch nicht mehr gegenseitig.

Eine von Toms Vermutungen war, dass es unter den Zerours Streitigkeiten gab und ihm ein Teil Hilfe anbot, um die anderen auszuschalten. Doch was er hier sah, überzeugte ihn vom Gegenteil: Italiener, Russen, Amerikaner, Asiaten – von allen war jemand vertreten, jede von den starken alten Organisationen war präsent.

Der Erste, den Tom identifizieren konnte, war Toni Molinaro. Für eine Einschüchterungsmission war Toni der Falsche; Toni war als Schlächter bekannt. Für viele Polizisten war er der Letzte gewesen, den sie sahen. Tom vermutete siebzehn Polizistenmorde alleine durch Toni. Er war ein hartgesottener Typ, der alles Mögliche unternahm, um seine Feinde zu verletzen. Allerdings hat er wohl auch schon Gegner gefunden, die ihm ebenbürtig waren. So fehlten ihm drei Finger der rechten Hand, zudem ging das Gerücht um, dass er vor der Fusion von jemandem aus einer der anderen Organisationen entmannt worden war.

Auch der Rest der Meute machte Tom unruhig. Unter ihnen war auch Aleksej Bystrov, Mitglied der ehemaligen Russenmafia, welcher bevorzugt als Meuchelmörder eingesetzt wurde oder als Kindesentführer, um hohe Persönlichkeiten zu erpressen. Er hat weder ein Gewissen noch Skrupel. Sein erster Mord ist wohl der Einzige, den man ihm je offiziell zuschreiben konnte. Als er vierzehn Jahre alt war, musste sein eigener Vater dran glauben. Dieser war fast täglich betrunken nach Hause gekommen, hatte ihn und seine Geschwister misshandelt. Eines Abends schüttete der junge Aleksej den kostbaren Alkohol über seinen den Rausch ausschlafenden Vater. Dieser wachte davon auf und hielt es für einen dummen Scherz seines Sohnes. Natürlich schlug er ihn sofort. Doch Aleksej ging lachend zu Boden. Sein Vater war nun verwirrt, bis er schließlich das Streichholz in den Händen seines Sohnes sah und kurz darauf in Flammen aufging. Da er noch minderjährig war und in Not gehandelt hatte, musste Aleksej dafür nicht lange büßen und wurde durch diese Tat schnell eine hohe Persönlichkeit im organisierten Verbrechen.

Im Vergleich zu Toni fehlte ihm nur das Ohr, ansonsten war er noch recht unbeschadet. Nachdem er der Russenmafia beigetreten war, warf ihm ein Höherrangiger vor, dass er nicht auf die Befehle der Mafia höre. Ohne mit der Wimper zu zucken, schnitt Aleksej sich das Ohr als Zeichen seines Gehorsams ab und meinte, jedes Mal, wenn er gebraucht würde, sollte man nur in das Ohr sprechen.

Tom erkannte als Nächstes einen Asiaten, den alle nur den Flinken Jonny nannten. Er war ein unglaublicher Kämpfer, liebte es, seine Gegner ganz ohne Waffen auseinanderzunehmen, und war imstande, Menschen mehr Schmerzen ohne Folterwerkzeug beizubringen, als andere mit. Während sich die Organisationen noch selbst bekriegten, hat wohl keiner so viele Männer ins Jenseits geschickt wie Jonny. Jeder der Anwesenden kannte wohl einen, den Jonny umgebracht hatte. Bei den Polizisten, die er jetzt bekämpfte, war Jonny bei Weitem nicht so fleißig. Dass er Skrupel zeigte, war unwahrscheinlich, vermutlich fehlte ihm die Herausforderung, Polizisten zu ermorden, da diese auf einem anderen Niveau, nämlich mit Regeln, kämpften. Zudem war er angeblich für das Kampftraining der Zerours zuständig und ein Schleifer, was ihm sicher den einen oder anderen Feind in den eigenen Reihen bescherte. Auch wenn Jonny unbeliebt unter seinesgleichen war, hätte Tom gerne auf seine Anwesenheit verzichtet.

Nathan Tomkins war ein Muskelpaket, wie man es sich nur vorstellen konnte. Er war mal Westler gewesen, wurde aber wegen seiner Brutalität ausgeschlossen. Bei seinem letzten Kampf tötete er seinen Gegner, indem er ihm mit dem Ringseil das Genick brach. Allerdings machte Nathan Tom nicht sonderlich viel Angst. Nathan würde ihm nichts zufügen, was die andern nicht auch könnten. Er war auch nicht gerade der Hellste unter den Typen.

