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Band 134

 

Das Cortico-Syndrom

 

Madeleine Puljic / Kai Hirdt

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Peking, 7. Juni 2051

2. Sternhaufen M 15, 7. Juni 2051

3. Peking, 7. Juni 2051

4. Chaysystem, 7. Juni 2051

5. Zwischen Mond und Erde, 8. Juni 2051

6. Chaysystem, 7. Juni 2051

7. Peking, 8. Juni 2051

8. Chaysystem, 7. Juni 2051

9. Straßburg, 8. Juni 2051

10. Chaysystem, 7. Juni 2051

11. Terrania, 9. Juni 2051

12. Chaysystem, 7. Juni 2051

13. Straßburg, 9. Juni 2051

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Seither erlebt die Erde einen enormen Aufschwung; auch im Weltall erringt Rhodan Erfolge.

Im Sommer 2051 leben die Bewohner der Erde in Frieden, alle Gefahren scheinen bewältigt. Die Menschheit kann weiter an ihrer Einigung arbeiten. Dann tauchen fremde Raumschiffe auf – es sind die Sitarakh. Mit überlegener Technik reißen sie die Macht an sich.

Perry Rhodan entkommt mit seinen Mitstreitern ins All, wo er nach Hilfe sucht. Immerhin versprechen die mächtigen Liduuri ihre Unterstützung.

Auf der Erde stellen sich Julian Tifflor und einige Mutanten den Besatzern entgegen. Gleichzeitig sehen sie sich mit einem weiteren Gegner konfrontiert – eine unheimliche Krankheit befällt die Menschheit. Es ist DAS CORTICO-SYNDROM ...

1.

Peking, 7. Juni 2051

 

Wie kann ein Mensch nur so kalt sein? Julian Tifflor hatte den Unbekannten nur einen kurzen Augenblick lang berührt, doch es hatte sich angefühlt, als hätte er einen Eisblock angefasst. War dieser Tai Ho Shan denn tatsächlich ein Mensch? Oder war er etwas anderes – etwas, was die Sitarakh auf die Erde gebracht hatten?

Ein dumpfes Dröhnen ertönte in Julians Rücken. Er fuhr herum. Das Geräusch schwoll rasch zu einem anhaltenden Heulen an, es drang von verschiedenen Stellen des grauen Gebäudekomplexes herüber. Bei den Angehörigen, die sich zu Tausenden vor der Absperrung zur Baustelle versammelt hatten, kam Unruhe auf, überall erklangen verstörte Rufe. Die Schreie wurden lauter, als die oktaederförmigen Roboter der Invasoren ihre Wachposten aufgaben und drohend auf die Menschenmenge zuschwebten. Die Plasmatentakel am oberen Pyramidensegment der Maschinen peitschten hin und her. Immer weiter drängten sie die protestierende Menge damit zurück.

Julian brauchte keine Mutantengabe, um zu erkennen, dass die Situation auf einen handfesten Konflikt zusteuerte.

Das Gellen der Alarmsirenen nahm kein Ende. Weitere Roboter strömten aus der Anlage der Sitarakh. Aus den Energieringen unterhalb ihrer Pyramidenspitzen drangen rote Lichtstrahlen, die über die Gesichter der Anwesenden tasteten.

Die Roboter scannten die Umgebung.

Julian Tifflor ahnte, was oder wen sie suchten: den jungen Chinesen, der auf bisher unbekannte Weise direkt hinter Julians Einsatztrupp materialisiert war. Der behauptete, aus der Sitarakh-Einrichtung entkommen zu sein. Wenn er die Wahrheit sagte, besaß er Informationen, die von unschätzbarem Wert sein mochten. Wenn er dagegen von den Sitarakh geschickt worden war ...

Julian blieb keine Zeit für großartige Überlegungen. Er packte Tai Ho Shan am Arm. »Sehen wir zu, dass wir von hier verschwinden!«, forderte Julian. Sofort spürte er erneut die physische Kälte, die der Fremde ausstrahlte.

Der junge Chinese machte Anstalten, sich loszureißen. »Warten Sie. Wohin ...«

»Weg von hier«, antwortete Sue Mirafiore und griff nach dem anderen Arm des Manns. »Reicht das fürs Erste?«

Tai Ho Shan reagierte verwirrt. Er sah erst sie, dann ihre Hand auf seinem Arm an. So wie Julian Sue kannte, stabilisierte sie gerade den Gesundheitszustand des Chinesen, damit der Kerl nicht umkippte.

Die Roboter rückten näher. Julian wurde es zu brenzlig. »Los jetzt!«, drängte er.

