Vorbemerkung

Wir befinden uns an der Ostküste der USA, im Jahre 1922. Es ist die aufregende Zeit der ›Roaring Twenties‹, als in New York Wolkenkratzer aus dem Boden wachsen und die Menschen lebenshungrig den Tanz auf dem Vulkan üben. Auf Long Island lebt man in mondäner Dekadenz, die harten Seiten des Lebens haben hier keinen Platz. Der junge Börsenmakler Nick Carraway bezieht auf der Halbinsel, die New York unmittelbar vorgelagert ist, ein kleines Haus, das er sich mit seinem schmalen Salär gerade noch leisten kann. Sofort fällt ihm die enorme Villa seines Nachbarn auf, in der alle paar Tage monströse Partys mit Hunderten von Gästen gefeiert werden. Der Gastgeber aber, ein gewisser Gatsby, hält sich auffallend zurück. – Gerüchte umgeben den Mysteriösen, und viele seiner Gäste bekommen ihn nicht einmal zu Gesicht. Auch für Carraway bleibt der Mann ein Rätsel. Doch eines Tages steht Gatsby in seinem riesigen Wagen vor dem Häuschen Carraways und schlägt vor, ihn nach New York zum Lunch zu begleiten – und bittet ihn dabei um einen merkwürdigen Gefallen ...

 

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Der Autor: Francis Scott Key Fitzgerald (* 24. September 1896 in St. Paul, Minnesota;  21. Dezember 1940 in Hollywood) war ein US-amerikanischer Schriftsteller. Schon sein erster Roman ›This Side of Paradise‹ machte ihn im Alter von 23 Jahren weithin bekannt. Gemeinsam mit seiner Frau Zelda Sayre führte Fitzgerald in den 1920er Jahren ein exzessives Leben, als typische Vertreter der ›Roaring Twenties‹, die man in Europa die ›Goldenen Zwanziger‹ nannte. ›Der große Gatsby‹ (1925) ist Fitzgeralds erfolgreichstes und wichtigstes Buch, das ganze Generationen von Autoren nach ihm prägte. Auf der Rangliste der 100 besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts, die 1998 vom Verlagshaus Modern Library veröffentlicht wurde, steht ›The Great Gatsby‹ nach ›Ulysses‹ von James Joyce auf Rang 2. – Fitzgerald starb 1940 im Alter von nur 44 Jahren an den Folgen zweier Herzinfarkte, die sicher auch seinem Alkoholismus geschuldet waren.


KAPITEL 8

Ich konnte die ganze Nacht lang nicht schlafen; ein Nebelhorn stöhnte pausenlos über den Sund, und ich wälzte mich halbkrank zwischen der grotesken Wirklichkeit und wilden Angstträumen hin und her. Kurz vor Tagesanbruch hörte ich ein Taxi in Gatsbys Auffahrt hinauffahren, und sofort sprang ich aus dem Bett und zog mich an – es kam mir vor, als müsste ich ihm etwas sagen, ihn vor etwas warnen, und nach Tagesanbruch wäre es dafür zu spät.

Als ich über seinen Rasen ging, sah ich, dass die Vordertür noch offen stand und er in der Halle an einem Tisch lehnte, niedergedrückt von Mutlosigkeit oder Müdigkeit.

»Es ist nichts passiert«, sagte er matt. »Ich wartete, und etwa um vier Uhr kam sie ans Fenster und stand dort für eine Minute, dann löschte sie das Licht.«

Sein Haus war mir nie so riesig vorgekommen wie in jener Nacht, als wir die geräumigen Zimmer nach Zigaretten durchforsteten. Wir schoben Vorhänge, groß wie Pavillons, beiseite und tasteten sich endlos hinziehende dunkle Wände nach Lichtschaltern ab – einmal stolperte ich und landete krachend auf den Tasten eines schemenhaften Klaviers. Überall lag unbeschreiblich viel Staub, und die Zimmer rochen muffig, weil sie seit Tagen nicht gelüftet worden waren. Auf irgendeinem Tisch fand ich den Humidor mit zwei alten, ausgetrockneten Zigaretten darin. Wir stießen die bodentiefen Türen des Salons auf, setzten uns und rauchten hinaus in die Dunkelheit.

»Sie sollten weg von hier«, sagte ich. »Es ist ziemlich sicher, dass man Ihren Wagen ausfindig machen wird.«

»Weg von hier, jetzt, alter Knabe?«

»Fahren Sie für eine Woche nach Atlantic City oder rauf nach Montreal.«

Er zog es nicht einmal in Betracht. Er konnte Daisy auf keinen Fall hier zurücklassen, ehe er nicht wusste, was sie tun würde. Er klammerte sich an eine allerletzte Hoffnung, und ich brachte es nicht fertig, ihn daraus wachzurütteln.