Überraschend stellte Tom fest, dass auch ein recht unbeschriebenes Blatt dabei war. Wenn ihn nicht alles täuschte, vermuteten die Zerours, dass es sich hier um den Verräter handelte. Andererseits könnte es auch eine Feuertaufe sein. Zumindest wusste Tom, dass dieser junge Mann, der so gar nicht zu den anderen passte, Connor Rock hieß. Er war noch nicht lange dabei, gehörte vorher keiner der einzelnen Banden an, sondern kam erst nach der Fusion hinzu. Gerüchten zufolge habe er dem jetzigen Oberboss Di Vaio vor zwei Jahren, als die Banden zu zerbrechen drohten, das Leben gerettet. Bei dem Gedanken stellte Tom fest, dass Connor doch schon etwas länger dabei sein musste. Tom konnte sich aber nicht erinnern, dass dieser jemals etwas Gesetzloses getan hätte. Seine Akte war tadellos, bis auf dieses Gerücht.

Im Gegenteil war dem jungen Mann sogar schon einiges zugestoßen: Seine Eltern und seine Pflegemutter waren gestorben und ein guter Freund in einem Streit getötet worden.

Vielleicht hatte man ihn in den letzten zwei Jahren einfach nur umgepolt, als Dank für die Rettung Di Vaios. Und das heute war für ihn die Arena, dies zu beweisen.

Das alles war nur Spekulation.

Was er aber noch wusste, war, dass Connor seit mehreren Monaten verschwunden war. Tom hatte eigentlich geglaubt, er habe das Weite gesucht oder wäre beseitigt worden. Doch er hatte sich wohl geirrt, und unglaublicherweise machte er Tom nervöser als alle anderen, denn er war unberechenbar. Tom hatte sowohl Mitleid mit ihm als auch Angst um seine Rolle an diesem Tag.

Der Nächste, den Tom erkennen konnte, war Benjamin Weiss. Ein krankhafter Ex-Neonazi, der von oben bis unten mit allem Möglichen tätowiert war. Neben diversen Hakenkreuzen gab es mehre Liebeserklärungen an verflossene Flammen auf seinem Körper. Schreckliche Narben und jede Menge Muskeln komplettierten den furchterregenden Eindruck, der von diesem Mann ausging. Warum wohl ein Ex-Neonazi in dieser bunten Gruppe mitmischte? Nun, für Benjamin gab es eigentlich nur einen Grund, Nazi zu werden: Er konnte andere Leute unterdrücken und quälen. Und als er merkte, dass er bei den Zerours eben das in einem viel größeren Rahmen verwirklichen konnte, war er sofort dabei. Sein Ruf war sicher das ideale Empfehlungsschreiben.

Der Nächste war ein recht klein gewachsener Mann. Tom erkannte ihn nicht gleich, aber er ahnte, dass er Silence vor sich hatte. Dann erblickte er die Narbe an dessen Hals, die der Grund dafür war, dass er nicht sprechen konnte und ihm seinen Namen einbrachte.

Bevor die Zerours zusammenwuchsen, war er eine Art Söldner gewesen. Angeblich hat er schon alles gemacht: Diktatoren in Afrika gestürzt, Firmenoberhäupter vergiftet und Politiker in unscheinbare Unfälle verwickelt. Seit die Zerours existierten, leisteten sie sich den Luxus, Silence dauerhaft anzustellen. Wen wunderte es. Wenn man den Gerüchten trauen mochte, war Silence ein exzellenter Schütze, beherrschte mehrere Kampfsportarten und kannte sich sowohl mit Giften als auch mit Sprengstoff aus. Der perfekte Killer also, doch das traf heute auf mehrere der Anwesenden zu.

Ringo Blaise war der Letzte in der Runde. Hätte Tom ihn nicht gekannt, hätte er gedacht, dass er genauso wie Connor nicht zu dieser Gruppe passte. Anzug und Krawatte, alles Maßarbeit, stilvoll gekleidet wie das Oberhaupt einer großen Firma stand Ringo da. Um genau zu sein, war er so etwas Ähnliches, denn in der Öffentlichkeit leitete er die Geschäfte und vertrat die Zerours. Wenn Tom hätte tippen sollen, wer der neue Boss des Mafiapartes der Zerours würde, wüsste er, wer es wäre. Intelligenz, Stil und ein außergewöhnliches Talent, Leute umzubringen zeichneten Ringo aus. Das Einzige, das ihn hätte stoppen können, war sein eigener Ehrgeiz. Irgendwann würde Di Vaio merken, dass Ringo ihm gefährlich werden könne. Doch Ringo hatte auch viel Macht in den Zerours und vor allem seinen Bruder Ray, der ihm den Rücken freihielt.