Gemeinsam traten sie den Rückzug an. Unterstützt von Betty Toufrys Tarnfähigkeit, mischten sie sich unter die Menge, zwängten sich zwischen all den Menschen hindurch, die versuchten, vor den Sitarakhrobotern zurückzuweichen.

Eines der Beiboote der Besatzer flog über sie hinweg. Unter anderen Umständen hätten diese blumentopfförmigen Sitarakhfahrzeuge plump, beinahe lächerlich gewirkt. Allerdings nicht, wenn sie kaum zwanzig Meter über den Köpfen vorbeischossen. Die Menge brüllte auf, manche warfen sich zu Boden.

Andere hatten genug.

Julian verstand den Schrei nicht, der irgendwo links von ihm ertönte, doch was danach kam, erforderte keine Chinesischkenntnisse. Ein Stein flog durch die Luft und knallte gegen die Panzerung eines Roboters. Der zweite Energiering, der zwischen den beiden Pyramidensegmenten lag, leuchtete auf. Aber da hatten sich bereits weitere Menschen dem Ruf angeschlossen. Sie bückten sich ebenfalls nach Schutt und Steinen, davon gab es am Rand der Baustelle schließlich genug.

Wenn Julian eins von der Vergeltungsaktion in Sankt Petersburg gelernt hatte, dann das: Die Sitarakh begnügten sich nicht mit Warnungen. Nicht wenn sie angegriffen wurden. Russland hatte ein Raumschiff der Besatzer mit atomaren Sprengwaffen attackiert. Das Ergebnis war eine verwüstete Millionenstadt. Das Schlachtschiff der Sitarakh hingegen hatte keinen Kratzer davongetragen.

»Lauft!«, rief Julian. Zu seinen Leuten, aber auch an die Menge rundum gerichtet.

Zu spät. Aus dem Augenwinkel sah Julian gleißend rotes Licht. Er fuhr herum. Eine ganze Gruppe zu seiner Linken zerfiel zu glühendem Staub. Schlagartig eskalierte die Situation. Die Menschen schoben, stießen, drängten. Alles, nur um wegzukommen von den tödlichen Gegnern.

»Julian!« Das war Rabeya Khatun.

Sie war hinter ihm, streckte ihm den Arm entgegen. Doch sie und Betty wurden im Getümmel immer weiter abgedrängt. Anne Sloane und Cheng Chen Lu waren völlig aus seinem Blickfeld verschwunden. Er verlor seine Gruppe.

»Wo sind die anderen?«, rief er Rabeya zu.

Die junge Bangladescherin deutete nach rechts. Julian konnte nichts erkennen. Zu viele Menschen, zu viel Panik.

»Die U-Bahn!«, fiel ihm ein. Sie waren zwar mit einem Taxi zur Baustelle der Sitarakh-Anlage gekommen, aber unterwegs hatte er das blaue Signalschild der Pekinger Untergrundbahn gesehen, nicht weit von hier. »Wir treffen uns dort!«

»Was?«, schrie Rabeya zurück.

»U-Bahn!«, brüllte er aus Leibeskräften.

Rabeya stolperte zur Seite. Betty riss sie gerade noch rechtzeitig hoch, ehe die Sensointerpretin niedergetrampelt werden konnte. Julian mochte sich gar nicht ausmalen, was Rabeya in dieser brodelnden Menschenmenge erleiden musste. Wenn Rabeya Khatun persönliche Gegenstände berührte, durchlebte sie die emotionalen Höhe- und Tiefpunkte der Besitzer, als wären es ihre eigenen. Nun wurde sie hin- und hergestoßen, kam in Kontakt mit Dutzenden, sogar Hunderten Menschen. Und bei der akuten Panik rundum übertrug jeder davon vielleicht seine bittersten Erinnerungen in Rabeyas Verstand.

Julian konnte ihr im Moment nicht helfen. Er hoffte, dass die beiden ihn gehört hatten, sonst würde es schwierig, sie wiederzufinden. Wenigstens das war beim Rest ihres Teams unproblematisch: Lu trug ein anonymisiertes Smartarmband, ebenso wie er. Im Notfall würde er sie und Anne hierüber erreichen können – sofern es den beiden gelang, zusammenzubleiben.

Das Gedränge wurde zusehends schlimmer. Julian kämpfte sich voran, wurde unentwegt angerempelt und gestoßen. Er hatte kaum Platz genug, um Atem zu schöpfen, geschweige denn, um sich zügig vorwärtzubewegen. Aber trotzdem ging es irgendwie weiter. Es musste.