In dieser Nacht erzählte er mir die sonderbare Geschichte seiner Jugend bei Dan Cody – erzählte sie mir, weil ›Jay Gatsby‹ an Toms harter Bosheit wie Glas zerborsten, und der lang gehegte fantastische Traum damit ausgeträumt war. Ich glaube, er hätte jetzt alles auf sich genommen, rückhaltlos, aber er wollte über Daisy sprechen.

Sie war das erste »feine« Mädchen, das er kennengelernt hatte. Bei verschiedenen Anlässen war er bereits mit ihresgleichen in Kontakt gekommen, aber immer trennte ihn ein unsichtbarer Stacheldraht. Er fand sie auf erregende Weise anziehend. Er besuchte sie in ihrem Haus, zunächst mit anderen Offizieren aus Camp Taylor, später dann alleine. Es überwältigte ihn – nie zuvor war er in einem derart prächtigen Haus gewesen. Aber was dem Haus eine Aura atemloser Spannung gab, war einzig, dass Daisy dort lebte – und für sie war das alles so alltäglich wie für ihn sein Zelt draußen im Lager. Ein geheimnisvoller Hauch ging davon aus, eine Ahnung von kühlen, prächtigen Schlafzimmern im oberen Stock, erfrischender als andere Schlafzimmer, von ausgelassenem, heiterem Treiben auf den Fluren und von Romanzen, die nicht muffig oder in Lavendel erstickt waren, sondern frisch und luftig, nach den neuesten glänzenden Autos duftend; und nach Bällen, deren herab gefallener Blütenschmuck noch nicht einmal zu welken begann. Es erregte ihn auch, dass Daisy bereits von vielen Männern begehrt worden war – in seinen Augen steigerte das ihren Wert. Er spürte deren Gegenwart überall ums Haus, eine Präsenz, die die Luft mit den Schatten und dem Echo noch immer vibrierender Leidenschaften erfüllte.

Aber ihm war auch klar, dass er nur durch einen kolossalen Zufall in Daisys Haus gekommen war. Wie glorreich seine Zukunft als Jay Gatsby auch sein mochte, jetzt war er nur ein mittelloser junger Mann ohne Vergangenheit, und jeden Moment konnte ihm der imaginäre Schutz seiner Uniform von den Schultern rutschen. Also nutzte er die Zeit, so gut es ging. Er nahm, was er kriegen konnte, heißhungrig und skrupellos – und irgendwann in einer stillen Oktobernacht nahm er sich auch Daisy, nahm sie, gerade weil er eigentlich nicht einmal das Recht hatte, ihre Hand zu berühren.

Er hätte sich selbst dafür anklagen können, denn zweifellos hatte er sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen verführt. Nicht dass er seine phantasierten Millionen ins Spiel gebracht hätte, aber er hatte Daisy vorsätzlich ein Gefühl der Sicherheit gegeben; er hatte sie glauben lassen, dass er so ungefähr der gleichen gesellschaftlichen Schicht entstamme wie sie selbst – dass er voll und ganz in der Lage sei, für sie zu sorgen. In Wirklichkeit hatte er nicht die geringsten Mittel dazu – keine wohlhabende Familie stand hinter ihm, und ganz nach Willkür einer übergeordneten Macht konnte er jederzeit in jeden Winkel der Welt geweht werden.

Aber er klagte sich nicht an, und nichts kam so, wie er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht hätte er sich nur nehmen sollen, was er kriegen konnte, und dann weiterziehen – doch er merkte nun, dass er sich der Suche nach einem Gral verschrieben hatte. Dass Daisy eine außergewöhnliche Frau war, wusste er, aber er wusste noch nicht, wie ganz außergewöhnlich so ein »feines« Mädchen tatsächlich sein konnte. Sie verschwand in ihrem reichen Haus, in ihr reiches, üppiges Leben und ließ Gatsby hinter sich – mit nichts. Er aber fühlte sich wie verheiratet mit ihr, das war es.

Als sie sich zwei Tage später wieder trafen, war Gatsby der Atemlose, der sich irgendwie betrogen fühlte. Daisys Veranda erstrahlte im Luxus gekauften Sternenlichts; das Weidengeflecht der Sitzbank knarzte vornehm, als sie sich zu ihm wandte und er ihren neugierigen, reizenden Mund küsste. Sie hatte sich erkältet, so dass ihre Stimme vibrierender und betörender klang denn je, und Gatsby war überwältigt von der Jugend und dem Geheimnis, die der Reichtum umfängt und bewahrt, von der Frische der vielen Kleider und von Daisy, silberstrahlend, behütet und erhaben über die hitzigen Anstrengungen der armen Schicht.

»Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie überrascht ich war, als ich spürte, dass ich sie liebte, alter Knabe. Eine Zeit lang hoffte ich sogar, sie würde mich über Bord werfen, aber das tat sie nicht, weil sie sich auch in mich verliebt hatte. Sie dachte, ich kenne mich mit einer Menge Sachen aus, weil ich andere Dinge wusste, als sie selbst … Tja, da stand ich nun, meilenweit von meinen Plänen entfernt, mit jeder Minute heftiger verliebt, und mit einem Mal war mir alles andere gleichgültig. Was für einen Sinn hätte es, großartige Dinge zu unternehmen, wenn es doch viel erstrebenswerter wäre, sie Teil meiner Pläne werden zu lassen?«

Am letzten Nachmittag, ehe er nach Übersee musste, saß er mit Daisy in seinen Armen lange Zeit schweigend da. Es war ein kühler Herbsttag, Feuer brannte im Zimmer und ihre Wangen glühten rot. Dann und wann bewegte sie sich und er änderte sanft die Position seines Armes, und einmal küsste er ihr dunkles glänzendes Haar. Der Nachmittag hatte beide eine Zeit lang ruhig werden lassen, als wollte er ihnen eine bleibende Erinnerung schenken für die lange Trennung, die am folgenden Tag drohte. Im Monat ihrer Liebe waren sie sich nie näher gewesen als jetzt, hatten sich nie tiefer verbunden gefühlt, als sie mit stummen Lippen die Schulter seines Jacketts berührte und er über ihre Fingerkuppen strich, so sanft, als schliefe sie.

Im Krieg bewährte er sich großartig. Als Hauptmann kam er an die Front, und nach der Schlacht in den Argonnen beförderte man ihn zum Major und er erhielt das Kommando über die Maschinengewehrabteilung der Division. Nach dem Waffenstillstand bemühte er sich fieberhaft um seine Heimkehr, aber irgendeine Komplikation oder ein Missverständnis brachte ihn stattdessen nach Oxford. Er machte sich jetzt Sorgen – denn aus Daisys Briefen war eine gewisse nervöse Verzweiflung zu lesen. Sie verstand nicht, warum er nicht kommen konnte. Sie fühlte den Druck der Konventionen, sie wollte ihn sehen, wollte seine Gegenwart spüren und sich vergewissern, dass sie bestimmt das Richtige tat.

Denn Daisy war jung, ihre künstliche Welt duftete nach Orchideen, nach angenehmen, heiterem Luxus und nach Orchestern, die den Rhythmus des Jahres bestimmten und die Sehnsüchte und kleinen Frivolitäten des Lebens in immer neue Melodien kleideten. Nächtelang sangen die Saxofone den wehmütigen Beale Street Blues, während hunderte Paare goldener und silberner Tanzschuhe über den schimmernden Boden glitten. Zur grauen Teestunde gab es immer auch Räume, in denen unablässig dieses düstere, süße Fieber pulsierte, und frische Gesichter schwebten mal hierhin, mal dorthin – wie von traurigen Hornklängen übers Parkett geblasene Rosenblüten.

In der Zweideutigkeit dieser Welt bewegte Daisy sich allmählich wieder im Rhythmus der Jahreszeiten; mit einem Mal hatte sie wieder jeden Tag ein halbes Dutzend Rendezvous mit einem halben Dutzend Männer; bei Tagesanbruch dämmerte sie in den Schlaf, und neben ihrem Bett verstreuten sich auf dem Boden Perlen und der Chiffon eines Abendkleids zwischen dahinwelkenden Orchideen. Und die ganze Zeit über schrie etwas in ihr nach einer Entscheidung. Sie wollte, dass ihr Leben Gestalt annahm, jetzt sofort – und die Entscheidung musste durch irgendeine unwiderstehliche Macht – sei es die Liebe, das Geld, oder schierer Pragmatismus – herbeigeführt werden.

Eine solche Macht nahm in der Mitte des Frühlings Gestalt an, als Tom Buchanan auftauchte. Seine Person und Stellung brachten eine bodenständige Wucht mit sich, und Daisy fühlte sich umschmeichelt. Zweifellos spürte sie ein gewisses Ringen gepaart mit einer gewissen Erleichterung. Der Brief erreichte Gatsby, als er noch in Oxford war.

*

Der Morgen dämmerte über Long Island und wir gingen umher, um die restlichen Fenster im Erdgeschoss zu öffnen, füllten das Haus mit zunächst grauem, dann ins Goldene wechselndem Licht. Der Schatten eines Baumes fiel scharf über den Tau, und in den blauen Blättern erhoben geistergleiche Vögel ihren Gesang. Ein leiser, angenehmer Lufthauch, kaum Wind zu nennen, regte sich und versprach einen kühlen, wunderbaren Tag.

