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Ewald, Sigrun & Helwig

Arenz

 

Unsere kleine Welt

 

 

Mit Illustrationen von

Tuong Vi Lu

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage März 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg, unter Verwendung einer Illustration von Tuong Vi Lu

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-709-4

 

Die meisten Geschichten erschienen vorab unter dem Kolumnentitel »Unsere kleine Welt« in den ­Nürnberger Nachrichten.

Verlag und Autoren danken Steffen Radlmaier und dem Verlagshaus Nürnberger Presse für die gute ­Zusammenarbeit.

 

Inhalt

Zärtliche Bande

Fernsehgebot

Umzug im Familienkreis

Familie im Schlepptau

Kleine Geschenke

Kleider machen Leute

Der Meister ruft

Kleine Lügen

Rock im Rachepark

Happy Mother’s Day

Reisen bildet …

Immer schön cool bleiben

Fahrradrevolution

Die böse Macht

Ab in den Urlaub

Dramatische Ironie

Kitsch

Reise nach Moskau

Kultur der Rache

Alle Tassen im Schrank

Der goldene Tod

Vorsorgeuntersuchung

Alle Rezensionen, die ich nie geschrieben habe

Darwin

Literarisches Hitzegewitter

Brüder und Heilige

Zynische Bonmots

Reformatoren

Träume

Outdoorwahn

Schwein gehabt

Rosenkrawallier

Maskenball

Explosive Literatur

Ironie zur Buchmesse

Ländliche Idylle

Sprunghafte Künstler

Himmlische Ruhe

Materie

Volkswirtschaftsweise

Friede auf Erden

Autor mit fünf Buchstaben

Femmes fatales

Fußball à la Beethoven

Friseur

Autoren und Illustratorin

 

 

Zärtliche Bande

Es war im Kaisersaal der Burg. Alle Nichtmusiker beim Empfang der ION versuchten so auszusehen, als hätte der Ministerpräsident sie persönlich eingeladen. Ich auch. Deshalb arbeitete ich mich geschickt in seine Richtung, als er zu reden begann, damit er mir zuwinken konnte, sobald er mich entdeckte. Ich hätte gerne noch konzentrierter zugehört, aber eine ausgesprochen hübsche, lockige Dame in roter Seidenbluse stand schräg vor mir. Im Gegensatz zu mir sah sie so aus, als wäre sie wirklich persönlich eingeladen worden. An ihrer Handtasche baumelte ein Notenschlüssel und ich rätselte, ob das ein geheimes Organistinnenabzeichen war, als mir so unvermittelt eine andere Dame ins Ohr flüsterte, dass ich zusammenfuhr. »Sie haben also wieder geheiratet!«, sagte die Stimme fast anklagend. Ich drehte mich zu ihr um. Wenn der Ministerpräsident die persönlich eingeladen hatte, sah ich schwarz für die Zukunft Bayerns. Sie war um die fünfzig, und ihr Outfit wies darauf hin, dass sie von Lennons Tod noch nicht erfahren hatte. »Was?«, fragte ich etwas fassungslos. »Wieso wieder verheiratet? Ich bin noch nicht einmal geschieden.« – »Die ist schon deutlich jünger als Sie?«, fuhr die Frau neugierig flüsternd fort, »aber ihre Krimis sind viel spannender!« Immerhin schien sie so viel Restsensibilität zu haben, dass sie merkte, wie sehr mich Zweifel an meinem literarischen Können trafen, und fuhr hastig fort: »Ich mag Ihre romantischen Sachen ja, aber die Krimis Ihrer Frau – wow!«

