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Ralph Heiliger

Die Vermessung von Architektur

Von Pareto, Parmenides und dem schönsten Weihnachtsbaum

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Ralph Heiliger
Die Vermessung von Architektur
Von Pareto, Parmenides und dem schönsten Weihnachtsbaum

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www.ratio-books.de

eISBN 978-3-939829-76-8

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Inhalt

0 „Was wollen Sie werden? Vermessungstechniker?“

1 Warum werden Gebäude vermessen?

1.01 Bauaufmaß zwischen Tradition und Moderne

1.02 Ein neues Leistungsbild entsteht

2 Mangelt es an Bestandskenntnis?

2.01 Gutes Planen braucht gute Grundlagen

2.02 Wollen Architekten gut planen können? Können sie wollen?

3 Wie geht das: vermessen?

3.01 Wieso überhaupt vermessen?

3.02 Im Dreischritt: Messen, Denken, Zeichnen

3.03 Messen

3.04 Denken

3.05 Zeichnen

3.06 Prüfen: Q wie Qualität

4 Über den Zweck hinaus

4.01 Darf es etwas mehr sein?

4.02 Was ist mit Fortschritt?

5 Die ewigen Gegner

5.01 Streit der Intellektuellen

5.02 Einfalt der Akteure

6 Entgegen aller Theorie

6.01 Sich finden

6.02 Sich entscheiden

7 Personenregister

8 Literaturverzeichnis

0 „Was wollen Sie werden? Vermessungstechniker?“

In meiner Familie finden sich Maurer, Schreiner, Kranführer, Heizungsmonteure. Nahezu unvermeidbar wurde mein Interesse schon in jungen Jahren aufs Bauen gelenkt. In den Schulferien jobbte ich am Bau. Ich war vierzehn Jahre und verdiente 5 Mark die Stunde, das sind rund 2,50 Euro pro Stunde. Viel nutzen konnte ich dem Bauunternehmer nicht. Ich konnte Schaltafeln saubermachen, Nägel aus Brettern ziehen, kehren, den Ofen in der Bude am brennen halten und mittags einkaufen gehen. In den nächsten Ferien durfte ich dann schon am Kübel stehen, wenn die Fracht des Betonmischers vorsichtig hineingeschüttet und mit dem Kran befördert wurde. Für mich war das alles hochinteressant. Ich sah, wie ein Bauwerk wuchs, wie gewendelte Treppen geschalt wurden, wie man Stahlmatten verdrahtete und Decken betonierte. Es waren überaus lehrreiche Ferienjobs.

Mathematik, Physik, Deutsch, Kunst und Erdkunde – das waren die Schulfächer, die den Beruf des Vermessungstechnikers in mein Blickfeld rückten. Mein Berater beim Arbeitsamt fragte mich entsetzt: „Was wollen Sie werden? Vermessungstechniker? In ein paar Jahren wird alles vermessen sein, dann sind Sie arbeitslos!“ Das war 1975. Er sagte das nicht, weil er den Beruf nicht mochte. Er sagte es aus Überzeugung.

Ich bin dankbar, dass ich dennoch diesen Beruf ergriffen habe. Spannende Jahre sollten folgen: In den 1970er Jahren wurden die mechanischen Instrumente elektronisch, in den 1980ern startete das Global-Positioning-System (GPS). Mit dem Fall der Mauer und der Europäisierung bekamen wir neue Koordinatensysteme: Die Universal-Transversal-Mercatorprojektion (UTM) löste das Gauß-Krüger-Koordinatensystem ab, und statt über Normal-Null (NN) messen wir heute über Normal-Höhen-Null (NHN).

Mein Lehrherr hatte einen richtigen Computer: die Olivetti P203. Man saß an ihm wie an einer Bügelmaschine, die Beine unter der Tastatur, oberhalb die Schreibmaschine, rechts der Magnetkartenleser, dessen Karten so groß wie ein längs gefaltetes A4-Blatt waren. Zwei Jahre später investierte er in einen neuen Computer: die Olivetti P6060. Das war ein Geschoss! Interner Speicherplatz: 8 Kilobyte. 1982 kam der legendäre C64 auf den Markt, und mein Freund Norbert Haas und ich programmierten tage- und nächtelang: Primzahlengenerator, Flugbahnberechnung, Fahrsimulation. Wir programmierten in Maschinensprache. Deswegen waren wir auch enttäuscht, als die ersten IBM-PCs herauskamen: Sie stellten sich als wahre Schnecken gegenüber unserer Maschine heraus.

Die 1980er Jahre waren dem Studium der Geodäsie gewidmet – der Wissenschaft von der Vermessung der Erde. An der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn studierte ich das Theoriengebäude, in das ich das Praxiswissen einordnen und vertiefen konnte. Photogrammetrie und Städtebau vereinigten sich mit der Programmierung.

Zu jener Zeit erreichte das Thema Denkmalschutz unsere Gesellschaft. Mit den Denkmalschutzgesetzen enden nach und nach die Abbrüche und Totalsanierungen historischer Bauten. Das Erhalten denkmalgeschützter Gebäude, aber auch das Bauen im gewöhnlichen Bestand nahm allmählich zu.

Anfang der 1990er Jahre löste das rechnergestützte Zeichnen Tusche und Lineal ab. Der Bedarf der Architekten nach digitalen Bestandsdaten als Planungsgrundlage trat offen zutage. Es war diese Nachfrage, die zur Gründung des Büros IngenieurTeam2 führte. Unser Angebot: Wir vermessen Bauwerke und liefern digitale Bestandspläne. Unsere Aufmaßsoftware programmierten wir selbst. So stand die „2“ im Firmennamen von Beginn an für zwei Geschäftsfelder: Architektur-Vermessung und Software-Entwicklung.

