Mami 1810 – Kinderheim zum Rosenholz

Mami –1810–

Kinderheim zum Rosenholz

Roman von Eva-Maria Horn

Laura Reuter hatte das Radio auf volle Lautstärke gestellt, damit ihr kein Ton der herrlichen Musik entging. Sie arrangierte mit viel Geschick die Rosen, die sie im Garten gepflückt hatte, während sie die Melodie mitsummte. Laura legte den Kopf ein wenig schief, begutachtete ihr Werk. Nun, es war kein Kunststück, etwas Vollkommenes zu schaffen, wenn das Material stimmte. Die Rosen waren taufrisch, die kostbare Meißnervase wirkte auch ohne Blumen.

Sie war so in ihrer glücklichen kleinen Welt gefangen, daß sie weder das Zuschlagen der Haustür noch die lauten Schritte hörte. Erst als die Tür aufgerissen wurde, lautstark ins Schloß geworfen wurde, sah sie auf. Sie war keineswegs glücklich über die Störung. Bevor sie etwas sagen konnte, rief Albert nervös:

»Stell um Himmels willen den Lärm ab. Man kann Schubert doch auch leiser genießen.«

»Es ist nicht Schubert, es ist Mozart. Manchmal staune ich über dein mangelndes Wissen.«

Albert Witte ließ sich in den Sessel fallen, er war krebsrot. Sein sonst so sorgfältig gekämmtes schwarzes Haar hing wirr um seinen Kopf.

»Was hat dich denn so aus der Fassung gebracht?« Laura musterte ihn verwundert. »Du siehst aus, als wäre dir etwas auf den Kopf gefallen.«

Erst jetzt sah sie die Zeitung, die er in der Hand hielt. Seine Finger umklammerten sie, als müßte sie ihm Halt geben.

Lauras blaue Angen verengten sich.

»Ist dir nicht gut, Albert? Nun sag doch endlich etwas. Du kommst doch nicht ohne Grund um diese Zeit zu mir. Sagtest du heute morgen nicht, daß ein wichtiger Termin auf dich wartete?«

Albert atmete tief. Er konnte sich nicht erinnern, daß er je in seinem Leben so aufgeregt gewesen war. Quatsch. Aufgeregt war überhaupt nicht das richtige Wort. Außer sich war er.

»Laura, hast du heute morgen schon die Zeitung gelesen?«

Die Zeitung lag auf der Platte des Rosenholzsekretärs, Blätter und abgeschnittene Stengel der Rosen bedeckten sie. Laura legte die Stirn in Falten und pustete ungeduldig eine Locke zurück.

»Nun sag schon was passiert ist, was dich so aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Es muß ja wirklich etwas Überwältigendes sein.«

Sein sonst so beherrschtes, schmalgeschnittenes Gesicht war dunkelrot, sogar sein Mund zitterte ein wenig.

»Ich war im Rätselraten noch nie gut.« Sie schlug bewußt einen burschikosen Ton an, sie wollte sich nicht eingestehen, daß seine Aufregung sie nervös machte. »Aber ich schätze mal, daß es nichts Unangenehmes ist. Wenn du wütend bist, siehst du anders aus.«

Er verzog den Mund, als wollte er lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. Seine braunen Augen brannten in seinem vor Aufregung roten Gesicht.

Das war ein ganz anderer Albert als der, den sie bis jetzt kannte. Mit seiner stoischen Ruhe, seinem Mangel an Begeisterungsfähigkeit hatte er die temperamentvolle Laura schon häufig auf die Palme gebracht.

»Laura, gestern war in Florenz die Auktion.«

»Na und?«

»Du solltest dich wirklich mehr für diese Dinge interessieren«, regte er sich auf. »Schließlich war dein Großvater ein berühmter Maler.«

»Berühmt? Aber nein, Albert, berühmt war er nicht. Ich mochte seine Bilder, ich mag sie immer noch und bewundere sie. Er hat nur wenige Bilder verkauft. Es war ein Glück für ihn, daß Großmutter Vermögen hatte.«

Lauras Hände umschlossen die Vase. Leise, mehr zu sich selbst sagte sie: »Sie haben nie versäumt, ihm zu zeigen, was sie von ihm hielten. In dem vornehmen Haus des Konsuls muß er sehr unglücklich gewesen sein. Es war ein Glück für ihn, daß er das Gartenhaus als Atelier ausbauen konnte. Ich kann mich noch sehr gut an ihn erinnern. Ich mochte ihn sehr. Als Kind bin ich, sooft ich nur Gelegenheit dazu hatte, in sein Atelier gegangen. Er hat mir Stifte und Papier gegeben, und ich habe gemalt. Vielleicht hatte er die Hoffnung, daß ich sein Talent geerbt hatte. Aber leider. Es waren für mich schöne, unvergeßliche Stunden. Besonders gern mochte ich, wenn er von sich selbst erzählte.«

Sie spürte plötzlich, daß Albert kaum zuhörte, sie musterte ihn gereizt.