»Ich glaube nicht, dass sie ihn je geliebt hat.« Gatsby drehte sich an einem Fenster um und sah mich herausfordernd an. »Denken Sie daran, alter Knabe, wie aufgewühlt sie den ganzen Nachmittag über war. Er sagte ihr all diese Dinge auf eine Weise, die ihr Angst machte – und die mich wie einen schäbigen kleinen Ganoven aussehen ließ. Und das Ergebnis war, dass sie kaum wusste, was sie sagte.«

Hoffnungslos setzte er sich.

»Natürlich – kann sein, dass sie ihn für einen kurzen Moment geliebt hat, als sie frisch verheiratet waren – aber auch zu dieser Zeit mich mehr liebte, verstehen Sie?«

Unvermittelt machte er eine sonderbare Bemerkung.

»Jedenfalls«, sagte er, »war das nur ganz persönlich.«

Was blieb da schon, als in seiner Vorstellung von der ganzen Sache eine Intensität zu vermuten, die grenzenlos war?

Er war aus Frankreich zurückgekehrt, als Tom und Daisy noch die Flitterwochen verbrachten und begab sich mit dem letzten Rest seines Solds auf eine trostlose, aber unwiderstehliche Reise nach Louisville. Er blieb eine Woche, ging durch Straßen, in denen ihre Schritte gemeinsam durch die Novembernacht gehallt waren, und suchte noch einmal die abgelegenen Orte auf, an die sie in ihrem weißen Wagen gefahren waren. So wie Daisys Haus ihm stets geheimnisvoller und heiterer erschienen war als andere Häuser, so war auch sein Bild der Stadt, obwohl Daisy aus ihr verschwunden war, von melancholischer Schönheit durchflutet.

Er reiste in dem Gefühl ab, er hätte Daisy dort finden können, wenn er nur gewissenhafter gesucht hätte – als ließe er sie dort zurück. In dem einfachen Abteil – er hatte jetzt keinen Penny mehr – war es heiß. Er ging hinaus auf die offene Plattform und setzte sich auf einen Klappstuhl; der Bahnhof entschwand, die Rückseiten fremder Gebäude glitten vorüber. Dann hinaus in die Frühlingsfelder, wo ein gelber Wagen ein kurzes Wettrennen lieferte, mit Leuten darin, die einst vielleicht auf irgendeiner Straße dem blassen Zauber von Daisys Gesicht begegnet waren.

Die Trasse beschrieb eine Kurve und führte nun weg von der Sonne, die sich im Niedersinken wie segnend über die schwindende Stadt breitete, dort wo Daisy einst geatmet hatte. Hoffnungslos streckte er die Hand aus, wie um wenigstens einen Lufthauch einzufangen, wenigsten ein Bruchstück jenes Ortes zu retten, den sie für ihn so zauberhaft gemacht hatte. Doch für seine verschwommenen Augen wischte nun alles zu schnell vorüber, und er wusste, dass er diese Seite der Stadt, die frischeste und beste, für immer verloren hatte.

Es war neun Uhr, als wir mit dem Frühstück fertig waren und auf die Veranda hinaustraten. Über Nacht hatte das Wetter abrupt umgeschlagen, und ein herbstlicher Hauch lag in der Luft. Der Gärtner, der einzige von Gatsbys ehemaligen Angestellten, tauchte am Fuß der Treppe auf.

»Ich will heute den Pool trockenlegen, Mr. Gatsby. Recht bald wird das Laub fallen, und dann gibt’s immer Probleme mit den Rohrleitungen.«

»Machen Sie’s heute noch nicht«, antwortete Gatsby. Er wandte sich entschuldigend an mich. »Wissen Sie, alter Knabe, dass ich diesen Pool den ganzen Sommer lang nie benutzt habe?«

Ich schaute auf meine Uhr und stand auf.

»Mein Zug geht in zwölf Minuten.«

Ich wollte nicht in die Stadt. Ich taugte heute zu keiner vernünftigen Arbeit, aber das alleine war es nicht – ich wollte Gatsby nicht allein lassen. Ich verpasste den Zug und auch den nächsten, ehe ich mich von dannen machte.

»Ich rufe Sie an«, sagte ich schließlich.

»Tun Sie das, alter Knabe.«

»Gegen Mittag melde ich mich.«

Wir gingen langsam die Treppe hinunter.

»Ich glaube, Daisy wird auch anrufen.« Er betrachtete mich besorgt, als erhoffe er sich von mir eine Bestätigung.