Warum schreibe ich? Ein Buch muss sich rechtfertigen. Seit der Firmengründung im Jahre 1991 konnte ich ein Vierteljahrhundert Erfahrungen sammeln. Die Vermessung von Architektur gilt nach wie vor als schwer vermittelbare Leistung. Da vielfach Baubestand vermessen wird, der unter Denkmalschutz steht, entbrennt unter den Beteiligten – Bauherr, Projektsteuerer, Denkmalpfleger, Bauforscher, Architekt, Vermessungsingenieur – immer wieder Streit über die richtige Art und Weise des Bauaufmaßes. Dabei steht die Praxis des gewöhnlichen Bauaufmaßes der Theorie des denkmalpflegerischen Bauaufmaßes anscheinend unversöhnlich gegenüber. Doch das Bauaufmaß ist schon längst kein ausschließliches Metier mehr der Denkmalpfleger und Bauforscher. Nach wie vor spielen sie eine Rolle, aber Maßstäbe in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht setzen andere.

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts setzte eine Digitalisierungswelle ein, die ihresgleichen sucht. Das Projekt „Neues Kommunales Finanzmanagement“, mit dem die Kommunen von der Kameralistik zur doppelten Buchführung wechselten, führte zu einer bis dahin nicht gekannten Digitalisierung von Gebäudedaten, oft ohne Rücksicht auf ihre Verwendbarkeit in der Bauplanung. Das Vorgehen hatte kaum etwas mit dem gegenwärtig propagierten Begriff der Nachhaltigkeit zu tun. Zudem bemerkte man einen kulturellen Werteverfall, dessen Wirkung sich beispielsweise in der Auflösung der echten Kooperation, des Für- und Miteinanders von Auftraggeber und Auftragnehmer zeigt. Was bleibt, sind nüchterne Ausschreibungen, in denen der Billigste den Zuschlag erhält. Selbst über Jahre gewachsene Beziehungen lösen sich auf bei der Suche nach dem billigsten Angebot.

Wenn ich über diese Dinge berichte, erzähle ich nichts Neues. Ich versuche lediglich, die persönlichen Erfahrungen zu ordnen, sie in einen Zusammenhang zu stellen. Er mag ungewohnt erscheinen; ich versuche, die Sicht auf die Dinge mal anders zu wählen. Das ist alles.

Den Auftraggebern möchte ich Mut machen, die Leistung Architektur-Vermessung in Anspruch zu nehmen. Ich möchte Großimmobilienbesitzer wie Kommunen, Kirchen und auch Private auf die Möglichkeit der werterhaltenden, aber auch wertsteigernden Bestandsdaten hinweisen. Selbstverständlich sind die in dem Metier Tätigen angesprochen: Denkmalpfleger und Bauforscher, Restauratoren, Architekten und Vermessungsingenieure, eigentlich alle Ingenieure, gleich welcher Fachrichtung, die sich mit dem Bauaufmaß im engeren oder weiteren Sinn befassen oder deren Leistung auf einem Bauaufmaß aufbaut.

Nahezu fünfzehn Jahre hat es gedauert, bis mir dieses Buch druckreif erschien. In dieser Zeit bin ich fast verzweifelt. Kaum hatte ein Jahr angefangen, war es schon wieder vorbei. Und mein Manuskript hatte kaum an Seiten zugenommen. Insofern gilt mein Dank der Trägheit des Systems, der Standhaftigkeit der Bauforscher in ihren traditionellen Anschauungen, der dauerhaften Blindheit mancher Vermessungskollegen gegenüber dem Wesen des Bauaufmaßes. Ich verdanke dieses Buch allen Widersachern. Ohne die vielen Gesprächspartner, die sich unbeeindruckt von der Bedeutung qualitativ stimmiger Planungsgrundlagen zeigten, und die mir zu verstehen gaben, dass andere Gedanken für Entscheidungen ausschlaggebend sind, wäre mir manches unbewusst geblieben. Also danke ich all jenen, die mir den Kontrast vor Augen geführt haben, der zwischen meiner Vorstellung und der Vorstellung anderer liegt und der nicht wegzudiskutieren ist. Jeder hat auf seine Art Recht.

Mein Ziel ist erreicht, wenn unser sorgloser, oft unbedachter Umgang mit Bestandsdaten ein wenig infrage gestellt wird, wenn sich ein Gefühl dafür entwickelt, welch positive Wirkung mit Bestandsdaten einhergeht, die sich auf die reale Welt beziehen, und welch großartige Chance in der Informationsnutzung steckt. Mut gehört dazu, dies zu wollen.

Mutig waren vor allem zwei Auftraggeber: das Bistum Münster und GALERIA Kaufhof. Ihnen verdanke ich vieles!