Tom fragte sich unweigerlich, warum all diese Männer hier waren. Wollte man ihn töten, hätte einer von ihnen mit ein paar Handlangern gereicht. Vielleicht glaubten sie auch wirklich, dass einer dieser Leute für ihn arbeitete. Es lag also nahe, dass sie Verstärkung brauchten. Sieben gegen zwei; alles Profis, das wäre ein sicheres und abgekartetes Spiel. Connor bereitete ihm allerdings Kopfzerbrechen. Hielten die Zerours ihn für so gefährlich, dass er bei dieser Runde mithalten konnte? Eins musste man den Planern dieses Abends lassen: Sie lagen richtig, einer der acht gehörte zu Tom. Die Frage war bloß, ob er ihm auch heute zu helfen gedachte beziehungsweise ihm helfen konnte.

So wie es aussah, hatten sie keine Verstärkung dabei, und in Tom keimte Hoffnung auf. Theoretisch wäre es kein Problem gewesen, dreißig Leute oder mehr zusammenzutrommeln. Doch hätten diese unweigerlich gesehen, dass es einen Verräter gab. Tom glaubte langsam zu ahnen, warum diese acht hier sind. Sie waren alle loyal und gehörten zum höheren Kreis der Zerours. Keiner von ihnen würde Zweifel oder Skrupel haben, einen Verräter umzubringen, und keiner würde den anderen erzählen, was hier vorgefallen war. Man hatte wohl vor, den Verräter zu enttarnen, sofern man ihn nicht schon längst kannte und ihn mit Tom beseitigen wollte.

Wenn es anschließend hinterfragt würde, dann hätten die beiden sich gegenseitig umgebracht. Das musste es sein, da war sich Tom sicher.

Doch die ihm wichtigste Frage konnte er nicht beantworten: Wussten sie, wer sein Mann war? Denn könnte Tom den Verdacht auf jemand anderen, vielleicht Silence, lenken, dann wäre alles noch offen und möglich. Dieser könnte nicht so leicht widersprechen, da er nicht imstande war zu reden. Und da er eine Art Söldner war, wäre es durchaus logisch, dass er für Tom arbeitete. Und Tom schätzte, dass sobald Silence Zweifel hätte, ob man ihm misstraute, er anfangen würde, sich freizuschießen. Silence würde sicher ein bis zwei Leute mitnehmen.

Tom sah eine Chance, aus der Sache heil rauszukommen.

Nun war er allerdings umkreist; bedächtig schritten die acht um ihn herum. Keiner hatte eine Waffe gezogen, aber man konnte bei den meisten bereits erkennen, dass sie bewaffnet waren.

Tom brach das Schweigen als Erster. »Nun, ich nehme nicht an, dass ihr nur mit mir reden wollt. Nicht die Crème de la Crème der Zerours. Ich nehme an, ihr seid hier, um mich umzubringen. Nun, sei es so, doch vorher gestattet mir noch eine Zigarre! Darf ich einem der Herren eine anbieten?« Tom war tatsächlich nicht nach Rauchen zumute, absolut nicht, er war auch nicht so cool, wie er wirkte, aber ihm war eingefallen, dass er wieder mal nicht aufgepasst hatte und wegen der einbrechenden Kälte seinen Mantel geschlossen hatte. Seine Waffe war für ihn also außer Reichweite.

Er wurde immer noch fixiert, aber es kam keine Antwort. Also öffnete er unter ansteigendem Puls ganz langsam seinen Mantel und nahm die Zigarrenpackung aus der Innentasche. Er zündete sich eine an und warf die Packung Ringo zu, welchen er für den Anführer hielt.

Dieser blieb reglos stehen, ließ die Packung an sich abprallen und zertrat dann unversehens die Zigarren.