»Willst du nicht endlich mit deiner Neuigkeit herausrücken? Ich habe heute morgen noch so einiges zu tun. Ich denke, du wirst auch im Büro gebraucht.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Das Büro ist nicht wichtig. Es wird sich in der nächsten Zeit einiges ändern. Ich freue mich jetzt schon auf das Gesicht, das der Kirchhoff machen wird. Ich werde ihm nämlich die Arbeit vor die Füße werfen. Jawohl. Ich fiebere darauf, ihm meine Meinung zu sagen. Von morgens bis abends habe ich geschuftet, die dicksten Aufträge habe ich ihm reingeholt. Und das alles wirklich nur für ein Butterbrot.«

»Albert!« Sie musterte ihn erschrocken. »Was ist denn in dich gefahren? Du warst bis jetzt mit deiner Arbeit doch zufrieden. Du bist doch erst ein Jahr bei Kirchhoff. Das ist die dritte Stelle innerhalb weniger Jahre.«

Er musterte sie gereizt.

»Warum schmierst du mir das aufs Butterbrot? Ich bin eben nicht so ein Typ, wie es dein Vater war. Außerdem hatte dein Vater alle Chancen auf seiner Seite. Bei seinen Beziehungen war es ein Kinderspiel, die Leiter des Erfolgs bis zur obersten Sprosse hinaufzuklettern. Ich bin ein anderer Typ. Ich brauche Freiheit. Ich bin nicht dazu geschaffen, ein Gehaltsempfänger zu sein. Ich brauche Raum um mich, ich will mein eigener Herr sein, ich will planen und arbeiten und das Geld, das verdient wird, auf mein Konto einzahlen.«

Sie musterte ihn ratlos. Sein herausfordernder Blick erschreckte sie noch mehr als seine Worte.

»Willst du mir nicht endlich erzählen, was dich so aus der Fassung gebracht hat?«

Sie war Albert auf dem Jahresfest vom Tennisclub begegnet und hatte sich Hals über Kopf in den jungen Mann verliebt. Er sah besser aus als alle Männer, die ihr bisher begegnet waren. Er war ein Mann! Und nicht so ein dummer Junge wie die, die bisher um sie herumtanzten.

Als sie ihn ihren Eltern vorstellte, hatten beide Mühe, die Form zu wahren.

In den Augen ihrer Eltern war er ein Niemand, ein Mann ohne »Familie«, was immer sie darunter verstanden. Vielleicht war es ihr Widerstand, der Laura dazu brachte, sich mit Albert zu verloben. Und was hatte ihr Großvater damals zu ihr gesagt?

Wie gut sie sich plötzlich an diese Szene erinnern konnte: nun, verloben kannst du dich mit ihm. Was sollte dagegen sprechen? Aber zieh die Zeit hübsch lange hinaus, so lange, bis du ihn richtig kennengelernt hast.

Vier Jahre waren sie jetzt verlobt. Nach dem Tod der Eltern nahmen beide von einer Hochzeit Abstand. Und leider lebte auch Großvater nicht mehr.

Sie kam nur mühsam in die Wirklichkeit zurück. Während sie ihn musterte, flogen die Gedanken durch ihren Kopf. Sie konnte nicht verhindern, daß ihr sehr unbehaglich zumute wurde.

»Auf der Auktion wurde ein Bild deines Großvaters versteigert.« Er sprach langsam, betonte jedes Wort. Und er ließ sie nicht aus den Augen. Sie strahlte, atmete aufgeregt.

»Welches Bild war es?«

Das war typisch für sie. Es interessierte sie nicht, was für das Bild bezahlt worden war. Für sie war sehr wichtig, um welches Bild es ging.

Er schüttelte heimlich über sie den Kopf.

»Mädchen im Lavendel heißt es. Es…«

Sie unterbrach ihn. Er hörte, daß ihre Stimme zitterte. Wie immer, wenn sie von Gefühlen übermannt wurde, klang ihre Stimme spröde, dunkel.

»Mädchen im Lavendel…« Sie strich mit der Hand über ihre Augen. »Ich erinnere mich, wie er das Bild gemalt hat. Ich durfte mit ihm und Großmutter verreisen. Wir wohnten in der Provence, in der Nähe von Avignon auf einem Weingut. Er malte die Tochter unseres Wirtes, und als wir fuhren, schenkte er ihnen das Bild.«

»Als ich die Summe las, habe ich an einen Druckfehler geglaubt. Ich habe sofort angerufen, und es wurde mit bestätigt.« Er sah sie aus großen Augen an. Er nannte die Summe. »Dollar, Laura. Nicht DM. Dollar.«

Sie stand ganz still, unbeweglich.