Schreie hinter ihm. Erneut rotes Licht und Hitze. Julian sah sich um, doch er konnte nicht ausmachen, wo der Treffer erfolgt war. Die Roboter waren überall. Immer noch scannten sie erfolglos die Menge. Er hatte keine Ahnung, ob sie Menschen voneinander unterscheiden konnten oder nach welchen Kriterien sie das taten. Er wusste nur, dass er nicht in ihre Fänge geraten wollte.

Unerbittlich drängte sich Julian durch das Getümmel. Weiter. Vorwärts. Er zog Tai Ho Shan mit sich, an dessen anderen Arm sich Sue klammerte. Nicht umdrehen, nicht stehen bleiben. Nicht loslassen. Nur weiter.

 

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie den Wall erklommen, der zur Straße führte. Hier oben zerstreute sich die Menge allmählich, sie konnten wieder freier atmen. Julian sah sich um.

Die Roboter waren hinter ihnen zurückgeblieben. Sie hatten mehrere Menschen aus dem Gewimmel gefischt. Mit ihren gelb leuchtenden Tentakeln hielten sie die Gefangenen in Schach, trieben sie zusammen. Wer nicht spurte, erhielt einen Hieb und fiel unter Zuckungen zu Boden, woraufhin die Roboter kehrtmachten und erneut den Flüchtenden folgten. Sie suchten immer noch.

Julians Verdacht, dass Tai Ho Shan das eigentliche Ziel der Sitarakh war, erhärtete sich. Zeit, ihre neue Bekanntschaft in die Mangel zu nehmen.

»So, mein Freund. Noch mal von vorn: Warum suchen die nach dir? Wer bist du? Und damit meine ich nicht deinen Namen.«

»Kann dir doch egal sein«, murrte der Chinese. »Hör zu, ich bin euch ja dankbar, dass ihr mir rausgeholfen habt. Aber ab jetzt komme ich allein klar. Also lasst mich in Ruhe.« Er riss sich los.

Sue seufzte hörbar auf. Offenbar hatte sie während der gesamten Zeit den Kreislauf des Fremden unterstützt. Nun, da der Körperkontakt unterbrochen war, würde der Effekt ihrer Heilfähigkeit rapide nachlassen. »Ich glaube nicht, dass er in der Verfassung für ein Verhör ist, Tiff«, meinte sie. Sie rieb sich müde die Stirn.

»Ach was, mir geht's gut«, widersprach Shan. Seine Zähne fingen an zu klappern und widerlegten sein lässiges Gehabe. Er steckte die Hände in die Jackentaschen und stampfte mit den Füßen auf. »Ein paar Minuten, dann bin ich wieder in Ordnung.«

Daran zweifelte Julian. Sue hatte recht. Auch wenn der Raureif in dem stachelig gegelten Haar des Fremden inzwischen geschmolzen war, war er noch immer deutlich unterkühlt. Und dies war nicht der geeignete Ort, um seine Befragung fortzusetzen. Bald würden die Roboter ihren Suchradius ausdehnen. Falls Shan tatsächlich aus der Einrichtung der Sitarakh entkommen und er derjenige war, nach dem die Roboter suchten, sollten sie so schnell wie möglich aus der Gegend verschwinden.

Julian aktivierte sein Armband. Die holografische Bedienoberfläche leuchtete auf.

Bei dem Anblick wich Shan erschrocken zurück. Er rempelte unwillentlich einen Flüchtenden an, der ihn unsanft zurück in Sues Richtung stieß. »Hey, was hast du vor?«, wollte Shan erfahren.

»Ich besorge uns einen Unterschlupf. Oder möchtest du lieber in ein Krankenhaus?«

»Nein, bloß nicht!«

Hätte mich auch gewundert, dachte Julian.

Shan zögerte, schien hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Julians Team loszuwerden, und dem Bedürfnis nach Erholung, das er in seinem Zustand zweifellos verspüren musste. Schließlich nickte er. »Unterschlupf klingt okay.«

Etwas stimmte mit diesem Kerl nicht. Was Shan auch sein mochte – ob Aufschneider, Flüchtling oder Überläufer –, er konnte sich als wertvoller Informant erweisen. Bis sie jedoch wussten, in welche Kategorie der Fremde fiel, würde Julian sich hüten, Hinweise über ihre Mission preiszugeben oder Spuren zu legen, die sich zu Free Earth zurückverfolgen ließen. Und das bedeutete, dass seine Kontakte vorerst tabu waren. Sie waren auf sich gestellt.

Willkommen zurück im Widerstand.

2.