Tom hatte wohl recht und Ringo das Sagen, denn er blieb an der Stelle, wo er Toms Zigarren zertreten hatte, stehen, woraufhin sich alle anderen hinter Ringo postierten, während dieser aus dem bisherigen Monolog eine Konversation machte: »Du elender Bulle, hast du wirklich geglaubt, uns hereinlegen zu können? Eigentlich hielten wir dich für einen cleveren und gewitzten Gegner. Ein Irrtum wohl. Wir sind stärker denn je, und niemand wird uns besiegen. Und schon gar nicht mit Aktionen, die solche Spuren hinterlassen. Zeig es ihm, Toni!«

Toni stellte eine Bowlingtasche ab. Tom hatte vermutet, dass diese Folterinstrumente enthielt, denn das war durchaus Tonis Masche. Tom hatte erst vor sechs Monaten einen guten Freund betrauern müssen, der wohl auf Tonis Konto ging. Ihm wurden die Finger seiner linken Hand abgeschnitten, und mit der rechten musste er jene aufspießen und essen. Zumindest fand man Teile seiner Finger in dessen Magen.

Doch es kam kein Folterinstrument hervor, sondern ein Kopf, und wie bei einer Bowlingkugel steckte Toni seine Finger in die Nasenlöcher, seinen Daumen in den Mund und schmiss den Kopf dann Tom zu.

Dieser war völlig überrumpelt und konnte im letzten Moment den Kopf fangen. Tom wurde speiübel. Aber nicht wegen dem Kopf, bedauerlicherweise hatte er so etwas schon mal erlebt. Er kannte dieses Gesicht, in das er nun blickte; es gehörte einem Kollegen aus einem anderen Revier.

Ihm wurde schlagartig klar, dass sein Mann wohl doch nicht aufgeflogen war. Man hielt den Mann, den Tom als Roland Fleck in Erinnerung hatte, wohl für seinen Spitzel, dabei hatte er ihn kaum gekannt. Er wäre auch nicht so dämlich gewesen, ihn einzuschleusen. Klar, Roland war direkt von der Akademie, und Tom kannte ihn auch nur, weil er ihn damals direkt von dort für das Nachbarrevier vermittelt hatte. Normalerweise war das nicht sein Job, doch er war sowieso vor Ort gewesen, und man hatte ihn gebeten, einen zweiten Mann zu finden. Vermutlich hatte Roland nie fürs Revier gearbeitet, sondern wurde gleich von Lieutenant Francis Holmes an die Front geschickt. Somit hatte er, Tom, also dessen Todesurteil gefällt, als er ihn für tauglich erklärt hatte.

Viel mehr als der Kopf des Toten widerte Tom an, wie er ausgenutzt worden war und wie aus dem netten Roland, der sicher schnell zum Detektiv oder gar Sergeant aufgestiegen wäre, ein Undercoveragent wurde.

Tom hatte damit nichts zu tun, aber er musste ihnen wohl etwas vorgaukeln, um seinen Mann erst mal zu decken. Nun hoffte Tom wieder, dass man seinen wahren Undercoveragenten nicht enttarnt hatte, und schöpfte Hoffnung. Gleichzeitig war es ihm unangenehm, dass der Tod des jungen Roland für ihn erst mal eine Erleichterung war. Tom überlegte, ob er sich vielleicht mit seiner Mimik verraten haben könnte, als er die Männer gemustert hatte. In dieser Hinsicht war er sich unsicher, doch er wusste, dass er bei Connor gestutzt hatte. Da dieser aber nicht sein Mann war, konnte das sogar gut für ihn gewesen sein.

Langsam, fast behutsam, legte Tom den Kopf von Roland zur Seite und schloss dessen Augen.

Ringo machte einen zufriedenen Eindruck. »Nun, das war’s dann wohl, dein Plan ist gescheitert, alter Mann. Wie konntest du glauben, dass wir diesen Jungspund nicht entlarven! Der ist doch noch grün hinter den Ohren. Es war ein Leichtes, ihm zu entlocken, dass du ihn rekrutiert hast.«

So alt war Tom mit seine siebenundvierzig Jahren nicht, aber er wusste, dass das »alter Mann« nicht nur auf sein Alter abzielte, Ringo hatte ihn damit bereits jetzt für tot erklärt.