»Das denke ich auch, ja.«

»Also, bis später.«

Wir gaben uns die Hand, und ich ging davon. Kurz bevor ich die Hecke erreicht hatte, fiel mir etwas ein, und ich drehte mich um.

»Das ist ein elendes Pack«, rief ich über den Rasen. »Sie sind mehr wert als die ganze verdammte Bande zusammen.«

Ich bin heute noch froh, das gesagt zu haben. Es ist das einzige Kompliment, das ich ihm je gemacht habe, weil mir im Grunde alles an ihm von vorn bis hinten missfiel. Zuerst nickte er höflich, dann kam jenes charismatische, verständige Lächeln zum Vorschein, so als wären wir in diesem Punkt seit jeher ganz und gar einer Meinung. Sein rosa Prachtfetzen von einem Anzug erschien als heller Farbfleck vor den weißen Stufen, und ich erinnerte mich an den Abend vor drei Monaten, als ich zum ersten Mal sein ehrwürdiges Anwesen betreten hatte. Auf dem Rasen und in der Einfahrt hatten sich die Gesichter all derer gedrängt, die über seine Zwielichtigkeit spekulierten – er aber war auf genau jenen Stufen gestanden und hatte seinen unvergänglichen Traum verborgen gehalten, als er ihnen zum Abschied zuwinkte.

Ich dankte ihm für seine Gastfreundschaft. Dafür hatten wir alle ihm stets gedankt – ich und die anderen.

»Wiedersehn«, rief ich. »Danke fürs Frühstück, Gatsby.«

In der Stadt quälte ich mich eine Weile durch eine nicht enden wollende Liste von Aktienkursen, dann schlief ich auf meinem Drehstuhl ein. Kurz vor Mittag weckte mich das Telefon, und hochschreckend, fühlte ich, wie sich Schweiß auf meiner Stirn ausbreitete. Es war Jordan Baker; sie rief mich oft um diese Zeit an, weil ihr unberechenbar Tagesablauf zwischen Hotels, Clubs und Privathäusern es kaum zu einer anderen Zeit zuließ. Normalerweise klang ihre Stimme so frisch und kühl durch die Leitung, als wäre ein Rasenstück eines kühlen Küstengolfplatzes durch das Bürofenster zu mir herein gesegelt, aber an diesem Morgen klang sie hart und trocken.

»Ich bin bei Daisy ausgezogen«, sagte sie. »Jetzt bin ich in Hempstead, und am Nachmittag fahre ich runter nach Southampton.«

Wahrscheinlich war es rücksichtsvoll gewesen, bei Daisy auszuziehen, aber es ärgerte mich dennoch, und was sie dann sagte, ließ mich starr werden.

»Du warst gestern Abend nicht besonders nett zu mir.«

»Hätte es denn etwas geändert?«

Kurzes Schweigen. Dann:

»Wie dem auch sei – ich möchte dich sehen.«

»Ich möchte dich auch sehen.«

»Wie wär’s, wenn ich nicht nach Southampton fahre und stattdessen heute Nachmittag in die Stadt käme?«

»Nein – heut’ Nachmittag besser nicht.«

»Wie du willst.«

»Es geht heute Nachmittag nicht. Es gibt da …«

Eine Weile redeten wir so hin und her, und plötzlich hörten wir auf zu reden. Ich weiß nicht, wer von uns beiden mit einem scharfen Klicken den Hörer auflegte, aber ich weiß, es machte mir nichts aus. An jenem Tag konnte ich einfach nicht bei einer Tasse Tee mit ihr plaudern, selbst wenn das bedeutete, dass ich in meinem ganzen Leben nie wieder mit ihr plaudern würde.

Ein paar Minuten später rief ich Gatsby an, doch es war besetzt. Ich versuchte es viermal; schließlich meldete sich verärgert die Telefonzentrale und teilte mir mit, die Leitung müsse für ein Ferngespräch mit Detroit frei gehalten werden. Ich nahm meinen Fahrplan heraus und zog einen kleinen Kreis um den Drei-Uhr-fünfzig-Zug. Dann lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und versuchte nachzudenken. Es war gerade zwölf Uhr.

Als mein Zug an jenem Morgen an den Aschehügeln vorbeifuhr, saß ich absichtlich auf der anderen Seite des Abteils. Denn ich glaube, dass sich dort den ganzen Tag über eine Menge Neugieriger herumtrieb, mit kleinen Jungs, die im Staub nach dunklen Flecken suchten und daneben irgendein redseliger Mensch, der wieder und wieder erzählte, was passiert war, bis es schließlich ihm selbst immer weniger real erschien, und er es nicht nochmal erzählen konnte, und Myrtle Wilsons tragisches Ende vergessen war. – Ich gehe jetzt ein kleines Stück zurück und erzähle, was in der Werkstatt geschah, nachdem wir sie am Abend zuvor verlassen hatten.