Bonn, im März 2016

Ralph Heiliger

1 Warum werden Gebäude vermessen?

Von den Grundlagen für das Planen im Bestand

1.01 Bauaufmaß zwischen Tradition und Moderne

„Darf ich Sie mal fragen, was Sie hier machen?“

„Wir vermessen das Gebäude.“

„Aha. Und wofür braucht man das?“

„Das Haus soll umgebaut werden, und für die Planung braucht der Architekt Bestandspläne.“

„Aber es hat sich doch nichts verändert! Das Haus steht doch immer noch so, wie es gebaut wurde.“

Im Witz gelingt es uns regelmäßig, den gegenteiligen Standpunkt einzunehmen und uns dabei köstlich zu amüsieren: „Ich bin außen“, ruft der Mathematiker, dem die Aufgabe gestellt ist, eine möglichst große Fläche mit einem Draht gegebener Länge abzustecken, und er – statt diese Fläche, wie jeder normal denkende Mensch es tun würde, im Kreis oder als Vieleck im Gelände zu markieren – sich selbst im Draht einwickelt und seine Position schlicht als „außen“ deklariert. Unerwartet und voller Scharfsinn trifft uns diese Antwort. Doch im gewöhnlichen Alltag fällt es uns schwer, einen Sachverhalt einfach mal umzudrehen: Warum wird dieses Haus vermessen?

Es fehlt das Quäntchen Heureka: Nicht das Gebäude ist der Grund für die Vermessung; es ist der einstige Plan des Gebäudes. Der hat sich vielleicht auch nicht verändert. Aber es wurde oft nicht so gebaut wie geplant, weil vielleicht andere Verhältnisse beim Bau vorgefunden wurden als bei der Planung angenommen. Zum Beispiel die Grundstücksbreite der Baulücke, die nun doch kleiner ist als im Kataster angegeben, oder der archäologische Fund, der rasch eine Änderung des Kellers erforderlich machte. Allzu oft werden solche Spontanänderungen im Plan nicht nachgeführt. Die Planung passt dann nicht mehr mit dem tatsächlich Gebauten überein. Und sobald das Haus steht, interessiert sich ohnehin niemand mehr dafür.

Nicht vergessen, sondern archiviert bleiben die Pläne in den Bauaktenarchiven der Städte, Kreise und Gemeinden. Sie gibt es seit dem 19. Jahrhundert.1 Mit jedem Bauantrag werden Pläne, Baubeschreibung, Statik und Lageplan der zuständigen Baubehörde zur Genehmigung eingereicht. Als Nachweis des Genehmigungsbescheides verbleiben sie im Bauaktenarchiv. Sie dokumentieren die beabsichtigte Planung, also das Bauvorhaben vor Baubeginn. Ein Nachführen der Pläne auf den Stand nach dem Bau ist nicht vorgesehen, ist aber auch nicht Aufgabe der Baubehörde. Und so sind amtlich archivierte Pläne für anstehende Sanierungen oder Umbauten mit Vorsicht zu gebrauchen. Nur in seltenen Fällen repräsentieren sie das tatsächlich Gebaute.

Da kann der Bauherr schon besser vorsorgen. Sein Auftrag an den Architekten umfasst in der Regel mehrere Leistungsphasen: Sie reichen von den ersten Gesprächen, in denen gemeinsam die Vorstellungen und das Machbare diskutiert werden, über die Phase des Entwerfens und Planens bis hin zur Ausführung des Bauvorhabens. Die letzte Phase ist der Dokumentation gewidmet. Hier erhält der Bauherr vom Architekten den letztgültigen Stand der Planung. Damit wäre es doch eigentlich getan, und der Bauherr könnte bei Umbauten auf diese Pläne zurückgreifen. – Ganz so ist es leider nicht. Denn die Dokumentation bezieht sich auf den letztgültigen Stand der Planung, nicht auf das tatsächlich Gebaute. Dieser feine Unterschied kann im Falle eines Umbaus zu heftigen Missverständnissen führen.

Manche Archivpläne erwecken zudem den Eindruck, als zeigten sie ein ganz anderes Gebäude als den Altbau, um den es geht. Dann nämlich, wenn Umbauten, Erweiterungen und Teilabrisse das Gebäude so in seiner Struktur verändert haben, dass man den Ursprungsbau kaum noch herauslesen kann. Wind und Wetter tun ihr Übriges, der Konstruktion beispielsweise historischer Fachwerkbauten zuzusetzen. Balken und Decken können sich unter der Last wechselnder Nutzungen verformt haben. Selbstverständlich zeigen Pläne, so denn überhaupt noch welche vorliegen, diese schleichenden und oftmals verborgenen Veränderungen nicht. Wie soll der Architekt dann zuverlässig planen? Wie soll der Statiker seriös berechnen, ob das Tragwerk hält? Ohne Kenntnis des aktuellen Zustandes können wir schlecht planen. Unser Tun ist vom Glauben an das Richtige geprägt, nicht jedoch von der Gewissheit, auch das Richtige zu tun.

In den 1980er Jahren nahm das Bauen im Bestand in Deutschland allmählich zu. Die Neubauphase der Nachkriegsjahre war zu Ende. Das Interesse an historischen Bauten stieg. Immer häufiger wurden Altbauten saniert. Anfang der 1990er Jahre betrug der Anteil des Bauens im Bestand allein im Wohnungsbau in den alten Bundesländern fast sechzig Prozent.2 Heute hat allgemein das Bauen im Bestand den Neubau überholt.

Bestandskenntnis bildet die Voraussetzung für Entscheidungen, Planungen und Folgenabschätzung: Wie können wir die Grundrissteilung optimieren, so dass sie einer modernen wirtschaftlichen Nutzung entspricht? Welche Mauern können wir abreißen, welche müssen stehen bleiben? Was muss aus statischen Gründen konstruktiv verstärkt werden? Diese Fragen wiegen umso schwerer, wenn der Altbau das Siegel des Denkmalschutzes trägt. Das Denkmal steht unter unser aller Schutz. Und damit der Schutz in einem Rechtsstaat wie dem unseren keine Worthülse bleibt, ist er gesetzlich verankert. Und die Maßnahmen, die daraus für den Erhalt der Denkmäler folgen, fassen wir unter der Denkmalpflege zusammen.

