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Stefan Slupetzky

Lesereise Mauritius

Über den Autor

Stefan Slupetzky, Schriftsteller, Musiker und Zeichner, wurde 1962 in Wien geboren. Zwischen 1994 und 2000 schrieb und illustrierte er mehr als ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher, für die er zahlreiche Preise erhielt. Seither verfasst er Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Liedtexte. Im Picus Verlag erschienen seine Erzählbände »Absurdes Glück« und »Halsknacker« sowie zuletzt das Kinderbuch »Pauls Reise« (2013).

www.stefanslupetzky.at

Stefan Slupetzky

Lesereise Mauritius

Zum Segatanz unter dem
Flammenbaum

Picus Verlag Wien

Copyright © 2005 Picus Verlag Ges.m.b.H.,
Wien Überarbeitete Neuausgabe 2016

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Earl & Nazima Kowall/CORBIS

ISBN 978-3-7117-1066-6

eISBN 978-3-7117-5315-1


Informationen über das aktuelle Programm

des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Inhalt

Unser Mann in Rose Hill

Die Vertreibung des Paradieses

Wetterkapriolen

Tata, Tatar und Tartarus

Natur ist, wenn es trotzdem blüht

Minimundus im Indischen Ozean

Ordnung ist relativ

Inselzauber

Warum Kreolen niemals Pepsi trinken

Machen wir’s französisch

Wie man einen Hund veröffentlicht

Gaumenfreuden

Unser Mann in Rose Hill

Seit zwei Tagen wütet er schon, der Novembersturm über Österreich, reißt die Dächer von den Häusern, entwurzelt Bäume, stürzt Lastwagen um. Einen Toten hat es bereits gegeben, draußen auf der Südautobahn ist sein Truck samt Anhänger über die Leitplanken geweht worden.

Fünf Uhr früh ist es jetzt in Wien, finstere, frostige fünf Uhr früh. Wir jausnen. Über unseren Köpfen breitet ein gewaltiger Mangobaum seine schwer behangenen Äste aus, spendet Schatten vor der ersten Glut des Tages. Um sieben, vor einer knappen Stunde also, sind wir auf Mauritius gelandet.

Unser Mann hat uns vom südöstlich gelegenen Flughafen abgeholt und uns mit seinem Pick-up quer durchs Land chauffiert; jetzt sitzen wir auf der Terrasse seines Hauses im nordwestlichen Rose Hill und genießen die Spezialitäten, die wir ihm aus dem guten alten Europa mitgebracht haben: deftiges steirisches Schwarzbrot mit Grammelschmalz und einer Prise ungarischen Paprikas, dazu ein Stamperl Waldviertler Mohnkornbrand, der seinesgleichen sucht. Diese Dinge, sagt Jens, sind es, die er gleich nach seiner Familie am meisten vermisst. Das Wetter mit Abstand am wenigsten.

Jens Kleefers ist in Belgisch-Kongo geboren, aber im Burgenland aufgewachsen; er hat nach ausgedehnten Reisen durch den Nahen Osten und durch Afrika seine mauritische Frau Marie-Lourdes kennengelernt und ist nach einer weiteren, in Gambia verbrachten Zeit endgültig in Mauritius sesshaft geworden. Zwölf Jahre ist das nun her. Jens öffnet eine der großen Tafeln Schweizer Schokolade, bricht sie behutsam auseinander, teilt ein, rationiert, schiebt sich endlich eine Ecke in den Mund, schließt genießerisch die Augen. Zwei Meter über seinem Kopf kriecht ein rötlich-grün schillernder Gecko aus einer Ritze in der Wand und wartet auf unachtsame Insekten.

Mauritius also.

Der gewöhnliche europäische Binnenlandmensch weiß nicht sehr viel über dieses Land; seine Kenntnis beschränkt sich zumeist auf einige wenige Eckdaten. Dass es eine Insel ist zum Beispiel. Dass sie weit unten im Süden liegt, wo der Weihnachtsmann vergeblich nach Kaminen sucht. Dass es auch eine blaue gibt, eine Briefmarke nämlich, die zum weltweiten Inbegriff philatelistischer Begehrlichkeit geworden ist …

Julia und ich glauben schon ein bisschen mehr zu wissen, was nicht nur daher rührt, dass wir uns die betreffende Fachliteratur zu Gemüte geführt haben: In erster Linie stützt sich unsere Einschätzung auf die Berichte meines Bruders Tomas, der schon dreimal hier gewesen ist. Besonders die Sonne und die Küche von Mauritius haben ihn jedes Mal sichtlich gezeichnet, und er hat im Gegenzug seine Spuren auf der Insel hinterlassen: Nicht lange nach unserer Ankunft begegnen wir in einer Seitengasse des Badeortes Flic en Flac einem kreolischen Ehepaar, das uns entgeistert aufhorchen lässt. »Hans-Franz, wüüüst an Kaffee?«, hören wir die Frau in breitestem Wienerisch zu ihrem Mann sagen. »Geh schajßen, Oide!«, entgegnet er freundlich, bevor sie beide in schallendes Gelächter ausbrechen. Die zwei heißen Jean-François und Valérie; sie haben meinen Bruder vor mehreren Jahren kennengelernt, ins Herz geschlossen und ihm – im Tausch gegen ein paar Brocken Wienerisch – das eine oder andere kreolische Wort beigebracht.