Sternhaufen M 15, 7. Juni 2051

 

Belle McGraw saß auf dem Bett ihrer kleinen Kabine und starrte die Wand an. Acht Quadratmeter maß ihre Unterkunft, inklusive der Hygienezelle. Ein Witz gegen das, was ihr bei der ersten Reise mit der CREST zur Verfügung gestanden hatte. Aber das war lange her. Die CREST hieß mittlerweile LESLY POUNDER, und Belle gehörte nicht mehr zum wissenschaftlichen Team. Sie war nur noch Gast an Bord.

Oder, wenn man ehrlich war: ein Flüchtling.

Hals über Kopf war sie losgerannt, als die Sitarakh über Dortmund erschienen waren. Die POUNDER hatte einigen Hundert oder vielleicht tausend Menschen in der Nähe die Chance gegeben, die Erde zu verlassen, bevor die Invasoren den Planeten unter Kontrolle brachten. Belle war zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen.

Ihr Mann nicht. Rupert war in England geblieben, ging lieber in Oxford seinen Forschungen nach. Wie mochte es dort nun aussehen? Was taten die Sitarakh auf der Erde? Wie ging es Rupert?

Sie seufzte. Es war müßig. Ihr fehlten sämtliche relevanten Informationen. Sie erfuhr nichts von der Erde, und sie wusste nicht einmal, wohin ihre Flucht die LESLY POUNDER führte. Von der Zentralpositronik gab es keine Informationen, und das machte Belle rasend.

Nicht, dass sie es nicht verstanden hätte. Es war kaum mehr als zwei Tage her, dass das Raumschiff unerwartet all die Flüchtlinge hatte aufnehmen müssen. Die Logistik tat ihr Bestes, um alle mit dem Nötigsten zu versorgen. Immerhin hatte Belle neue Kleidung erhalten: eine sandfarbene Bordkombination, die sie als Wissenschaftlerin auswies. Zwar gehörte sie nicht mehr zur Terranischen Flotte, aber Zivilkleidung war an Bord der POUNDER naheliegenderweise nicht ausreichend vorrätig.

Die Uniformen hatte sie ganz sicher nicht vermisst. Sie waren unvorteilhaft geschnitten, und der Stoff war für ihren Geschmack zu steif. Aber sie wollte sich nicht beschweren, jedenfalls nicht, solange noch nicht mal die Namen aller Menschen an Bord erfasst waren. Luan Perparim tauchte in der vorläufigen Besatzungsliste auf, der Name Abha Prajapati hingegen war nirgendwo zu finden. Dabei war Belle in den chaotischen Minuten nach dem Auftauchen der Sitarakh gemeinsam mit der Exolinguistin und ihrem alten Freund an Bord gekommen.

Von Eric Leyden wiederum waren sie auf ihrer Flucht getrennt worden. Zumindest in dieser Hinsicht konnte die Liste sie beruhigen. Eric hatte es geschafft. Er war auf der CREST – nein, der LESLY POUNDER. Sie würde einige Zeit brauchen, um sich an den neuen Namen zu gewöhnen.

Etwas sagte ihr, dass Eric nicht in seiner Kabine hockte und die Wand anstarrte. Bestimmt hatte er es schon wieder geschafft, sich in die Belange der Schiffsführung einzumischen und alle Beteiligten wahnsinnig zu machen, nicht, ohne dabei die eine oder andere brillante Einsicht abzuliefern.

Unwillkürlich musste sie lächeln, als sie an ihre gemeinsame Zeit vor zwei Jahren zurückdachte. Es hatte nur wenige Monate gedauert, vielleicht ein halbes Jahr. Aber damals hatten sie die Spuren der Liduuri-Zivilisation durch die halbe Galaxis verfolgt – nein, darüber hinaus: fast bis nach Andromeda. Es war brandgefährlich gewesen, und eigentlich war es ein Wunder, dass sie damals alle mit dem Leben davongekommen waren. Aber es war die intensivste Zeit ihres Lebens gewesen.

Das Türsignal ertönte. Sie gab der Positronik das Kommando zum Öffnen.

Eric Leyden stand im Eingang. »Ah, gut«, sagte er. »Kommst du?«

Belle grinste. Eric machte einfach da weiter, wo er vor zwei Jahren aufgehört hatte, bevor sie sich verschiedenen Forschungsprojekten zugewandt hatten. Mit seltsamem Verhalten und unverständlichen Äußerungen.

»Guten Tag, Eric«, erwiderte sie. »Es freut mich sehr, dich zu sehen. Ich hoffe, du hattest bislang eine angenehme Reise. Hattest du interessante Erlebnisse? Irgendetwas, was du mit der Gruppe teilen möchtest? Vielleicht die Information, wohin ich mitkommen soll?«

Eric sah sie verständnislos an.