Wenn wir ein Denkmal pflegen wollen, müssen wir wissen, was erhaltenswert ist und was geändert werden darf. Wenn es aber keine Beschreibung gibt, keine Aufzeichnung und keine Begründung des erhaltenswerten Bestandes, wie können wir dann sagen, was erhaltenswert ist und was nicht? Unser Handeln soll pfleglich mit dem Denkmal umgehen. Aber auch wenn wir uns mit Herz und Seele dem Denkmal verbunden fühlen, fehlt uns mitunter die Kenntnis beispielsweise historischer Bauweisen oder bestimmter Materialien. Wie können wir dann behutsam und denkmalgerecht planen und bauen?

Das Bauen im Bestand erfordert von uns dieselbe Sorgfalt, wie sie auch der Chirurg im Krankenhaus an den Tag legt: Bevor er das Skalpell ansetzt, wird er den Patienten gründlich untersucht haben. Wenigstens vertraut man darauf. Auch ein Richter wird vor seinem Urteilsspruch die Sach- und Rechtslage hinreichend geprüft haben. Hoffentlich! Denn sonst herrschte Willkür, und die Folgen wären chaotisch. Nicht chaotisch, aber schon riskant wirkten sich Baumaßnahmen aus, die ohne Bestandskenntnis loslegten: finanziell, denn niemand kann die Investition zuverlässig kalkulieren; statischkonstruktiv, denn wenn eine tragende Mauer abgebrochen wird, können die Folgen fatal sein; kulturell-gesellschaftlich, denn bei Denkmälern kann wertvolle Bausubstanz vernichtet werden. All das soll nicht sein. Verantwortungsvolle Bauherren wollen weder Geld zuschießen noch böse Überraschungen erleben, und sie wollen auch nicht ihr Denkmal gefährden. Darum steht vor jeder Baumaßnahme im Bestand zuerst eine Bestandsaufnahme.

Mit der Bestandsaufnahme historischer Bauten und besonders von Denkmälern befasst sich in Deutschland die Historische Bauforschung. Sie erfasst systematisch die Bauten und ihre Reste, fragt nach der historischen Bauweise und wie sich das Denkmal in die Geschichte einordnen lässt.3 Die Historische Bauforschung schafft mit der Bestandsaufnahme eine wichtige Grundlage gleich für drei Fächer4:

1. für die Planung, indem die Bestandsaufnahme den aktuellen Zustand dokumentiert und belastbare Planungsgrundlagen schafft,

2. für die Kunstgeschichte, indem die Bestandspläne für die Erforschung der Denkmäler dienen und

3. für die Denkmalpflege, weil die Dokumentation die notwendige Orientierung bietet, das Denkmal zu erhalten.

Mit Zunahme der Baumaßnahmen im historischen, denkmalgeschützten Bestand stieg auch der Bedarf an Bestandsaufnahmen. 1984 brachte der Architekt und Bauarchäologe Johannes Cramer das Buch „Handbuch der Bauaufnahme“ heraus. Es bietet eine Arbeitshilfe für die in der Bauaufnahme tätigen Fachkräfte. Er gliedert die Bauaufnahme in5:

- das Bauaufmaß,

- die Baubeschreibung,

- die Fotografie,

- die Bauuntersuchung und

- die Zeichnung.

Zwei Jahre später erläuterte Gerda Wangerin in ihrem Buch „Bauaufnahme – Grundlagen, Methoden, Darstellung“, dass zur Bauaufnahme gehören6:

- das Aufmaß vor Ort und

- die zeichnerische Wiedergabe,

- die schriftliche Wiedergabe und

- die Baugeschichte.

Ähnlich formulierten 1993 der Denkmalpfleger Michael Petzet und der Bauforscher Gert Mader in dem als Standardwerk geltenden Buch „Praktische Denkmalpflege“ den Begriff Bauaufnahme. Sie zählen hierzu:

- Bestandspläne einschließlich Beschreibung,

- Befundbeobachtung und

- Befunduntersuchung,

- die fotografische Erfassung,

- das Raumbuch und

- archivalische Nachforschungen.

Allerdings reduzierten sie den Begriff Bauaufnahme später in Anlehnung an Wangerin auf die Vermessung und die maßstäbliche Aufzeichnung, also auf das, was Cramer mit Bauaufmaß bezeichnet.7 Die Begriffe Bauaufmaß und Bauaufnahme werden in der Literatur synonym verwandt. So auch bei dem Kunsthistoriker Ulrich Großmann, der in seinem Buch „Einführung in die historische und kunsthistorische Bauforschung“ hinter dem Begriff Bauaufnahme in Klammern das Aufmaß setzt.8 Jürgen Giese, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bamberg, fasst unter Bauaufnahme zusammen9:

- die Zeichnung,

- die Beschreibung und

- die Fotodokumentation.

Die gebaute Wirklichkeit wird gezeichnet, beschrieben und fotografiert. Diese Dreiheit nennt er Basisverfahren einer Baudokumentation. Zu den Zusatzverfahren zählen archäologische Untersuchungen, Dendrochronologie (Altersbestimmung), Materialprüfungen und -analysen, restauratorische Befunduntersuchungen, Baugrunduntersuchungen und viele andere mehr. Die Zweiteilung in Basisverfahren und Zusatzverfahren leuchtet ein; die Basisverfahren schaffen ein maßlich stimmiges Abbild: Die Zeichnung dokumentiert die Bauwerksgeometrie, die Beschreibung ergänzt, was nicht oder nur schwer verständlich gezeichnet werden kann, und Fotos geben einen visuellen Eindruck. Die Zusatzverfahren bieten Detailkenntnis: Zum Beispiel hilft uns die Dendrochronologie bei der Bestimmung des Baujahres. Materialanalysen lassen auf statische Eigenschaften schließen. Archäologische Untersuchungen vermögen das Bauwerk in seiner Geschichte einzubinden. Die Ergebnisse der Zusatzverfahren erweitern das Basiswissen.