Natürlich habe ich meine Vorstellungen von dem, was uns in diesem Land erwartet. Fantasien, die auf keinen Büchern oder Erzählungen beruhen, sondern schon eher der Kategorie »Schwärmerei und Inselromantik« zuzurechnen sind. Was ist es denn schließlich, das einen in die Fremde treibt? Was bringt den westlichen Wohlstandsbürger dazu, Jahr für Jahr sein komfortables Bett, seinen zum Bersten gefüllten Kühlschrank und seinen in mühevollen Stunden programmierten Fernsehapparat zurückzulassen, den sicheren Hort seines blank gescheuerten Fließwasserthrons gegen schmutzverkrustete, stinkende Strandkloaken einzutauschen? Ist es eine Art Entdeckerdrang? Wohl kaum. Denn was, bitte schön, soll man noch groß entdecken an Gegenden, die Jahr für Jahr von abertausenden leichenblassen Touristenbeinen platt getrampelt werden? Vor allem: Welche Neuigkeiten werden sich dem Globetrotter wohl auf seinen täglichen Wegen zwischen Leintuch und Badetuch offenbaren? Die Antwort ist so nahe liegend wie ernüchternd: Der heutige Mensch fährt nicht so sehr weg, um sich einem Ziel zu nähern, als vielmehr, um sich von daheim zu entfernen. Je weiter weg, desto besser, denn: Sein Leben geht ihm auf die Nerven. Es entbehrt der Stille, der Einfachheit, Klarheit und Schönheit, der Kontemplation. Mit jeder Reise versucht er zugleich den Beweis dafür anzutreten, dass sein gewohnter, von Hektik und Lärm durchpulster Lebensstil für sein Glück gar nicht notwendig ist. So reduziert sich sein Wandertrieb meistens darauf, einem Traum nachzujagen, dem Traum vom entspannten Vergessen, der schlichten Hoffnung auf das Paradies. Wird diese Hoffnung in der kurzen Frist seines Urlaubs auch nur ansatzweise erfüllt, dann war es eine gute Reise und er kehrt erfrischt in sein altes, ungeliebtes Leben zurück, um es da fortzusetzen, wo er drei Wochen zuvor die Pausetaste gedrückt hat. Der augenzwinkernde Gedanke an eine Zäsur, an ein dauerhaftes Abschalten, Umkrempeln und Aussteigen bleibt fast immer nur Koketterie.

Der aufgeschlossene Reisende sieht seinem Ziel ins Angesicht, um es abzuschätzen, einzuschätzen und um damit auch sich selbst ein Stück besser kennenzulernen. Nicht mehr und nicht weniger. Schließlich lässt sich ein Land in so vielfältiger Hinsicht wahrnehmen wie ein Mensch: Man kann es vermessen, abklopfen, prüfen, tranchieren, sezieren und analysieren, man kann es betrachten, belauschen, berühren, kneten, streicheln und lecken. Man kann daran riechen. Die Möglichkeiten der topografischen Beschreibung der Welt sind so facettenreich wie die der anatomischen ihrer Bewohner, und so wie es Tonnen von medizinischer Literatur über Psyche und Körper des Menschen bis hin zu den kleinsten Wurmfortsätzen gibt, so haben Geologen, Meteorologen, Biologen, Ökologen, Archäologen, Soziologen und Ethnologen das Ihre mit der großen weiten Welt getan.

Hat man nun aber das Wesen eines Menschen begriffen, sobald man seine Blutgruppe kennt? Seine Haarfarbe? Oder die Zahl seiner Darmwindungen? Mit Sicherheit nicht. Seine Persönlichkeit offenbart sich weit eher in kleinen Gesten und Eigenheiten, in der Art beispielsweise, wie er abends seine Socken über den Stuhl hängt, wie er an einem frostigen Tag aus dem Fenster blickt oder wie er ein Stück Zucker in seinen Kaffee rührt.