Dies störte ihn aber kaum, denn er fühlte sich, seit er hier angekommen war, bereits mehr tot als lebendig. Viel mehr schmerzte ihn, dass Roland wohl geglaubt hatte, dass Tom ihn wissentlich rekrutiert hatte. Das tat ihm weh und verstärkte sein Übelkeitsgefühl. Vielleicht hatte Roland auch die Aufmerksamkeit auf Tom lenken wollen. Eventuell hatte Francis noch mehr Eisen im Feuer. Damit wäre Roland sowohl eiskalt als auch überaus intelligent gewesen.

Ringo sprach derweil weiter: »Dein Ende ist nahe, doch nicht nahe genug, wie du bald herausfinden wirst. Du fragst dich sicher, was dir die Ehre unserer Anwesenheit verschafft. Nun, du kennst unseren Ruf und unsere, sagen wir, Talente. Wir sind da, um dich zu quälen und dir zu versichern, dass wir uns um die kümmern werden, die du liebst – und zwar persönlich. Auch um deine verdreckte Mischlingstochter. Sie wird Qualen durchleben, die sie nicht aushalten wird; vielleicht wird sie sich selbst umbringen.«

Tom wusste immer, wann er die Nerven bewahren musste, und normalerweise konnte er dies auch ganz gut. Ihm war klar, dass seiner Tochter genau das blühte, wenn er jetzt darauf einging. Andererseits war ihm sehr bewusst, dass dies wohl oder übel so sein wird.

»Meine Tochter ist eine junge und ehrwürdige Frau. Sie wird sich niemals das Leben nehmen, sie wird es ertragen und mit mir im Himmelreich auf eure Ankunft in der Hölle warten.«

Allesamt fingen sie an zu lachen (wobei Silences breites Grinsen verriet, dass er mitlachen würde, sofern er dies könnte), bloß Connor wirkte nachdenklich, fast traurig und besorgt.

Als Ringo die Hand hob, schwiegen alle wieder. Ruckartig zeigte Ringo auf Connor und befahl ihn zu sich.

»Siehst du diesen Jungen? Schaue ihn dir an: einundzwanzig Jahre alt, groß, schlank, braune Haare, doch recht anschaulich. Sein Leben war langweilig, und er hatte kein Ziel. Wir nahmen ihn auf und bildeten ihn aus. Jetzt ist er schon eine Weile einer von uns, und obwohl du ihn vermutlich nicht kennst, ist er einer unserer wichtigsten Leute und hat bereits viele Männer getötet. Du bist also nicht sein erstes Opfer, aber vielleicht sein wichtigstes.«

»Willst du mir damit sagen, dass ich mich in ihm getäuscht habe, da er unscheinbar wirkt und so gar nicht zu euch passt? Als ob ich jemals jemanden von euch unterschätzen würde. Vielleicht mag früher eine gute Seele in ihm geschlummert haben, doch ihr habt ihn verdorben. Und sofern er es sein wird, der mir den Gnadenstoß erteilt, so wird er glücklicherweise nicht seine Unschuld durch mich verlieren. Aber es ehrt mich, dass euer aller Anwesenheit vonnöten ist, um mich ›alten Mann‹ umzulegen. Doch ich werde nicht alleine gehen.«

Blitzschnell zog Tom seine Kanone, und bis auf Connor und Ringo taten es ihm alle gleich, aber keiner schoss, obwohl Blei in der Luft lag, wie man zu sagen pflegt. Tom wusste, dass es gleich losgehen würde. Da alle Augen auf ihn gerichtet waren, konnte sein Trumpf im Ärmel, sein Undercoveragent, ihm leicht zunicken. Tom wusste also, dass auch er bereit war zu sterben, und zwar jetzt. Doch sein Mann machte noch eine andere Geste Richtung Connor, welche Tom nicht einordnen konnte. Jedoch hatte Tom jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.

Dann flüsterte Ringo Connor etwas zu, welcher daraufhin zögerte. Schließlich griff der Junge nach seiner Brieftasche und holte etwas aus ihr hervor und warf es vor Toms Füße.

Es war ein Bild. Alles, was Tom bisher erlebt hatte, alles, was an diesem Tag geschah, und alles Schlimme auf dieser Welt, was er sich vorstellen konnte, hatte ihn nicht auf diesen Augenblick vorbereitet. Er fühlte sich, als würde eine Atombombe in ihm explodieren und er gleich losstürmen und alle und jeden vernichten; vor allem diesen unscheinbaren Connor. Doch selbst wenn es ein Erdbeben gegeben hätte, wäre er nicht imstande gewesen, sich nur einen Zentimeter zu bewegen. Tom wusste nicht, wann er das letzte Mal geheult hatte, jetzt schossen ihm Tränen aus den Augen, sie schienen direkt aus seiner Seele zu kommen.