In diesem Buch wird dem Begriff Bauaufmaß der Vorzug gegenüber der Bauaufnahme gegeben, weil hier das Messen ablesbar ist, während die Bauaufnahme wie die Bestandsaufnahme mehr Allgemeinbegriffe sind. Das Bauaufmaß führt zum Baubestandsplan. Und dieser muss vor allem eines: Er muss stimmen. Er muss das reale Bauwerk maßlich und geometrisch exakt wiedergeben.10 Vor allem gehören hierzu die durch Alterung und Lastenumverteilung bewirkten Verformungen.11 Das Aufmaß soll so genau sein, dass Verformungen zweifelsfrei aufgedeckt werden. Ihre lagerichtige Darstellung ermöglicht, die Schadenssituation und statischen Verhältnisse der Baukonstruktion zu beurteilen. Auf dieser Grundlage können Instandsetzungen geplant werden und kontrolliert ablaufen.12

In den 1980er Jahren hat sich für diese Dokumentationsqualität der Terminus verformungstreu herausgebildet. Das verformungstreue Bauaufmaß etabliert sich rasch als Kennzeichen der Historischen Bauforschung. Diese Qualität war in der Tat neu. Verformungen aufdecken galt bis dahin als große Herausforderung. Mit dem gewöhnlichen Architektenaufmaß war das schlicht unmöglich; denn beim Architektenaufmaß wird das Bauwerk in wenigen Einzelmaßen und mit einem geübten Blick für Proportionen visuell erfasst. Das Ergebnis ist ein mehr oder weniger idealisierter Grundriss, in der Darstellung zwar treu der Raumabfolge, aber bei weitem nicht treu in seiner maßlich-geometrischen Aussage. Deformationen bleiben bei dieser Methode außen vor.

Dagegen nutzte das verformungstreue Handaufmaß Schnüre als physisch greifbare Hilfslinien. Von einer Basislinie beginnend suchte man Dreiecke zu spannen und aneinanderzulegen. Das System aus Messtechnik, Verfahren, Mensch und Bauwerk musste schon sehr gut aufeinander abgestimmt sein. Schlich sich an irgendeiner Stelle eine Ungenauigkeit ein, zum Beispiel durch ein nicht horizontal gestrafftes Messband, pflanzte sich der Fehler unaufhaltsam im Dreiecksnetz fort. Wenn auch Verformungen so nicht immer zweifelsfrei aufdeckbar waren, mitunter durch Maßfehler auch scheinbare Formabweichungen entstanden, so bot das Verfahren zumindest den Vorzug, dass die Maßzuverlässigkeit gegenüber dem Architektenaufmaß erheblich gesteigert war.

Die Fehleranfälligkeit des Dreiecksnetzes sank schlagartig, als die Bauforscher in den 1980ern beginnen, den aus dem Vermessungswesen bekannten Winkelmesser – den Theodoliten – einzusetzen. Auf einmal waren neben den Seiten des Dreiecks auch die Winkel messbar. Es gab plötzlich überschüssige Messwerte, die das Messnetz stabilisierten und in sich kontrollierten. Auch das Messen außerhalb der Horizontalen war nun einfacher. Mit dem Theodoliten lassen sich Punkte anzielen, die weit oberhalb oder unterhalb der Rissebene liegen – ein nicht zu unterschätzender Aspekt bei Bauwerken, die sich ja bekanntlich in der Vertikalen oft über mehrere Geschosse erstrecken. Bauforscher können auf einmal wesentlich einfacher als mit Loten klären, inwieweit die Grundrissgeometrie des oberen Geschosses mit der des Erdgeschosses übereinstimmt. Werden die gemessenen Punkte in die Zeichnung übertragen und mit Linien verbunden, zeigen sich auf einmal keine geraden, sondern gekrümmte Konturen: Verformungen treten zutage. Der Einsatz vermessungstechnischer Instrumente und Verfahren galt Anfang der 1990er Jahre als etabliert. Sie gewährleisten maßliche Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit des Verfahrens.13

Das verformungstreue Aufmaß hatte zu einer enormen Genauigkeitssteigerung in der Bauforschung geführt. Die moderne Messtechnik ließ die Geometrie eines Bauwerks zuverlässig bestimmen. Schiefwinkligkeiten, Krümmungen und Wölbungen konnten sicher erfasst werden. Abweichungen von idealen Formen wurden nachweisbar. Das war wohl spektakulär! Im Rückblick wird verständlich, dass der Fortschritt im Bauaufmaß für jeden Bauforscher gewaltig erscheinen musste. Und dieser Eindruck manifestierte sich im Ausdruck „verformungstreu“. Streng genommen war es aber nur die Übernahme längst erprobter Werkzeuge und Verfahren des Vermessungswesens. Diese waren keineswegs spektakulär, auch nicht neu. Sie waren einfach Stand der Technik zu jener Zeit, wenigstens im Vermessungswesen. Die Übernahme der Vermessungstechnik in die Bauforschung machte das Aufmaß der Bauforschung zu dem, was es immer schon sein wollte: exakt, präzise, genau. Verformungstreues Aufmaß bedeutet insofern den Einsatz moderner Vermessungstechnik.