Der Ministerpräsident sprach eben von Tod und Verklärung, deshalb unterdrückte ich jede boshafte Antwort. Mir war jetzt klar, dass sie meine Schwester Katharina meinte, die aus nachvollziehbaren Gründen meinen Nachnamen trägt. Die Frau begann trotzdem, mir auf die Nerven zu gehen, denn die Organistin sah zu mir herüber und fand mich im intimen Gespräch mit einer anderen Frau, was, wie ich fand, missverstanden werden konnte. Aber die ließ nicht locker. »Und Ihr Sohn Jörg erst!«, schwärmte sie im lautesten Flüsterton, »sein erstes Buch ist richtig toll! Da müssen Sie aufpassen, dass er Sie nicht vom Sockel stößt, gell?« Jetzt reichte es! Für wie alt hielt die mich, wenn ich der Vater meines jüngsten Bruders sein sollte? Giftig und etwas zu laut sagte ich: »Meine Frau ist meine Schwester und mein Sohn mein Bruder!« Leider hatte der Ministerpräsident in diesem Augenblick eine Kunstpause gemacht, die von mir für alle vernehmlich gefüllt worden war. Nicht nur die Frau starrte mich entsetzt an. »Krank!«, flüsterte sie dann, während sie zurückwich. »Sie sind sehr krank!«

Tatsächlich fühlte ich mich plötzlich, als hätte ich Ebola. Um mich herum bildete sich ein komplett honoratiorenfreies Vakuum, und auch die schöne Organistin war verschwunden. Ich nehme an, im nächsten Jahr werde ich zur Internationalen Orgelwoche nicht mehr eingeladen. Wenn es so weitergeht, bleibt mir irgendwann nur noch die Familie. EA

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Fernsehgebot

Es war wirklich kein Snobismus, dass ich die Frage: »Hast du gestern Germany’s Next Topmodel geschaut?« mit »Nein« beantwortete. Ich hätte sie auch verneint, wenn es um eine Sendung über Quantenmechanik gegangen wäre, und zwar einfach deshalb, weil mein Fernseher, seit ich umgezogen war, eher dekorative Funktionen erfüllte. Keine Ahnung, was ich falsch gemacht hatte, aber ich hatte keine Zeit, mich mit dem Problem zu beschäftigen, und überhaupt: Wer muss fernsehen, wenn er auch Deutschschulaufgaben korrigieren kann? Das ging so lange gut, bis der USA-Austausch unserer Schule vor der Tür stand. Für zwei Wochen würde Gina, Deutschlehrerin an unserer Partnerschule in Oregon, bei mir wohnen. »Sie schaut abends ganz gerne mal deutsche Serien an«, ließ mein Kollege Winnie beiläufig verlauten. Oha, dachte ich. Mein Fernseher empfing genau vier Sender, von denen einzig RTL II auch nur entfernt für den Konsum deutscher Fernsehserien geeignet war. Die anderen waren N 24, Eurosport und ein Verkaufssender für Haushaltswaren. (Kein Wunder, dass ich lieber korrigierte.) Nein, ehe Gina am Münchner Flughafen landete, musste etwas geschehen.

»Sie haben aber einen kleinen Fernseher«, kritisierte der TV-Techniker, als er mein Wohnzimmer betrat.

»Der ist schon größer als mein letzter«, erklärte ich halb verärgert, halb defensiv.

»Hm«, machte er. »Kabel oder Satellit?«

Nun war ich an der Reihe: »Hm«, murmelte ich unverbindlich. Ich bin ja wirklich für Emanzipation und so, aber es gibt Fragen, die muss eine Frau nicht beantworten können, finde ich.
»Wo haben Sie denn diesen absurden Receiver her?«, wollte der Mann wissen, während er sich vor meinem Fernseher niederließ. »Der kann doch gar nicht funktionieren.« Ich druckste herum.

Schweigen. Mann kniet vor Maschine. Frau steht daneben und fühlt sich irgendwie unzulänglich.

»Haben Sie schon mal den Sendersuchlauf beim Fernseher durchgeführt?« Seine Stimme ließ erkennen, dass Frau sich nicht nur unzulänglich fühlte. Ich entschied, dass ich keine Würde mehr zu verlieren hatte, machte einen auf blond und lächelte süß: »Sendersuchlauf? Wie geht denn das? Ist das schwierig? Können Sie das für mich durchführen?«

»Klar. Das sind dann zwanzig Euro.«

Ich weiß nicht, ob Fernsehen dumm macht, aber es hat mich dumm dastehen lassen, was noch viel schlimmer ist. Deshalb konnte ich mir ein kleines, schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen, als der Mann zwei Wochen später in meiner Sprechstunde in der Schule auftauchte.