Sie wiegte amüsiert den Kopf. Seine klaren, blauen Augen unter dem blonden Strubbelhaar hatten ihre Wirkung auf sie noch nicht komplett verloren. Auch das hatte ihre gemeinsamen Reisen damals interessant gemacht.

Rupert, erinnerte sie sich. Rupert sitzt in Oxford und ist in Gefahr.

Eric signalisierte ihr mit einer ausladenden Geste, sie möge sich erheben. »Zu Luan, selbstredend. Wir haben es mit einem Liduuri-Problem zu tun. Wir brauchen ihre Sprachkenntnisse.«

Sofort spürte Belle ein Feuer in sich, das sie lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Das Gefühl, dass sie bei etwas Großem dabei sein würde. Mit etwas Glück würde es dieses Mal nicht lebensgefährlich.

Sie folgte Eric auf den Korridor. »Los, erzähl schon«, sagte sie. »Worüber bist du gestolpert? Was haben die Sitarakh mit den Liduuri zu tun?«

Eric ging mit strammem Schritt voran. »Nichts, wie kommst du auf so einen Quatsch?«

Ja, das war ein Aspekt der Zusammenarbeit mit Eric, den sie gern verdrängt hatte. Die Beleidigungen. Sie hielt ihn an der Schulter fest. »Stopp. Du willst etwas von mir. Also benimm dich gefälligst anständig, und erklär mir, worum es geht.«

Eric zögerte, zog den Mund schief. »Gleich, okay?«, fragte er. »Wenn wir bei Luan sind. Sonst muss ich alles zweimal sagen.«

Belle hob die Schultern. »Na gut. Meinetwegen.«

»Schade, dass Abha nicht hier ist.« Eric ging voraus in einen Lift, der sie zum nächsten Passagierdeck brachte. »Ich gebe es ungern zu, aber manchmal waren seine anthropologischen Kenntnisse ganz nützlich bei Liduuri-Fragen.«

»Ist er doch. Wir sind zusammen an Bord gegangen.«

Eric legte die Stirn in Falten. »Es ist keine Kabine auf ihn angemeldet. Wohnt er bei Luan?«

Belle lachte hell auf. »Die beiden haben sich vor fast einem Jahr getrennt!«

Der Lift öffnete sich. »Ja, das hat er mir damals lang und breit vorgeheult«, sagte Eric. »Aber in Extremsituationen tun manche Menschen unerklärliche Dinge. Kannst du hundertprozentig ausschließen, dass Luan einen Rückfall erleidet?«

Sie erreichten die Kabinentür. Eric berührte das Kontaktfeld.

Das Schott fuhr beiseite. Luan saß auf einem Stuhl an dem winzigen Tischchen in ihrer Kabine. Auf ihrem Bett lag Abha, die Hände hinter dem rasierten Kopf verschränkt, und blickte an die Decke.

 

Abha Prajapati fuhr hoch. Er starrte Eric an wie einen Geist. »Verdammt! Kannst du dich nicht anmelden?«

Eric drehte den Kopf zu Belle und zeigte den Anflug eines Grinsens. Hab ich's nicht gesagt?, stand in diesem Blick.

Luan Perparim sah es auch. »Von wegen!« Sie nahm ein Buch und warf es nach Eric. Ihre kurzen, dunkelblonden Locken wippten bei der Bewegung mit. »Wir haben uns nur unterhalten!«

Eric tauchte ab. »Ich habe doch gar nichts ...«

»Aber gedacht«, brummte Abha. Er stand auf. »Genau das wollte ich vermeiden.«

»Was?«, fragte Belle.

»Dass er weiß, dass ich an Bord bin.« Abha zeigte auf Eric. »Was meinst du, wie lange es dauert, bis er uns alle wieder in Lebensgefahr bringt?«

»Ein vollkommen ungerechtfertigter Vorwurf«, protestierte Eric. »Mein ganzes Anliegen ist, ruhig im Labor zu sitzen und einige liduuribezogene Thesen im Austausch mit meinen geschätzten Kollegen zu kontemplieren.«

Niemand antwortete.

»Nein, wirklich!«, rief Eric. »Es gibt ein Rätsel zu knacken, und ich brauche eure Hilfe!«

»Sag das noch mal.« Abha grinste.

»Was?«, fragte Eric.

»Den letzten Satz«, antwortete der Inder.