Wer exakt dokumentieren möchte, der muss vermessen können. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Die Qualität einer Dokumentation hängt zugleich vom Kontakt zum Bauwerk ab: Messen und Zeichnen finden immer vor Ort in einem gemeinsamen Arbeitsgang statt.14 Gerade der Kontakt zum Bauwerk mit allen Sinnen lässt den Planer das Gebäude in all seinen Aspekten begreifen.15 Immer wieder nennt die Historische Bauforschung diese Einheit von Messen und Zeichnen. Was hat es damit auf sich?

Für Aufmaß und Zeichnung bieten sich zwei grundsätzlich verschiedene Vorgehensweisen an. Wir können erstens alles, was wir draußen messen, die Geometrie des Grundrisses, vor allem die Maßzahlen, in einer Skizze festhalten. Später im Büro zeichnen wir nach diesen Angaben den Bestandsplan. Die Kunst dieser Methode besteht darin, die Kartierung vor Ort gedanklich vorwegzunehmen, sodass keine Maße vergessen werden. Jeder, der dieses Verfahren einmal praktiziert hat, weiß, wie viel Konzentration ein solches Bauaufmaß abverlangt. Maße können falsch gemessen oder notiert werden, sie können Zahlendreher enthalten oder schlicht vergessen werden. In diesen Fällen lässt sich schlecht weiterzeichnen. Schlimmstenfalls muss erneut vor Ort nachgemessen werden. Petzet/Mader beschreiben die herkömmliche Methode des Bauaufmaßes sehr anschaulich: „Skizzieren, zu zweit messen, eventuell mit einer dritten Person, die notiert; aus Sicherheitsgründen wesentlich mehr Maße als nötig nehmen, ins Büro fahren, dort auftragen, fehlende Maße suchen, interpolieren, wieder zurückfahren, neu skizzieren, neu messen, wieder ins Büro fahren, erneut auftragen und korrigieren, in zwanzig Skizzenblättern Maße nicht mehr finden, das einundzwanzigste Skizzenblatt verzweifelt suchen, schließlich das fehlende Maß erfinden …“16 Unwillkürlich kommt der Gedanke: Wir sollten gleich vor Ort zeichnen. Fehlende oder falsche Maße würden sofort auffallen. Wir könnten nachmessen und korrigieren. Vor allem hätten wir den räumlichen Eindruck vor Augen. Wir könnten das Gezeichnete unmittelbar mit der Wirklichkeit vergleichen. Wir könnten porträtierend das Bauwerk in seinen Details mit Rissen, Gebrauchs- und Alterungsspuren erfassen – ja, das Zeichnen vor Ort verspricht Verlässlichkeit.17

Petzet/Mader erklären die Direktauftragungsmethode als grundsätzliche Voraussetzung qualifizierter Ergebnisse.18 In der Historischen Bauforschung herrscht Einigkeit darüber, dass das Aufmaß keinesfalls als Skizze angefertigt werden dürfe, die anschließend am Schreibtisch ausgearbeitet wird. Das Aufmaß habe unbedingt bereits vor Ort maßstäbliche Zeichnungen zu liefern. Nur so sei ein Bauaufmaß als wahre Dokumentation eines Hauses anzusehen.19 Ja, die Methode sei die einzig wahre Methode und wird zur eisernen Regel erklärt.20 Die Verwendung von Zeichenkarton habe sich bewährt. Er sei mechanisch belastbar, relativ unanfällig und träge in seiner Reaktion auf Feuchte- und Wärmeunterschiede.21 Gezeichnet würde mit einem harten Bleistift, abhängig von der persönlichen Aufdruckstärke sowie von Witterung und Zeichnungsträger; die Mine sollte immer gut angespitzt sein.22

Zeichnen vor Ort in Blei auf Karton? – Das klingt merkwürdig. Zeichnen vor Ort mag ja noch angehen, im Sinne eines „ganz dicht am Bauwerk sein“. Aber Blei auf Karton? Das scheint nicht dem Stand der Technik angemessen. Seit den 1990er Jahren ist die Zeichentechnik digital. Das rechnergestützte Zeichnen ist im Berufsalltag die übliche Darstellungsform für Architektur- und Bauzeichnungen geworden.23 Ergebnisse sind digital und vektororientiert.24 Der Architekt und Professor für Bauaufnahme Emil Hädler erklärt, dass es eigentlich nur theoretisch möglich sei, im Maßstab 1:25 in Blei auf Karton ein Bauaufmaß durchzuführen. Für den Regensburger Dom hatten dafür Generationen von Studenten Zeit.25 Hädler hält das Blei-auf-Karton-Postulat aus wirtschaftlichen Gründen für nicht tragfähig.26