»Was kann man denn da jetzt machen mit dem Jungen?«, wollte er wissen. »So kann das ja nicht weitergehen.«

»Weniger Ablenkung, mehr lesen.«

Er seufzte. »Das ist nicht so einfach. Der hängt doch die ganze Zeit am Handy oder vorm Fernseher. Den kriegt man da kaum weg.« Jetzt tat er mir fast ein bisschen leid.

»Wissen Sie was?«, schlug ich ihm freundlich vor. »Ich könnte ja bei Ihnen vorbeikommen und Ihren Fernseher richten. Wenn ich mit dem Sendersuchlauf durch bin, findet er nie wieder ein Programm, das er sehen möchte.« SA

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Umzug im Familienkreis

Wir standen in meiner neuen Wohnung, mein Bruder Heinrich, meine Schwester Katharina und ich.

»Und, wie findet ihr es?«, fragte ich begeistert. »Naja«, sagte Katharina zweifelnd, »wenn du es gestrichen hast, wird es bestimmt ganz wohnlich!«

»Was ist das da unter den Dielen?«, wollte Heinrich wissen und kniete sich auf den Boden. »Sind das Mäuse?«

»Ach, Quatsch!«, winkte ich großzügig ab und zog ihn auf die Füße. »Wisst ihr, was ich mir gedacht habe? Wir machen uns einen schönen gemeinsamen Vormittag und streichen hier die Wände!«, sagte ich. Irgendwie steckte sie mein Enthusiasmus nicht an.

»Aber ich dachte, wir machen mal was gemeinsam!«, versuchte ich es mit übertriebener Fröhlichkeit. »Deswegen bin ich doch hergezogen. Wir drei. Familie!«

»Nun ja«, berichtigte mich Katharina. »Das stimmt nicht ganz. Du bist hergezogen, weil du deinen Job verloren hast.«

»Und weil du es von hier nicht so weit zu uns zum Essen hast«, ergänzte mein Bruder.

»Gut«, gab ich kleinlaut nach. »Helft ihr mir noch schnell meine Sachen hochzutragen?«

»Okay, fangen wir schon mal an«, seufzte Heinrich und sah auf die Uhr. »Aber ich hab um drei Lehrerkonferenz. Wann kommen denn die anderen?«

»Hm«, machte ich und sah zu Boden. »Was meinst du mit ›die anderen‹?«

 

»Warum ist es immer der vierte Stock?«, fragte mich Heinrich eine Viertelstunde später stöhnend und setzte die Kiste mit meinen Büchern ab. »Warum ist es der vierte Umzug in drei Jahren?«, fauchte Katharina, die einen hartnäckigen Fleck vom Boden kratzte.

»Was wollt ihr!«, rief ich. »Ich bin Schauspieler, da muss man oft umziehen. Kommt, noch schnell die Möbel!« Und schon war ich wieder unten beim Lastwagen.

»Andere Schauspieler ziehen mit einem großen Koffer um«, nörgelte Heinrich und wuchtete das Sofa die Treppen hinauf.

»Aber wie kriegst du das Sofa in den Koffer?«, konterte ich und ermahnte ihn: »Sei bitte vorsichtig! Der Bezug ist empfindlich!«

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Am Abend sanken die beiden erschöpft auf das große, weiche Sofa. »Wollt ihr was trinken?«, fragte ich. Sie nickten müde. Ich ging in die Küche. »Ich glaube, das Leitungswasser ist okay«, rief ich.

Als wir dann beisammensaßen, seufzte ich erleichtert. »Danke, Leute«, sagte ich. »Übrigens, Heinrich, was den Koffer für die Umzüge angeht, hast du eigentlich recht. Aber wisst ihr was?«, fügte ich hinzu. »Manchmal sind große Geschwister genauso gut wie ein großer Koffer.« HA

 

Familie im Schlepptau

Mein Handy klingelte, als ich eben unter die Dusche gehen wollte. Es war mein Bruder Jörg. Er hat ein fast unheimliches Gespür dafür, mich in den unpassendsten Situationen anzurufen. Deswegen nahm ich jetzt das Handy nur zögernd auf. »Wie lange kann ich die rote Batterieleuchte ignorieren?«, fragte er mich ohne Gruß und offenbar aus dem Auto heraus. »Und außerdem dampft es aus dem Motorraum.«