Die Insel Mauritius ist so eine Persönlichkeit. Und eine unendlich vielschichtige noch dazu. Ihr tieferes Wesen ist so komplex, dass es den Feriengästen für gewöhnlich vollkommen verborgen bleibt. Die begnügen sich mit beschaulichen Tagen am Strand oder Pool, gießen sich den einen oder anderen Cocktail hinter die Binde und genießen die vom Hotelkoch bis zur Unkenntlichkeit entschärfte, gleichwohl als »mauritisch« bezeichnete Küche. Vielleicht drehen sie auch hin und wieder eine Runde auf dem Golfplatz, oder sie lassen sich in Kleinbussen zu den Sehenswürdigkeiten des Landes chauffieren, um nach ihrer Heimkehr nicht als kulturscheue Banausen zu gelten. Sie geben sich insgesamt einer Art der Urlaubsbelustigung hin, die nicht nur angenehm, sondern auch legitim ist: Schließlich bietet Mauritius die idealen Voraussetzungen für entspannte und üppige, ja luxuriöse Ferien. Jegliche Form des Massentourismus (wie Charterflüge, Pauschal- oder Gruppenangebote) wurde bislang von der Insel ferngehalten, was sich natürlich in der Qualität (und im Preis) des touristischen Angebotes niederschlägt. Sich also mit dem selektiven Bildausschnitt der Reiseindustrie zu begnügen, ist durchaus schön und gut, nur: Das Land und seine Leute lernt man auf diese Art nicht kennen.

Zugegeben: Es fällt uns verhältnismäßig leicht, Mauritius ins Angesicht zu sehen, steht uns doch jemand zur Seite, der uns beharrlich die Augen öffnet. Unser Mann in Rose Hill nämlich und seine Frau, deren Wurzeln untrennbar mit denen der Insel verflochten sind.

Statt uns in eine der strandnahen, prachtvollen Touristenenklaven zu begeben, haben Julia und ich – schon aus finanziellen Gründen – die warmherzige Gastfreundschaft von Jens und Marie-Lourdes in Anspruch genommen. Das hieß nicht nur, dass unser tägliches Leben näher am Puls der Insel verlief, sondern auch, dass wir Zugang zu einer Fülle von – gleichsam internen – Informationen hatten, ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre.

Es ist also ein Gemeinschaftsprodukt von Jens und mir, und die Idee, die ihm zugrunde liegt, spiegelt zugleich unsere Arbeitsmethode wider: Der Weise kann zwar die Antworten geben, aber der Narr muss zuerst die Fragen stellen. Und im Fragen ist der Narr der Meister, weil sein Blick noch ungetrübt vom Wissen ist.

Die Subjektivität unseres Unterfangens ist vorprogrammiert. Was Jens betrifft, so ist ihm Mauritius in einem solchen Maß zur Alltagswelt geworden, dass seine Unbefangenheit in manchen Bereichen getrübt sein mag, und was mich anbelangt, so kann ich viele meiner Eindrücke nur an den übersteigerten Fantasien messen, mit denen ich ins Flugzeug gestiegen bin. Aber die Beschreibung eines Landes ähnelt eben der Beschreibung eines Menschen: Sein Wesen misst sich immer auch am Wesen des Beschreibenden; Einschätzung, Wertung, Achtung und Antipathie sind stets die Resultate einer feinstofflich-chemischen Reaktion zwischen Kiebitz und Proband.

Mauritius also.

Der Versuch es zu fassen (vor allem in Worte), es einzufangen und festzunageln wie einen Schmetterling, ist definitiv zum Scheitern verurteilt. Man kann sich ihm aber nähern, man kann es vorsichtig einkreisen, um es – in Maßen – verstehen zu lernen. Was immer Julia und ich von diesem Land erwarten, was immer wir darüber zu wissen glauben, nach wenigen Tagen beginnen wir ratlos, es über Bord zu werfen. Jeder Versuch, das Inselleben in bekannte Muster einzuordnen, jeder Ansatz einer Kategorisierung wird im Keim erstickt. Die Schemata bleiben schemenhaft, blitzen auf, schimmern durch und werden schon Minuten später unbarmherzig ad absurdum geführt. Mauritius, so scheint uns, ist die Ausnahme, die sich selbst zur Regel erhebt. Und nicht einmal das lässt sich mit Sicherheit sagen.

In einem Staat, der auf so abenteuerliche und grausame Weise zur Welt kam, bleibt vom traumatischen Erlebnis seiner Geburt kaum etwas unberührt. Die einzige, im eigentlichen Wortsinn periphere Ausnahme bilden die Ränder der Insel, die breiten, lang gestreckten Sandstrände mit den ihnen vorgelagerten wuchernden Korallenfeldern und die südlichen Klippen in all ihrer schroffen Ungerührtheit. Was aber die innere Substanz des Landes anbelangt, seine greifbare, sichtbare Landschaft ebenso wie seine kulturelle und geistige, so lässt sie sich im besten Fall durch Kenntnis der Vergangenheit entschlüsseln.