»Da bist du sprachlos«, nickte er zufrieden. »Ich kann dir sagen, mir hat es auch die Sprache verschlagen. Ich kriegte einen Augenblick keine Luft.«

»Wenn er das doch noch erlebt hätte. Er und seine Schwiegereltern, die ihn wie ein Nichts behandelt haben und ihm ständig zu verstehen gaben, daß ihre Tochter unter ihrem Stand geheiratet hat.«

»Ja, ja. Laß doch die alten Kamellen ruhen. Das hilft niemandem mehr. Laura, du hast doch noch Bilder von deinem Großvater. Du wirst wissen, wie viele es sind. Wir müssen sie verkaufen, so rasch wie möglich. Im Moment sind Bilder von ihm gefragt. Der Preis richtet sich nach der Nachfrage. Wenn einmal eine solche Summe erzielt wurde, bringen die anderen Bilder ganz bestimmt einen Super-Preis. Nur warten dürfen wir nicht.«

Es waren fünf Bilder, die sie von ihm hatte. Laura liebte jedes einzelne, für sie waren es mehr als Bilder. Es waren Erinnerungen, es war lebendige Vergangenheit, und jedes Bild hatte eine Geschichte.

»Aber ich will sie nicht verkaufen.«

Er öffnete den Mund, vergaß ihn zu schließen. Das war ja ungeheuerlich!

Seine Stimme war mehr ein Krächzen.

»Du willst sie nicht verkaufen? Das kann nicht dein Ernst sein. Das hast du dir natürlich nicht überlegt. Du hast ein Vermögen an der Wand hängen!« er untermalte die Worte mit aufgeregten Handbewegungen. »Wer beachtet denn die Bilder? Niemand. Du hast so viele Bilder an den Wänden hängen, daß…«

»Ich beachte sie. Sie sind meine Freunde, Albert. Ich brauche kein Geld, ich habe genug. Warum also sollte ich sie verkaufen? Sie gehören zu meinem Leben.«

Er starrte sie an. Zuerst ungläubig, dann voller Wut und Erbitterung. »Du hast genug Geld, sagst du! Dieser Kasten verschlingt mehr, als er wert ist. Das Haus ist viel zu groß und schlingt das Geld für Reparaturen weg. Hast du mir nicht erst vor kurzem erzählt, daß du das Dach decken lassen mußt und Angst vor den Kosten hast?«

Sie winkte ungeduldig ab. »Es braucht noch nicht gedeckt zu werden, und wenn, dann wird das Geld vorhanden sein. Ich habe keine kostspieligen Wünsche. Meine Eltern haben mir ein Vermögen hinterlassen, und wenn ich gut wirtschafte, reicht es.«

»Aber an mich denkst du natürlich nicht«, beklagte er sich bitter. »Du weißt, wie unglücklich ich mich in meiner abhängigen Stellung fühle. Wenn du die Bilder verkaufst«, seine Stimme wurde drängend, bittend, mit jedem Wort bat er um ihr Verständnis.» Wenn du sie verkaufst«, sagte er noch einmal, »dann kann ich mich selbständig machen. Ich weiß sogar, welches Projekt ich kaufen kann. Oben am Wald steht die alte Schloßruine, die Baronin wohnt im ehemaligen Gartenhaus. So lange sie lebt, ist sie Herrin über den Besitz und kann ihn verkaufen: »Seine Augen glühten begeistert. »Von der alten Schachtel werde ich das Grundstück zu einem guten Preis bekommen, die Erben würden die Summe natürlich in die Höhe treiben. Ich würde auf dem Grundstück Ferienhäuser bauen, ich habe mir schon lange Gedanken darüber gemacht, dachte natürlich, es wäre nur ein Traum und bliebe ein Traum. Ich hoffte einmal sogar, die Alte würde mir den Besitz überschreiben. Ich bin endlos oft zu ihr gegangen, hab ihr Blumen gebracht und meine Zeit geopfert. Ich war ihr sympathisch, das betonte sie immer wieder. Wenn ich es kaufen könnte, sagte sie, dann würde sie es niemandem so gern geben wie mir. Sie will sich in ein Damenstift einkaufen, aber mit leerer Brieftasche will sie da nicht auftauchen. Laura, mit dem Geld, das die Bilder bringen, kann ich es kaufen und hab noch genug Startkapital, um eine Firma aufzuziehen. Du kannst doch unmöglich nein sagen. Mein Erfolg ist doch auch dein Erfolg. Als meine Frau wirst du zu den Honoratioren unserer Stadt zählen, genau wie dein Vater und deine Großeltern. Um dich ist es in den letzten Jahren doch sehr still geworden. Zu keinem offiziellen Anlaß wurdest du mehr eingeladen. Aber das ändert sich mit einem Schlag, wenn wir das Geld haben. Dann bin ich wer.«

Sie sah ihn an, als wäre es das erste Mal. Er war noch immer eine blendende Erscheinung und konnte das Herz eines jungen Mädchens höher schlagen lassen. Aber so jung bin ich nicht mehr, dachte sie spöttisch.

Es war, als hätte jemand den Schleier von ihren Augen gezogen. Er war ein Mann, der sich schnell begeisterte. Und dann sobald es mühsam und Alltag wurde, die Lust verlor. Er war ein Blender, ein Egoist. Die alte Baronin würde er mit Wonne übers Ohr hauen und nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben.

Hatte sie ihn längst im Unterbewußtsein erkannt und hatte sie deshalb die Hochzeit immer wieder hinausgeschoben?

Nach dem Tod ihrer Eltern hatte er sie bestürmt, das Haus zu verkaufen. Ihr Nein hatte ihn geärgert, er war sogar einige Wochen fortgeblieben.