So schön handgezeichnete Bleistiftzeichnungen aussehen, sie stehen dem digitalen Zeitgeist entgegen. Handzeichnungen werden längst von Auftraggebern abgelehnt; sie lassen sich im Planungsablauf nicht integrieren. Da helfen auch keine Argumente, man könne die Aufmaßzeichnungen scannen und den Architekturplanungen als Bilder hinterlegen.27 Die Intelligenz vektororientierter Zeichnungen wird an der Stelle gebrochen, wo Bilder ins Spiel kommen. Mengenanalysen und Flächenberechnungen werden unmöglich oder so sehr erschwert, dass ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich ist. Allerdings muss man zugeben, dass die Computertechnik nicht annähernd an die Leichtigkeit des Bleistiftzeichnens heranreicht. Wenn wir uns aber vorstellen, ein Computer mit entsprechender Software wäre in der Lage, die Art und Weise des Zeichnens auf Karton nachzustellen, es gäbe keine Hardwarebeschränkung hinsichtlich der Leichtigkeit des Zeichnens, die Leistungsfähigkeit wäre so hoch, dass eine Beeinträchtigung durch Ruckeln oder lange Antwortzeiten nicht gegeben wäre und selbst widrigste Umgebungen wie beispielsweise sein Einsatz in der Wüste, würde ihm nichts ausmachen – welchen Grund gäbe es noch, an Blei auf Karton festzuhalten? Ein Bearbeiter würde mit einem solchen Computer eine wesentlich höhere innere Sicherheit und Freiheit erlangen. Er würde sich auf das Bauwerk konzentrieren können. Das Zoomen ließe ihn frei agieren. Er könnte Details genauso fein zeichnen wie Grobformen. Radieren falscher Eintragungen hinterließen keine schmierigen Oberflächen. Alles wäre sauber und klar. Ebenso könnten idealerweise alle Befunde, wie es Mader fordert, in die Zeichnung aufgenommen werden.28

Darum geht es doch, wenn wir von „Zeichnen und Messen als Einheit“ reden, um die Konzentration auf das Bauwerk, um das aufmerksame Beobachten und Dokumentieren. Hierzu bedarf es eines Werkzeuges, das dem Bearbeiter eine hohe Bearbeitungsfreiheit lässt. Die würde mit dem Bleizeichnen auf Karton gewährleistet. Ein Auseinanderreißen der Einheit, also ein Messen vor Ort und das Zeichnen im Büro, würde zu einem Bruch führen: Der Verlust an Unmittelbarkeit wird als Umweg erlebt, als zeitliche Verzögerung, als Auseinanderreißen der als mittelbar miteinander verbundenen Handlungen. Denken und Handlungen koinzidieren nicht.29 Davor hat die Bauforschung Angst: dass die Unmittelbarkeit zum Bauwerk verloren geht.

Eine ähnliche Angst bestand auch Anfang der 1980er Jahre bei Einführung der digitalen Zeichenprogramme: Man fürchtete bei „komputerisierten Graphen komplexer Urbanisationen“ einen „Schwund an architektonischer Kultur.“30 Bislang sind digitale Werkzeuge zu kompliziert in der Handhabe. Sie lenken die Konzentration auf das Bedienen des Werkzeuges, und damit lenken sie vom Bauwerk ab. Das Postulat „Messen und Zeichnen als Einheit“ zielt auf das genaue Beobachten, die Konzentration auf das Bauwerk, oder, wie der Bauforscher Manfred Schuller es meint: Auf ein mehr Denken statt nur Messen.31

Im Grunde ist das Postulat nichts weiter als eine Moment-Forderung. Sie gründet sich auf die verfügbare Technik der Zeit. Eine solche Forderung sollte aber nicht dazu führen, dass die Momenterscheinung zum Dogma auf ewige Zeit erhoben wird, wie es der Kunsthistoriker und Bauforscher Matthias Donath treffend identifiziert: „… hat das Fach ein starres, dogmatisches System von Methoden und Arbeitsweisen aufgebaut, …“32 Sie sollte vielmehr mit dem Fortschreiten des Standes der Technik ebenfalls fortschreiten. Immer wieder geht es darum, „bekannte Methoden auf ihre Brauchbarkeit zu untersuchen und auf neue Techniken hinzuweisen“33, stellt Cramer schon 1984 im Vorwort seines Handbuches der Bauaufnahme klar.

Der Stand der Technik hat sich in der Tat durch das Computer-Aided-Design (CAD) vom Analogen zum Digitalen gewandelt. Das können wir nicht leugnen. Und wir können uns auch nicht sperren. Zumindest nicht jene, die im Markt wirtschaftlich agieren und nicht allein unserer Gesellschaft dienen. Im Übrigen trägt die Einheit „Messen und Zeichnen“ einen eklatanten Widerspruch in sich: Zwei im Bauaufmaß längst etablierte Messverfahren sind Photogrammetrie und Laserscanning: das Messen in zweidimensionalen Fotos und das Messen in dreidimensionalen Scans. Beide entfernen den menschlichen Beobachter vom Bauwerk. Direktumsetzend in Zeichnung ist keines von ihnen. Sie liefern Messwerte, und die Zeichnung entsteht später im Büro. Was sollen wir tun? Photogrammetrie und Laserscanning ignorieren? Ist das die Forderung der Bauforschung?

Zumindest teilweise, meinen einige. Während das moderne Laserscanning bis heute einen schweren Stand in der Bauforschung hat und höchstens für grobe Geländeaufnahmen als geeignet erachtet wird34, gilt die Photogrammetrie als etwas Besonderes, hat bisweilen etwas Mystisches. In der Liste wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden wird regelmäßig das Verfahren der Photogrammetrie hervorgehoben, während die klassischen Vermessungsverfahren meist unerwähnt bleiben.35 Sie wird sogar als eigenständige Aufmaßgrundlage genannt.36 Gleichwohl man weiß, dass gerade die Photogrammetrie das Postulat vom „Messen und Zeichnen als Einheit“ schwer erschüttert, findet man stets genügend Argumente, ihre Anwendung in der Bauforschung zu rechtfertigen. Man ist halt stolz darauf, dass gerade der Architekt und Bauforscher Albrecht Meydenbauer es war, der die Photogrammetrie im 19. Jahrhundert entwickelte.