Zunächst war es schwierig, Catherine, die Schwester, ausfindig zu machen. Sie hatte anscheinend an diesem Abend ihren Vorsatz keinen Alkohol mehr zu trinken fallen gelassen, denn als sie ankam, war sie sturzbetrunken und unfähig zu begreifen, dass der Krankenwagen bereits auf dem Weg nach Flushing war. Als man es ihr endlich klargemacht hatte, fiel sie auf der Stelle in Ohnmacht, als wäre das der schlimme Teil der Geschichte. Irgendjemand setzte sie aus Freundlichkeit oder Neugier in sein Auto und fuhr sie zur Totenwache beim Leichnam ihrer Schwester.

Bis weit nach Mitternacht wogte eine wechselnde Menschenmasse gegen die Stirnseite der Werkstatt, während George Wilson sich drinnen auf der Couch vor- und zurück wälzte. Eine Zeit lang stand die Tür zum Büro offen, und jeder, der die Werkstatt betrat, warf unweigerlich einen Blick hinein. Schließlich sagte jemand, das sei eine Schande, und schloss die Tür. Michaelis und ein paar andere Männer waren bei ihm; zuerst vier oder fünf, später zwei oder drei. Und nach einer Weile musste Michaelis den letzten Verbliebenen bitten, noch fünfzehn Minuten dazubleiben, während er zu sich rüber ging und eine Kanne Kaffee kochte. Danach blieb er bis zum Morgengrauen mit Wilson alleine.

Gegen drei Uhr veränderte sich Wilsons unverständliches Gemurmel – er wurde ruhiger und begann, über den gelben Wagen zu reden. Er verkündete, dass er schon herausfinden werde, wem der Wagen gehöre, und dann platzte es aus ihm heraus, dass seine Frau ein paar Monate zuvor mit verwüstetem Gesicht und geschwollener Nase aus der Stadt zurückgekehrt war.

Doch als er sich das sagen hörte, zuckte er zusammen und verfiel aufs Neue mit ächzender Stimme in sein klagendes »O mein Gott!«. Michaelis unternahm einen kläglichen Versuch, ihn abzulenken.

»Wie lange bist du nun schon verheiratet, George? Na komm schon, versuch mal, einen Augenblick still zu sitzen und rede mit mir. Wie lange bist du nun schon verheiratet?«

»Zwölf Jahre.«

»Je Kinder gehabt? Na komm schon, George, beruhig dich – ich hab dich was gefragt. Hast du jemals Kinder gehabt?«

Harte braune Käfer prallten pausenlos gegen die schwache Lampe, und wann immer Michaelis draußen ein Auto die Straße entlang rasen hörte, klang es für ihn genauso, wie der Wagen, der ein paar Stunden zuvor einfach weitergefahren war. Er mochte nicht in die Werkstatt gehen, weil dort auf der blutbefleckten Werkbank die Leiche gelegen hatte, und so ging er nervös im Büro auf und ab – noch vor Tagesanbruch kannte er jeden Gegenstand im Raum –, setzte sich von Zeit zu Zeit neben Wilson und versuchte, ihn weiter zu beruhigen.

»Gibt’s irgendeine Kirche, in die du ab und zu gehst, George? Auch wenn du vielleicht schon lange nicht da warst? Vielleicht könnte ich die Kirche anrufen und einen Priester bitten herzukommen, um mit dir zu reden, weißt du?«

»Bin in keiner.«

»Du solltest aber ’ne Kirche haben, George, für Zeiten wie diese. Du musst doch irgendwann mal zur Kirche gegangen sein. Hast du nicht in ’ner Kirche geheiratet? Hör zu, George, hör mir zu. Hast du nicht in einer Kirche geheiratet?«

»Das ist lange her.«

Die Anstrengung, die ihn das Antworten kostete, brachte ihn aus dem Rhythmus, in dem er schwankte – und er schwieg für einen Moment. Dann stand erneut jener halb wissende, halb irre Blick in seinen verblassten Augen.

»Schau in die Schublade da«, sagte er und zeigte auf den Schreibtisch.

»In welche?«

»Diese Schublade – dort drüben.«

Michaelis öffnete die Schublade, die ihm am nächsten war. Es lag nichts darin als eine kurze, teure Hundeleine aus Leder und geflochtenem Silber. Sie war offensichtlich neu.

»Die?«, fragte er und hielt sie hoch.

Wilson starrte vor sich hin und nickte.