Jeder vernünftige Mensch hätte geahnt, dass dieser Mann nun gebrochen war, und hätte ihm dem Gnadenstoß verpasst, doch Gnade kannte keiner der hier Anwesenden. Nicht mal dieser Connor, den Tom bisher einfach nur für fehl am Platz gehalten hatte. Er war der Schlimmste von allen. Und Toms Undercoveragent wusste es und hatte eben noch versucht, ihn zu warnen.

Das Bild zeigte seine Tochter. Sie war weder verstümmelt noch ängstlich noch auf irgendeine Weise negativ dargestellt. Nein, sie wirkte glücklich, so glücklich, wie er sie selten erlebt hatte. Sie wurde umarmt von einem jungen Mann. Und dieser Mann war Connor.

Es reichte ihnen nicht, Tom einfach zu töten. Nein, der Mann, den seine Tochter liebte, würde ihn, Tom, töten, und dann würde er sie vermutlich heiraten und sie irgendwann mit der Wahrheit in den Selbstmord treiben. Sie waren unerträglich, diese Grausamkeiten, die diese Kerle bereit waren zu begehen, nur um ihn vor dem Tod noch innerlich zu foltern. Er wusste, wie gemein die Welt sein konnte, dass es nichts gab, was unmöglich war. Doch er musste feststellen, dass es immer jemanden gab, der das Böse neu erfinden konnte.

Aber Connor war nicht der einzige Schuldige, auch sich selbst gab Tom die Schuld. Wie war es so weit gekommen? Er wusste, dass seine Tochter seit der Trennung von seiner Frau unglücklich war, doch er hatte, trotzdem er sich anstrengte, scheinbar nie genug für sie tun können.

Er fragte sich, ob er sich mehr um seine Tochter hätte kümmern sollen. Hätte er mit mehr Beachtung sie davor bewahren können, dass sie auf diesen Betrüger hereinfällt? Wäre er da gewesen, hätte sie Connor nicht gebraucht. Wäre er ein guter Vater, hätte er gewusst, dass sie jemanden kennengelernt hatte. Dann hätte er den Freund seiner Tochter unbedingt sehen wollen und ihn natürlich gleich erkannt.

Er war sich so sicher gewesen, dass er seiner Tochter vertrauen konnte, und so mit seinem Job beschäftigt, dass es ihm – es verschlimmerte seinen Schmerz noch mehr, als er sich das eingestand – egal gewesen war.

Seine Hand war bereits zu Boden gesunken, und es fiel ihm schwer, seine Waffe weiterhin festzuhalten. Er wusste schon gar nicht mehr, warum er sie halten wollte. Tom war am Ende, er hatte alles um sich herum vergessen: Der Mut, den ihm sein Undercoveragent durch eine kleine Geste gemacht hatte, war nun völlig verschwunden. Er war nun ganz mit sich beschäftigt und fragte sich: Was war schiefgelaufen und wie konnte das alles nur soweit kommen?

Tom Little – Die Folgen unserer Taten

Warum Tom zur Polizei gegangen war, wusste seine Familie eigentlich nie so richtig, er selbst aber dafür umso mehr. Er hätte den Familienbetrieb übernehmen und ein finanziell gutes und vor allem ruhiges Leben führen können. Er fragte sich oft, ob er damals zu stur war, zu eigensinnig. Manchmal hatte er das Gefühl, dass seine Entscheidungen weiter reichten, als er es ertragen konnte.

Nachdem er sich gegen das Leben, das schon sein Vater lebte, entschied, übernahm sein Bruder Bill den Familienbetrieb. Nach dem Tod ihres Vaters erwies sich Bill als unfähig und führte das Unternehmen in den Ruin. Als Tom einige Tage später davon erfuhr, machte er sich auf den Weg, um seinem Bruder beizustehen. Auch war er bereit, ihm unter die Arme zu greifen; immerhin hatte er sich schon vor Jahren seinen Erbanteil an dem Betrieb auszahlen lassen. Doch als er an Bills Haustür klingelte, machte ihm keiner auf.

Nun schien es ihm naheliegend, seine werte Mutter zu besuchen. Glücklicherweise war sie von dem Bankrott nicht betroffen und lebte allein in dem Haus seiner Kindheit.