Aber das „Messen und Zeichnen als Einheit“ als grundsätzliche und erzwungene Vorgabe für die Aufmaßmethode muss abgelehnt werden. Photogrammetrie und Laserscanning sind praxisbewährte Aufmaßtechniken und können nicht ignoriert werden. Fühlen, Schmecken, Riechen lässt sich nur das Detail, so wie man einen Kuchen in kleine Stücke zerlegt und genießt und nicht den Kuchen als Ganzes in den Mund stopft. Baufugen bei Steinbauten, mit Mörtel ausgefüllte Steinmetzzeichen, die Unterscheidung von Holznägeln und Astlöchern – alle diese Detailfragen löst die Photogrammetrie nicht und auch nicht das Laserscanning. Ihre Ergebnisse müssen von Hand nachgearbeitet werden. Dennoch kann die maßgenaue Vorarbeit, sozusagen das Messen der Großform, von großem Vorteil sein.37

Wir setzen unsere Werkzeuge und Verfahren so ein, wie es der Lösung unserer Aufgabe angemessen ist: die Photogrammetrie und das Laserscanning beispielsweise, um die Form eines Gebäudes zu erfassen, den Zollstock direkt an der Bauwerksoberfläche, um Details zu erfassen. Das Beobachten vor Ort versteht sich als Selbstverständlichkeit, wenn ich Details erfassen möchte. Das geht nicht aus der Ferne. Da muss ich dicht ran. Grobformen wie beispielsweise den Pflaumenbaum auf der Wiese erkenne ich von Weitem; den Wurm in der Pflaume nur von Nahem. Wir sind es unseren Sinnesorganen schuldig, dass wir das eine Mal dicht ran müssen und anderes durchaus aus der Ferne erkennen können.

Seit den 1980er Jahren scheint sich die Historische Bauforschung nur noch mit der Frage zu beschäftigen: Wie sollen wir messen? In messtechnischer Hinsicht zeichnet sich die Bauaufnahme grundsätzlich durch das Bemühen um hohe Genauigkeit aus.38 Das ist sehr technikorientiert, jedenfalls nicht ergebnisorientiert. Offensichtlich verstehen Bauforscher in den 1980ern unter „präzise“ die Methode, nicht das Ergebnis. Die Messtechnik steht im Vordergrund. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, dass man vorher mit Lot und Schnüren gearbeitet hat. So gesehen ist das Bauaufmaß genau dann analytisch, wissenschaftlich und verformungstreu, wenn vermessungstechnische Geräte eingesetzt werden.

Die Übernahme der modernen Messtechnik hat das traditionelle Bauaufmaß revolutioniert. Alle Autoren – Cramer, Wangerin, Petzet/Mader und andere – mussten zwangsläufig ihren Kollegen Antworten geben auf die Frage: Wie misst man mit Vermessungsinstrumenten? Worauf ist zu achten? Denn all das war neu in der Bauforschung. Und wenn der Erfolg dauerhaft sein sollte, musste das Wissen um den Einsatz der Messtechnik in die Breite getragen werden. Dabei postulierten sie ein Verfahren des Bauaufmaßes, das aus ihrer Zeit und aus ihrem Beruf heraus verständlich wird. Doch in den letzten dreißig Jahren vollzog sich eine technische Entwicklung, die den Blick von der Methode wegführte hin zum Ergebnis. Nicht mehr ist die Frage entscheidend, wie wir messen, sondern die Frage nach dem Ergebnis.

Lassen Sie uns die Stationen Revue passieren:

Das Computerzeitalter begann so richtig in den 1970ern. Eine Vielfalt an Computerherstellern bringt eine Vielfalt an Programmen auf den Markt. Waren bis dahin vermessungstechnische Berechnungen mühsam per Formular und Rechenschieber oder Logarithmentafel zu lösen, genügte ab sofort das Eingeben der Messwerte in das Rechenprogramm, und nur einen gefühlten Augenblick später konnte man das Ergebnis am einzeiligen Display oder auf dem Nadelstreifendruck ablesen. Rechner und Programme werden von da an ständig leistungsfähiger. Es entstehen neue Programme, und komplexe Berechnungen werden immer leichter.

Beflügelt durch den technischen Fortschritt entfaltete die Photogrammetrie in den 1980ern einen volkstümlichen Siegeszug: Die mit handelsüblichen Fotoapparaten geschossenen Fotos können am Digitalisiertablett nachgezeichnet und via Software zu maßstäblichen Bildplänen entzerrt werden. Wilfried Wester-Ebbinghaus studierte in Bonn Geodäsie und wurde später Professor für Photogrammetrie an der TU Braunschweig. Wie kein anderer trieb er die Entwicklung der Nahbereichsphotogrammetrie voran. Unter seiner Regie produzierte der Kamerahersteller Rollei die ersten metrischen Mittelformatkameras. So fand das photogrammetrische Verfahren aufgrund der Technik und durch die Bezahlbarkeit des Systems weite Verbreitung. In den Augen der Auftraggeber brannten sich Bilder ein: photogrammetrisch entzerrte Fachwerkfassaden. Der Begriff Photogrammetrie wird zum Synonym für Fassadenaufnahme. Noch heute bitten ältere Auftraggeber ihre Dienstleister freundlich um eine Photogrammetrie und meinen doch eigentlich das Aufmaß einer Fassade.

Die konventionelle Messtechnik der 1980er Jahre basierte auf dem Theodoliten, später auf dem winkelund394041