»Oh ja.« Luan trat zu Abha. Sie grinste nicht minder breit. »Ich möchte das bitte auch noch einmal hören.«

»Ich weiß nicht, was ...«

»Doch, doch.« Belle schlenderte in die Kabine und lehnte sich neben Abha und Luan an die Wand. »Dein Gedächtnis ist gut genug. Sag es bitte noch einmal. Wir konnten es beim ersten Mal nicht ganz glauben.«

Eric Leyden sah sie durchdringend an. Seine Kiefermuskeln arbeiteten. »In Ordnung«, rang er sich nach einer Weile ab. »Wir haben ein ziemlich komplexes Rätsel zu lösen, und ...« Er verdrehte die Augen. »Ich brauche eure Hilfe.«

»Geht doch!« Abha applaudierte. »Und jetzt erklär uns bitte, wobei.«

»Wir müssen die Weißen Welten kalibrieren, um den Hyperschwall zu restabilisieren, der den Rücksturz Achanturs in den Normalraum blockiert.«

Belle sah Abha an.

Abha blickte zu Luan.

Luan schaute zu Belle.

Alle drei wandten sich zu Eric. »Was?«, fragten sie synchron.

Erics Komarmband piepste. »Kommt mit! Wir haben eine Besprechung bei Rhodan. Wahrscheinlich erklärt er euch das Gleiche noch einmal.«

 

*

 

Major Cecilian Rainbow betrat den Konferenzraum und ließ ruhig den Blick über die bereits Versammelten schweifen: Perry Rhodan saß am Kopf des ovalen Tischs, Kommandant Conrad Deringhouse links, Thora rechts von ihm. Neben Rhodans Frau hatten die beiden weiteren Arkoniden Platz genommen, die nach der Flucht aus Dortmund Platz auf der LESLY POUNDER gefunden hatten: Theta, die entthronte Imperatrice, und Atlan, ihr Ex-Berater, Ex-Flottenkommandant und Ex-Liebhaber. Beide schauten stur geradeaus und versuchten, sich möglichst wenig anzusehen.

Atlans Anwesenheit konnte Rainbow nachvollziehen – zwar kam es immer wieder zu Spannungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen Rhodan und dem angeblich zehntausend Jahre alten Arkoniden, aber genauso oft hatte er sich schon als guter Berater erwiesen.

Was allerdings die Herrscherin ohne Thron in dieser Runde verloren hatte, darüber konnte er nur spekulieren. Und zu spekulieren lag ihm nicht.

»Willkommen, Major Rainbow.« Rhodan wies ihm einen Platz auf der linken Seite zu. »Dann sind wir ja bald komplett.«

Rainbow ging um den Tisch und betrachtete die Anwesenden auf dieser Seite. Neben Deringhouse saß zunächst noch Elif Akay, die Chefwissenschaftlerin der LESLY POUNDER. Böse Zungen behaupteten, sie sei hauptsächlich deshalb für den Posten ausgewählt worden, weil sie in jeder Hinsicht das Gegenteil ihres chaotischen Vorgängers Eric Leyden war: solide, verlässlich, mit vollem Verständnis für die Hierarchien an Bord und leider auch vollkommen uninspiriert.

Auf dem letzten schon besetzten Platz und damit genau gegenüber von Theta saß das irdische Pendant der abgesetzten Imperatrice: Maui John Ngata, der Administrator der Terranischen Union – zurzeit auf der Flucht, nachdem Feinde die Macht über seinen Herrschaftsbereich an sich gerissen hatten. Hier an Bord hatte er keinerlei Befehlsgewalt, was Perry Rhodan und Reginald Bull ihm Gerüchten zufolge überdeutlich mitgeteilt hatten.

Rainbow nahm neben ihm Platz und beobachtete aus dem Augenwinkel die Körpersprache des Administrators. Ngata war angespannt. Es nagte an dem Mann, dass nicht er, sondern Rhodan am Kopf dieses Tischs saß.

Die Tür öffnete sich, und Doktor Volker Manz trat herein, gefolgt von Reginald Bull. Dem Systemadmiral und somit Oberbefehlshaber der Terranischen Flotte ging es im Grunde nicht besser als Ngata: Hier an Bord der LESLY POUNDER war er all seiner Machtmittel beraubt. Er steckte den Verlust jedoch deutlich souveräner weg. Er setzte sich Rainbow gegenüber neben Theta und nickte freundlich in die Runde.

Manz, der Leitende Mediziner des Schiffs, nahm den Platz daneben. Wie stets strahlte der Arzt eine beruhigende Gelassenheit aus. In den gut zwei Jahren, die Rainbow bereits bei den Raumlandetruppen der POUNDER diente, hatte er den Mediziner nie anders erlebt – sah man von der Zeit im Gefangenenlager der P'Kong ab. Aber das war eine Extremsituation gewesen, und vor allem: Es war lange her.