Dass seine Mutter einen Schlüssel für Bills Haus hatte, konnte er ja nicht ahnen, auch nicht, dass sie sich enorme Sorgen machte und ihn daher bat, zusammen mit ihr dorthin zu fahren.

An diesem Tag verlor Tom praktisch alles, was ihm von seinem Elternhaus übrig geblieben war. Denn auch jetzt machte Bill nicht auf, also beschlossen sie, sich selbst Zutritt zu verschaffen.

Die Wohnung war verdunkelt, und ein stechender, undefinierbarer Geruch, der sich wohl aus mehreren einzelnen Düften zusammensetzte, hing wie eine Wolke in der Wohnung. Er als Polizist hätte es wissen müssen, hätte seine Mutter hinausschicken sollen, mit aller Entschlossenheit, doch er tat es nicht streng genug. Nie wird Tom vergessen, wie sein Bruder in einer Mischung aus Alkohol und Blut in der Küche lag. Ebenso wenig wie seine Mutter, welche im Vergleich zu Tom eine wesentlich dunklere Hautfarbe hatte, plötzlich kreidebleich wurde und sich auf ihren Jungen stürzte.

Es war nicht Toms erste Leiche, nicht in seinem Beruf. Doch es kam ihm so vor. Alles war so unreal. Seine Mutter hielt den Kopf ihres Sohnes in den Armen und wippte wie paralysiert vor und zurück.

Seine Mutter war danach nicht mehr dieselbe, sie sprach nicht mehr und wirkte abwesend. Tom wusste, dass sie innerlich gestorben war. Er musste danach alles organisieren, die letzten Geschäfte des Familienbetriebes erledigen und die Mitarbeiter, die Bill nicht imstande gewesen war, darüber zu informieren, dass sie arbeitslos waren, aufklären.

Er musste die Beerdigung beauftragen und seine Mutter in ein Altenheim einweisen lassen.

Zwei Monate später starb seine Mutter; er hatte sie das letzte Mal bei der Beerdigung gesehen.

Tom war sich einmal mehr bewusst, dass alles, was er tat, Konsequenzen hatte. Das ist bei jedem Menschen so. Die meisten sind sich dessen nur nicht bewusst. Und die wenigsten so stark wie Tom.

Was aus seinen Entscheidungen für Konsequenzen entstehen können, dass es einem Horrorszenario gleichen würde, hätte er allerdings nicht gedacht. Wäre er nicht so stur gewesen und hätte seinen Weg selbst entschieden, wäre er für den Betrieb zuständig gewesen. Er wusste, dass er dies besser als sein Bruder gekonnt hätte. Zudem wäre sein Anteil am Betrieb nicht ausgezahlt worden und der Betrieb finanziell stärker gewesen.

Ob sein Vater noch leben würde, dessen ist sich Tom nicht sicher. Zwar gab er sich oftmals die Schuld daran, dass sein Vater an einem Herzinfarkt verstorben war, da er selbst ihn so oft aufgeregt hatte, aber er wusste auch, dass sein Vater schon immer dazu geneigt hatte, sich zu echauffieren.

Auch war es nicht seine Schuld, dass sein Bruder sich das Leben genommen hatte. Doch von diesem Gedanken konnte er sich nicht so leicht abbringen lassen. Er hatte seinem Bruder durch seinen eigenen Verzicht praktisch dazu gezwungen, den Betrieb zu leiten. Dies hatte ihn wohl letztendlich in den Selbstmord getrieben.

Doch, da war sich Tom mehr als sicher, an dem Zustand seiner Mutter und deren Tod war ganz alleine er schuld. Er war der erfahrene Polizist, er hätte an der Haustür schon wissen müssen, was auf sie zukommt. Er hätte seine Mutter zurückhalten sollen, sie vor dem Anblick ihres Sohnes, der sich zugrunde gerichtet hatte, schützen müssen.

Tom hatte sich in seinem Leben schon viel anhören müssen, von seinem Vater von seiner Ex-Frau sowie von Vorgesetzten. Doch nichts, gar nichts war so schlimm wie die Selbstvorwürfe, die ihn nun zermarterten. Zwar war Tom ein gläubiger Mensch, dennoch half ihm an manchen Punkten des Lebens selbst der Glaube nicht weiter, aber irgendwie war es bisher immer weitergegangen.