Die Vertreibung des Paradieses

Mit zweitausend Quadratkilometern knapp fünfmal so groß wie Wien, liegt Mauritius am zwanzigsten südlichen Breitengrad im Indischen Ozean. Damit ist es das vorletzte in einer Reihe immer kleiner werdender Eilande, die sich von Afrika aus gegen Osten hin auffädeln wie die wohlgeordneten Perlen eines göttlichen Juweliers. Auf Madagaskar, dessen Ausdehnung jener der iberischen Halbinsel entspricht, folgt das französische Departement Réunion, das etwa so groß ist wie Luxemburg, dann Mauritius und schließlich, mit einer Größe von hundert Quadratkilometern, Rodrigues, das Mauritius politisch und wirtschaftlich angegliedert ist. Nach Rodrigues kommt gar nichts mehr, nur noch fünftausendfünfhundert Kilometer Wasser bis zur Westküste Australiens.

In der einschlägigen Reiseliteratur findet sich eine Reihe von Büchern und Berichten über Mauritius, die einander zumeist in den Grundzügen gleichen: Euphorisch wird zunächst die prächtige Landschaft gerühmt, die teils üppige, wuchernde Vegetation im Landesinneren, die herrlichen Strände und die mit Myriaden schillernder Fische bevölkerten Buchten. Nicht lange, und das Hohelied auf die Natur der Insel weicht einem Lobgesang auf die Mentalität ihrer Bewohner: Ein beispielloses Potpourri verschiedener Völker, Kulturen und Religionen findet sich hier, so heißt es dann, und alle leben in unverbrüchlichem Frieden und vollkommener Harmonie zusammen …

Gleich vorweg: Keine dieser Behauptungen wird sich im Lauf unseres Aufenthaltes als unrichtig erweisen. Solange wir unseren Blickwinkel auf das beschränken, was wir sehen und erleben wollen, solange wir alle Eindrücke beiseiteschieben, die unseren Inselträumen zuwiderlaufen, so lange stellt sich uns Mauritius tatsächlich als ein Garten Eden dar. Der andere, sinistre Teil der Wahrheit tritt erst dann ans Licht, wenn wir die rosarote Touristenbrille ablegen.

Dass die Insel einst ein Paradies auf Erden gewesen sein muss, steht außer Frage. Jahraus, jahrein gesegnet mit Wärme und ausreichend Feuchtigkeit, wuchsen dichte, saftige Wälder aus ihrer fruchtbaren Vulkanerde, und in diesen Wäldern hatten sich über die Zeiten Tiere entwickelt, wie es sie nirgendwo anders gab. Tiere, die keiner Reißzähne, keiner tödlichen Krallen und keines Giftes bedurften, weil sie einander keine Feinde waren. Vögel, die nicht fliegen konnten, weil sie keinen Grund mehr dazu hatten: Von nichts und niemandem bedroht, lebten sie ihr zufriedenes Leben in diesem vegetarischen Schlaraffenland.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts tauchte die bislang unbewohnte Insel erstmals auf portugiesischen Seekarten auf. Von da an dauerte es keine zweihundert Jahre, bis der Mensch ihre Fauna und Flora unwiederbringlich zerstört hatte. Das hervorragende Ebenholz der mauritischen Urwaldriesen erzielte Höchstpreise auf dem europäischen Markt – Grund genug für die ersten holländischen Siedler, den gesamten Baumbestand abzuholzen. Der Dodo – jener flugunfähige Vogel, der heute das mauritische Wappen ziert – wurde in Rekordzeit ausgerottet. Seine Schwerfälligkeit und seine Zutraulichkeit machten ihn zur leichten Beute für die Matrosen und Siedler, während seine Eier von den unwillentlich eingeschleppten Ratten und den vorsätzlich importierten Schweinen, Ziegen und Affen verspeist wurden. Nicht anders erging es den legendären Riesenschildkröten: Zu Hunderten wurden sie als lebender Proviant an Bord vorbeifahrender Schiffe gebunkert. Man drehte die Tiere auf den Rücken und stapelte sie in den Frachträumen, wo sie – ohne Wasser und Nahrung – oft noch wochenlang vor sich hin vegetierten, bis sie der Schiffskoch von ihrem Schicksal erlöste. Die wenigen Exemplare, die man heute in diversen mauritischen Naturparks bestaunen kann, sind erst im 20. Jahrhundert wieder eingeführt worden. Sie stammen von den Aldabra- Inseln nördlich Madagaskars.