Obwohl ich nackt im kühlen Bad stand, wurde mir warm. »Wie lang leuchtet das Ding schon?«, fragte ich alarmiert. Es stellte sich heraus, dass Jörg die Leuchte bereits beim Losfahren in Nürnberg unbeachtet gelassen und gehofft hatte, dass sich der Fehler bis Bregenz geben würde, wo er seine Tochter abholen wollte. »Halt sofort an!«, befahl ich, »egal wo!« Ich hörte Jörg entsetzliche Flüche ausstoßen, die wohl damit zusammenhingen, dass er wegen des Dampfs die vor ihm einscherenden Laster nicht erkennen konnte. »Ich schaff’s bis Feuchtwangen!«, keuchte er dann, »da kannst du mich holen kommen.« Die Verbindung brach ab. Eine weitere Konstante im Leben Jörgs ist der leere Akku seines Handys in jedem Notfall. Resigniert und ungeduscht zog ich mich an.

Zwei Stunden später fand ich im vierten Café am Feuchtwangener Marktplatz endlich meinen Bruder, der vergnügt ein zweites Frühstück einnahm. Ich stand einigermaßen verblüfft vor seinem Tisch und sah in die Runde: »Es wäre hilfreich gewesen«, sagte ich müde, »wenn du mir gesagt hättest, dass ich mit einem Reisebus kommen soll.« Bei Jörg saßen nicht nur meine Nichte mit ihrer Mutter und deren Freund, sondern auch meine Schwester Katharina sowie zwei meiner Cousins, die sich anscheinend spontan materialisiert hatten. »Hab ich vergessen!«, winkte Jörg mit vollem Mund großzügig ab, »willst du einen Kaffee?« »Nein«, antwortete ich düster, »ich will eine neue Familie.«

Zwanzig Minuten später kroch ich unter meinem Auto hervor und putzte meine Hände an meinem Hemd ab. Eine Dusche brauchte ich mehr denn je. »Das hält nie!«, zweifelte Jörg. »Hättest du mir gesagt, dass du kein Abschleppseil dabei hast!«, herrschte ich ihn an, aber ich war auch nervös. Wir hatten nämlich stattdessen meinen Spanngurt genommen. Dann verteilten wir uns auf Jörgs und mein Auto. Katharina hatte das Fahrrad meiner Nichte Klara auf dem Schoß. Es wurde eine der schlimmsten Touren, die ich durch das schöne Frankenland je gemacht habe. Alle waren überlastet: Jörg und ich, der Motor meines Wagens und der Spanngurt. Als wir in Seckendorf auf den Hof der Werkstatt einbogen, holperte Jörgs überladenes Auto über den Bordstein, der Gurt riss, und der Verschluss knallte auf meine Kühlerhaube, an meinem Armaturenbrett leuchtete eine rote Lampe auf, und der Motor ging aus.

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Eine Stunde später wanderten wir alle acht die sieben Kilometer zu mir nach Hause trotz des sonnigen Wetters in tiefem, erbittertem Schweigen. Nur Klara fuhr fröhlich pfeifend auf ihrem Fahrrad voran. Es mag ein wenig abergläubisch sein, aber seither schalte ich mein Handy vor dem Duschen aus. EA

 

Kleine Geschenke

Hast du in letzter Zeit jemanden beleidigt?«, wollte mein Bruder wissen, »oder ist das eine verpatzte Lieferung von Amazon?« Er starrte die durchsichtige Tüte an, die ich gerade aus meinem Briefkasten geholt hatte. Ich starrte ebenfalls. »Irgendjemand hasst mich«, murmelte ich beunruhigt.

»Du wohnst eigentlich noch nicht lange genug wieder in Fürth, um der hiesigen Mafia in die Quere gekommen zu sein«, sinnierte Jörg. Wir waren uns in der Stadt über den Weg gelaufen, und sobald er erfahren hatte, dass ich Flammkuchen backen wollte, hatte er sich mir an die Fersen geheftet.

Mir allerdings war beim Öffnen des Briefkastens jäh der Appetit vergangen.

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SA