»Die hab ich gestern Nachmittag gefunden. Sie wollte mir eine Geschichte dazu auftischen, aber ich wusste sofort, dass da was faul war.«

»Du meinst, deine Frau hat das Ding gekauft?«

»Es lag in Seidenpapier eingewickelt auf ihrer Kommode.«

Michaelis konnte nichts Seltsames daran finden, und er nannte Wilson ein Dutzend Gründe, weshalb seine Frau die Hundeleine gekauft haben könnte. Aber es war anzunehmen, dass Wilson einige dieser Erklärungen bereits von Myrtle gehört hatte, denn er verfiel wieder in sein »O mein Gott!«, diesmal flüsternd – und sein Tröster ließ es bleiben, weitere Gründe aufzuzählen.

»Dann hat er sie umgebracht«, sagte Wilson. Plötzlich klappte sein Mund nach unten.

»Wer?«

»Das krieg ich schon noch raus.«

»Du siehst Gespenster«, sagte sein Freund. »Das alles hat dir mächtig zugesetzt, und du weißt nicht, was du da redest. Am besten, du versuchst, bis zum Morgen ruhig hier zu sitzen.«

»Er hat sie getötet.«

»Es war ein Unfall, George.«

Wilson schüttelte den Kopf. Seine Augen verengten sich, und sein Mund öffnete sich mit einem kaum hörbaren, beängstigenden »Hm!«.

»Ich weiß schon«, sagte er bestimmt, »ich bin einer von diesen vertrauensseligen Typen, und ich wünsche keinem etwas Böses, aber wenn ich einmal was weiß, dann weiß ich’s. Es war der Mann in dem Auto. Sie rannte hinaus, um ihm etwas zu sagen, aber er ist einfach weitergefahren.«

Michaelis hatte das auch gesehen, aber er war nicht auf den Gedanken gekommen, dass es irgendetwas Bestimmtes bedeuten könnte. Er glaubte, Mrs. Wilson sei einfach vor ihrem Mann weggerannt und habe nicht etwa einen bestimmten Wagen anhalten wollen.

»Wieso sollte sie das tun?«

»Sie hat’s faustdick hinter den Ohren«, sagte Wilson, als beantworte das die Frage. »Ah-h-h …«

Er schwankte nun wieder vor und zurück, während Michaelis da stand und die Leine in der Hand drehte.

»Hast du vielleicht irgendeinen Freund, den ich anrufen könnte, George?«

Das war eine schwache Hoffnung – er war sich fast sicher, dass Wilson keinen Freund hatte: Selbst für seine Frau reichte es ja nicht. Michaelis war ein wenig erleichtert, als er kurz darauf eine Veränderung im Raum bemerkte, einen bläulichen Schimmer am Fenster, der die Morgendämmerung ankündigte. Gegen fünf Uhr war das Blau draußen hell genug, um das Licht auszuknipsen.

Wilsons glasiger Blick richtete sich nach draußen zu den Aschehügeln, wo kleine graue Wolken unwirkliche Formen bildeten und im leisen Morgenwind mal hierhin, mal dorthin zogen.

»Ich hab mit ihr gesprochen«, murmelte er, nachdem er lange geschwiegen hatte. »Hab ihr gesagt, mich kann sie vielleicht zum Narren halten, aber nicht Gott. Ich hab sie zum Fenster gezogen« – mühsam stand er auf, ging zum hinteren Fenster und presste sein Gesicht gegen die Scheibe – »und ihr gesagt: ›Gott weiß, was du getan hast, er weiß alles, was du getan hast. Mich kannst du vielleicht für dumm verkaufen, aber nicht Gott!‹«

Michaelis stand hinter ihm und sah erschrocken, dass er in die Augen von Doktor T. J. Eckleburg blickte, der soeben blass und riesenhaft aus der dahinschwindenden Nacht auftauchte.

»Gott sieht alles«, wiederholte Wilson.

»Das ist eine Reklame«, versicherte ihm Michaelis. Etwas brachte ihn dazu, sich vom Fenster abzuwenden und er schaute wieder ins Zimmer. Nur Wilson stand noch lange dort, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, hinaus in die Dämmerung nickend.

Gegen sechs Uhr war Michaelis total erschöpft und hörte dankbar draußen einen Wagen vorfahren. Es war einer der Männer, die am Abend zuvor auf Wilson aufgepasst und versprochen hatten, wiederzukommen; Michaelis machte sich daran, ein Frühstück für drei herzurichten, aber nur er und der andere Mann aßen etwas. Wilson war jetzt ruhiger, und Michaelis ging heim, um zu schlafen; als er vier Stunden später erwachte und zur Werkstatt zurückeilte, war Wilson weg.