Vier Plätze waren nun noch frei. Rainbow blickte auf sein Armband: Es war 12.04 Uhr. Die Besprechung hatte um zwölf beginnen sollen.

Auch Rhodan blickte auf die Uhr, dann zu den freien Plätzen. Missbilligung lag auf seinen Zügen.

Auf einmal hatte Rainbow eine sehr genaue Vorstellung davon, welche vier Teilnehmer noch erwartet wurden. Seine Mundwinkel zuckten. Dass Leyden sich auf die POUNDER gerettet hatte, hatte Rainbow schon gewusst. Von Belle McGraw, Abha Prajapati und Luan Perparim war ihm bislang nichts bekannt gewesen.

Um 12.05 Uhr fuhr das Schott auf, und die Chaotentruppe kam herein.

»... völlig unnötige Komplikation«, war das Erste, was die Wartenden hörten. Leyden trat ein, gefolgt von seinen drei Kollegen. Alle trugen die sandfarbenen Wissenschaftler-Uniformen.

»Eric hat uns zum falschen Besprechungsraum gebracht«, entschuldigte sich McGraw. »Er ging davon aus, dass wir uns da treffen, wo auch Ihre letzte Besprechung stattgefunden hat.«

»So ein unnötiges Abweichen von etablierten Strukturen kann im Ernstfall zu unnötigen Verzögerungen führen«, maulte Leyden. »So etwas gefährdet das Schiff! Wer trifft denn solche unsinnigen Entscheidungen?«

»Ich war das«, versetzte Rhodan. »Und wir sind mehr Teilnehmer als gestern, also brauchen wir einen größeren Raum. Das ist eigentlich ziemlich einfach.«

»Brauchen wir nicht, wenn wir die Leute raussetzen, die ohnehin nichts Sinnvolles beitragen«, konterte Leyden. Er nickte kurz zum Administrator und der Chefwissenschaftlerin.

Ngatas Gesicht verzerrte sich vor Zorn, und Elif Akays Augen schienen bereit, Blitze zu verschießen.

Rainbow war verblüfft von dem Tempo, in dem sich die Dinge entwickelten. Früher hatte Leyden stets länger als dreißig Sekunden gebraucht, bis ihn jemand in den schiffseigenen Erholungsbereich schleifen und am nächsten Baum aufhängen wollte. Offensichtlich hatte der Wissenschaftler dieses Talent in den vergangenen zwei Jahren vervollkommnet, während er auf der Erde am Sonnenchasma geforscht hatte.

»Bitte verzeihen Sie«, sagte Perparim trocken. »Eric hat vergessen, seine Pillen zu nehmen.«

Prajapati grinste breit.

Leyden fuhr zu der Exolinguistin herum und öffnete den Mund.

Aber Rhodan kam ihm zuvor: »Setzen Sie sich bitte, Doktor Leyden. Doktor Perparim, Doktor McGraw, Doktor Prajapati.«

Die vier Wissenschaftler nahmen die letzten freien Plätze ein. Leyden setzte sich Rhodan gegenüber ans Ende des Tischs.

»Für diejenigen, die unsere Neuankömmlinge nicht kennen«, sagte Rhodan, »Mister Leyden war vor zwei Jahren Chefwissenschaftler dieses Schiffs, bis er sich der Erforschung des Spalts im Kern unserer Heimatsonne gewidmet hat. Er und sein Team haben immer wieder erstaunliche Ergebnisse zutage gefördert. Umgekehrt ist, glaube ich, keine Vorstellung nötig, oder?« Die vier Wissenschaftler bestätigten weder noch verneinten sie. Also sprach Rhodan weiter. »Die meisten Anwesenden sind Ihnen ja bekannt. Atlan und Theta nehmen an allen Besprechungen teil, weil sie unser Hilfsgesuch gegenüber dem arkonidischen Imperium vorbringen werden. Administrator Ngata ist als Beobachter für die Terranische Union hier. Doktor Elif Akay kennen Sie möglicherweise auch noch nicht. Sie ist Mister Leydens Nachfolgerin als Chefwissenschaftler und leitet die Hyperphysikalische Abteilung an Bord.«

Die Genannten nickten den Wissenschaftlern jeweils kurz zu.

»Hat Mister Leyden Sie bereits über die Lage informiert?«, fragte Rhodan.

»Ja«, sagte der Hyperphysiker.

»Nein«, sagten die Astronomin, die Sprachwissenschaftlerin und der Anthropologe unisono.