In dem einen Moment fühlte sich Tom so sehr vom Leben betrogen, dass er nicht mehr imstande war, die kleinsten Dinge des Lebens zu erledigen. Und im nächsten Augenblick schöpfte er Kraft aus einer undefinierbaren und unerschöpflichen Quelle. Und das Leben ging doch weiter, immer, wenn auch anders als zuvor.

Eine schlechte Kindheit hatte Tom nie gehabt. Die Rassenfeindlichkeit war ihm zwar nicht fremd geblieben, aber alles in allem lebte seine Familie an einem Ort, Springfield, in dem Tom wenig von Rassismus mitbekam. Im Nachhinein stellte sich Tom immer wieder die Frage, wie sein Vater es geschafft hatte, zu seiner Zeit einen Familienbetrieb aufzubauen; für Farbige war es zu der damaligen Zeit nicht nur schwieriger, sondern auch riskant.

In der Schule war Tom beides, sowohl Einzelgänger als auch ein Gruppentier. Er liebte es, viel Zeit mit seinen Gedanken zu verbringen, und verlor sich das ein oder andere Mal darin. Sei es in fantastischen Geschichten oder Vorstellungen davon, wie sein Leben mal aussehen werde. Aber auch mit anderen unternahm er gerne etwas und fühlte sich dort genauso wohl, brauchte es aber auch, sich jederzeit nach Belieben abzukapseln.

Er war kein schlechter Schüler, und sicher hätte sein Vater es auch verstanden, wenn er ein Studium begonnen hätte – er stand kurz davor, diesen Weg zu gehen. Doch was Tom mit fünfzehn Jahren erlebte, prägte ihn und hegte in ihm den Wunsch, einen ganz anderen Weg einzuschlagen.

Ein einprägsames Vorbild

August 1975 – Springfield

Tom und seine beste Freundin Mayla waren gerade auf dem Heimweg von der Schule. Wie jeden Tag genoss Tom diese Zeit. Zwar war der Heimweg recht lang, was gerade im Winter nicht angenehm war, aber es ergab sich so reichlich Zeit, um sich mit Mayla zu unterhalten. Vor allem an den Tagen, an dem sein kleiner Bruder früher von der Schule nach Hause ging und sie daher alleine waren.

Mayla war schon lange mit ihm befreundet, beide Familien kannten sich schon eine Ewigkeit. Und doch hatte sich in letzter Zeit mehr zwischen ihnen entwickelt, auch wenn beide es nur ungern zugaben.

Tom fragte sich immer öfters, ob es Liebe war oder einfach nur eine Phase ihrer Freundschaft, in der sie einander besonders brauchten und sich besonders zu einander hingezogen fühlten, was in ihrem Alter nicht ungewöhnlich war. Aber er war sich sicher, dass er diese Freundschaft für nichts auf der Welt gefährden wollte.

Als sie beide auf der Landstraße Richtung Springfield trotteten, wurde die Umgebung mit einem ungewohnten Geräusch erfühlt. Tom drehte sich um, als der Lärm immer lauter wurde, und sah ein Blinken auf sich zukommen. Zwei Fahrzeuge des Sheriff-Büros überholten die beiden just in dem Moment mit Sirene und Blaulicht.

Tom schaute sofort zu Mayla, die genauso geschockt war wie er. In diese Richtung lag nur Springfield, das nächste Dorf dahinter war zu weit entfernt und lag in einem anderen County. Zwar war es nicht ungewöhnlich, dass ein Deputy gerufen wurde, doch wenn, kam nur ein Wagen und dann ohne Sirene und Blaulicht. Irgendetwas musste passiert sein.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es Toms oder Maylas Familie betraf, war aufgrund der Tatsache, dass Springfield klein war, erschreckend hoch. Und selbst wenn es sie nicht direkt betraf, so kannte doch jeder jeden in Springfield.

Toms Fantasie war bereits beflügelt, und er konnte die schlimmsten Horrorszenarien vor seinen Augen sehen. Aber er schafft es recht schnell, sich wieder zu fangen; sein Drang zu erfahren, was passiert war, war stärker.

Plötzlich und ohne Absprache beschleunigten beide ihr Tempo. Sie wurden von Schritt zu Schritt schneller, bis sie von einem leichten Trab ins Joggen übergingen und schließlich in einem Sprint endeten. Obwohl sie den Weg jeden Tag zweimal liefen, normalerweise in einem gemütlichen Tempo, hätte Tom schwören können, dass der Weg heute viel länger als sonst war.