Seine Spur – er war die ganze Zeit zu Fuß unterwegs – konnte man später bis Port Roosevelt und von dort bis Gad’s Hill nachvollziehen, wo er sich ein Sandwich kaufte, dass er stehen ließ, und sich eine Tasse Kaffee bestellte. Er muss müde gewesen sein und ging nur langsam, denn er erreichte Gad’s Hill erst gegen Mittag. Bis hierher war sein Weg leicht zu rekonstruieren – ein paar Jungs hatten einen Mann gesehen, der sich »irgendwie komisch benahm«, und einige Autofahrer berichteten, er habe sie vom Straßenrand aus eigenartig angestarrt. Dann verschwand er für drei Stunden von der Bildfläche. Die Polizei bedachte seine Äußerung gegenüber Michaelis, er werde »das schon noch rausfinden«, und vermutete, er sei in dieser Zeit sämtliche Werkstätten der Gegend abgelaufen und habe dort nach einem gelben Wagen geforscht. Andererseits gab kein einziger Werkstattbesitzer an, ihn gesehen zu haben, also kannte Wilson vielleicht einen einfacheren, sichereren Weg, um herauszufinden, was er wissen wollte. Gegen halb drei kam er in West Egg an, wo er jemanden nach dem Weg zu Gatsbys Haus fragte. Er kannte zu diesem Zeitpunkt also schon Gatsbys Namen.

Um zwei Uhr zog sich Gatsby sein Schwimmzeug an und gab dem Butler die Anweisung, ihm unten am Pool Bescheid zu sagen, falls irgendjemand anrufen sollte. Er ging zur Garage und holte die Luftmatratze heraus, mit der sich seine Gäste den Sommer über vergnügt hatten, und der Chauffeur half ihm, sie aufzupumpen. Dann ordnete er an, der offene Wagen dürfe auf keinen Fall ins Freie gefahren werden – was seltsam war, denn der vordere rechte Kotflügel brauchte eine Reparatur.

Gatsby schulterte die Matratze und ging Richtung Pool. Einmal blieb er stehen und rückte sie ein wenig zurecht, und der Chauffeur fragte ihn, ob er Hilfe brauche, aber er schüttelte den Kopf und verschwand im nächsten Moment zwischen den sich gelb färbenden Bäumen.

Kein Telefonanruf kam, aber der Butler ließ seinen Mittagsschlaf aus und wartete bis vier Uhr – viel länger als es jemanden gab, dem er hätte Bescheid sagen können. Ich vermute, dass Gatsby nun nicht mehr mit dem Anruf rechnete, und vielleicht hat er sich nicht weiter Gedanken darum gemacht. Wenn das richtig ist, muss er gespürt haben, dass die alte, warme Welt vergangen war und er einen hohen Preis dafür zahlen musste, allzu lange an einem einzigen Traum festzuhalten. Er muss nach oben durch ein beängstigendes Blätterdach in einen unfreundlichen Himmel geschaut haben, es muss ihn gefröstelt haben, als er erkannte, welch groteskes Ding eine Rose sein kann und wie brutal das Sonnenlicht auf den gerade frisch gesäten Rasen fiel. Eine neue Welt, zwar vorhanden, aber doch nicht real, in der bedauernswerte Gespenster, Träume hauchend wie Luft, ganz und gar sinnlos umhertrieben … so wie jene aschfahle, schemenhafte Gestalt, die sich zwischen den formlosen Bäumen auf ihn zu bewegte.

Der Chauffeur – einer von Wolfsheims Leuten – hörte die Schüsse; später konnte er nur sagen, er habe sich nichts dabei gedacht. Ich fuhr vom Bahnhof direkt zu Gatsbys Haus, und erst als ich höchst besorgt die vordere Treppe hinaufrannte, zeigte sich überhaupt jemand alarmiert. Doch zu diesem Zeitpunkt wussten sie es schon, da bin ich mir sicher. Kaum ein Wort fiel, als wir zu viert, der Chauffeur, der Butler, der Gärtner und ich, runter zum Pool stürmten.

Eine schwache, kaum sichtbare Bewegung lief über das Wasser, den frischen Zustrom markierend, der seinen Weg von einem Ende des Pools zum Abfluss am anderen Ende zog. Auf einem leisen Kräuseln, kaum Wellen zu nennen, trieb die beladene Matratze ziellos im Pool. Ein leiser Windstoß, der kaum das Wasser anrührte, genügte, um den zufälligen Kurs der Matratze mit ihrer zufälligen Last zu verändern. Als sie gegen ein Bündel Blätter stieß, drehte sie sich langsam herum und zeichnete, wie der Schenkel eines Zirkels, eine dünne rote Kreisbahn ins Wasser.

Wir hatten bereits begonnen, Gatsby ins Haus zu bringen, als der Gärtner ein kleines Stück entfernt Wilsons Leiche im Gras liegen sah, und das Massaker war perfekt.