Erneut musste Cel Rainbow schmunzeln. Erst nun wurde ihm bewusst, wie sehr er diese vier an Bord vermisst hatte. Schade nur, dass Leyden ohne Hermes unterwegs war. Ohne den gelb-braun getigerten Kater wirkte die Truppe nicht komplett.

Rhodan seufzte. »Dann wollen wir das mal nachholen. Von unserem unerwarteten Gast haben Sie erfahren?«

Wieder verneinten die drei Wissenschaftler.

»Avandrina di Cardelah hat uns aufgesucht und uns um Hilfe gebeten. Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu ihr?«

Belle McGraw machte sich zur Sprecherin der Gruppe, wie schon damals, wenn Leyden seine drolligen fünf Minuten hatte. »Vor zwei Jahren, bei der Konferenz auf Mauritius, von der Sie alle wissen. Nachdem die Anchet uns erst aus der Jupiterstation gerettet und dann die Konferenz verlassen hat, haben wir nie wieder etwas von ihr gehört.« Sie sah ihre Kollegen an. »Oder habt ihr?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Damals wollte sie uns vor einer drohenden Gefahr warnen«, erinnerte sich Rhodan, »konnte, wollte oder durfte aber nicht ins Detail gehen. Wir haben immer gedacht, sie hätte die Maahks gemeint. Aber möglicherweise wusste sie bereits von der geplanten Invasion der Sitarakh.«

»Das ergäbe Sinn«, ergänzte Leyden. »Die Liduuri haben uns genug Spezialausrüstung zur Sonnenerkundung hinterlassen. Sie haben also schon damals entsprechende Expeditionen unternommen. Wenn es den Spalt im Sonnenkern seinerzeit schon gegeben hat, wussten sie höchstwahrscheinlich davon.«

Akay legte die Fingerspitzen aneinander und sprach mit leichtem Amüsement: »Eric Leyden und die Liduuritechnik. Eric Leyden und das Sonnenchasma. Ist es nicht verblüffend, dass Ihre beiden Spezialforschungsgebiete ausgerechnet hier und jetzt, dreißigtausend Lichtjahre von der Erde entfernt, zusammenkommen und eine so tragende Bedeutung erhalten sollen? Ich möchte nur sicher ausschließen, dass das Wunschdenken ist. Di Cardelah hat sich damals so schwammig ausgedrückt, dass alles und jeder hätte gemeint sein können.«

Leyden antwortete ruhig und ein wenig gedankenverloren, als habe er die Spitze gar nicht bemerkt. »Sie vergessen, werte Kollegin, dass die Anchet uns damals genau zu dem Zeitpunkt gewarnt hat, als die ersten Sonnenstürme die Hypertechnik im Solsystem lahmlegten. Damit besteht ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen ihrer Warnung und dem Chasma, auch wenn man sicherlich ein bisschen Ahnung vom Thema braucht, um das zu erkennen.«

Akay wollte antworten, doch Leyden sprach einfach weiter. »Wie auch immer: Das ist heute ja gar nicht unser Thema. Wir wollen nicht über die Sonne sprechen, sondern über die Weißen Welten.«

Punkt für Leyden, dachte Rainbow. Er hat Akay eins übergebraten, und durch den Themenwechsel kann sie nicht mehr ausgleichen.

Allerdings hatte er sich möglicherweise einen anderen Gegner geschaffen. Rhodan sah den Wissenschaftler zornig an. »Doktor Leyden, ich schätze Ihre Expertise, sonst hätte ich Sie nicht zu dieser Besprechung hinzugezogen. Ich möchte Sie dennoch höflich daran erinnern, dass ich hier die Leitung habe.«

Leyden hob die Schultern. »Nur zu. Wenn Sie ein anderes Thema wichtiger finden, legen Sie los.«

Rhodan presste einen Moment die Lippen aufeinander. »In der Tat«, sagte er danach, »wollen wir über das sprechen, was Avandrina die Weißen Welten genannt hat. Ursprünglich handelte es sich um dreizehn Planeten im Kugelsternhaufen M 15, auf denen die Liduuri Auta Rek Redej entdeckt haben, einen weißlich-transparenten Hyperkristall. Sehr selten, extrem wirkungsstark. Ein phantastisches Material mit sehr ungewöhnlichen Eigenschaften.«

Rainbow lauschte gespannt. Das roch nach Abenteuer, nach unerwarteten Entdeckungen, aufregenden Einsätzen. Davon hatte es seit Ende der Maahkkrise vor zwei Jahren nicht mehr allzu viel gegeben. Die vergangenen Monate, seit er die Führung der Landetruppen von Major Halász übernommen hatte, war er kaum aus seinem Büro herausgekommen.