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Titelseite

Prolog

Ein bleicher Mond schwebte hoch über der Bucht von Sandy Hollow, als Diana neben Eric am Strand entlangspazierte. Der feuchte Sand unter ihren Füßen fühlte sich kalt an. Sie schauderte kurz, dann griff sie nach Erics Hand.

„Ich liebe den Strand bei Nacht“, murmelte Diana.

„Äh? Was hast du gesagt?“, fragte Eric. Er schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein.

„Ach, nicht so wichtig. Komm schon!“ Diana beschleunigte ihre Schritte und zog ihn zu den Wellen, die sich sanft auf dem Sand brachen.

„Der Strand ist nachts so friedlich“, dachte sie. „Und ideal für das, was ich tun muss.“

Die Sterne funkelten und hoben sich mit ihrem silbernen Glanz von dem wolkenlosen schwarzen Himmel ab. Bis zur Morgendämmerung dauerte es noch mindestens eine Stunde.

Diana betrachtete Erics Gesicht. Sein strubbeliges schwarzes Haar, seine ernsten dunklen Augen. Ihr Blick blieb an seiner Kehle hängen, an der weichen Haut unter seinem Kinn.

„Gleich ist es so weit“, dachte sie. „Nicht mehr lange.“

„Es ist schon spät“, meinte Eric. „Ich muss langsam mal nach Hause.“

„Du hast doch nicht etwa Angst im Dunkeln, oder?“, neckte Diana ihn.

„Natürlich nicht.“

„Warum dann die Eile?“

„Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir. Vor Sonnenaufgang würde ich gerne noch ein bisschen Schlaf bekommen.“

Diana blieb stehen und blickte den leeren Strand hinunter. „Sieh doch mal!“, rief sie. „Da hat jemand einen Sonnenschirm vergessen. Lass uns dort hinsetzen. Nur für eine Minute, ja?“

„Aber es ist doch schon so spät“, protestierte Eric.

Diana stürmte zu dem Schirm und ließ sich darunter in den Sand fallen. „Komm schon!“, drängte sie. „Dieser Platz ist nur für uns beide.“

Widerstrebend setzte Eric sich zu ihr. Sie zog ihn an sich und gab ihm einen Kuss. Einen kurzen, hastigen Kuss. Seine Lippen fühlten sich kalt an. Kalt wie die Nachtluft.

„Ich muss jetzt echt nach Hause“, flüsterte Eric.

„Vergiss es!“, widersprach ihm Diana.

Für einen Moment schwieg er. Sein Gesicht zeichnete sich als regloser Umriss vor dem sternenübersäten Himmel ab. „Was soll das heißen?“, fragte er schließlich.

„Ich habe dich hierhergelockt, um dich zu töten.“

Er lachte. „Machst du Witze?“

„Nein, Eric. Das ist mein voller Ernst. Letzten Sommer hat ein Vampir meine Cousine umgebracht. Und sie war nicht nur meine Cousine, sondern auch meine beste Freundin. Ich will, dass alle Blutsauger sterben!“

Erics Fangzähne glitten herab. „Das war’s dann wohl für dich“, fauchte er.

„Nein. Für dich!“, erwiderte Diana scharf.

Seine Augen funkelten – vor Wut und unstillbarem Durst. Er griff nach ihr.

Doch Diana rollte sich weg und riss dabei den Sonnenschirm aus dem Sand. Den Schirm, den sie extra für heute Nacht präpariert hatte.

Eric folgte ihr. Das Mondlicht glitzerte in seinen Augen.

Das obere Teil des Sonnenschirms löste sich und kullerte über den Strand, sodass Diana nur noch die Stange umklammerte.

„Ich kann dein Blut schon schmecken!“, rief Eric.

„Freu dich nicht zu früh!“, zischte Diana.

Sie holte aus und rammte die angespitzte Holzstange in sein Herz. Eric schrie laut auf, seine Augen traten vor Entsetzen hervor. „Nein!“, keuchte er. „Nein! Das kannst du nicht machen!“

Er brach zusammen und landete im Sand.

Das Leuchten in seinen Augen erlosch.

Sein Körper begann zu schrumpfen. Langsam zuerst und dann immer schneller. Seine Beine schrumpelten in den Jeans zusammen, die Arme lösten sich auf. Dann pellte sich die Haut ab und wurde vom Wind davongetragen.

Bis schließlich ein Skelett, das Erics Klamotten trug, am Strand lag.

Weiße Knochen.

Dann nur noch Staub.

Diana fuhr mit der Hand hindurch, bis sich der Staub mit dem Sand vermischt hatte.

„Mach’s gut, Eric“, murmelte sie. „Ich hatte viel Spaß mit dir.“

1

„Dort drüben ist die Pizzeria“, verkündete Billy Naughton und zeigte auf ein kleines Restaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Die haben wahnsinnig leckere Salamipizzen.“

Jay Windley nickte.

„Die beste Pizza in der ganzen Stadt“, bestätigte Nate Stanton und fuhr sich mit der Hand durch das sandfarbene Haar. „Letzten Sommer habe ich jeden Abend dort gegessen. Echt. Jeden Abend.“

Wieder nickte Jay.

Billy sah sich nach weiteren Sehenswürdigkeiten des Städtchens um. Er wollte seinem besten Freund Jay am ersten Abend alles zeigen, was dieser Ferienort zu bieten hatte. Immerhin hatte er den ganzen letzten Sommer hier verbracht und Jay war noch nie in Sandy Hollow gewesen.

Jays Kumpel Nate schien ein ziemlich langweiliger Typ zu sein. Offensichtlich waren er und seine Familie letzten Sommer auch hier gewesen, aber Billy konnte sich nicht an sie erinnern.

„Vielleicht war ich zu beschäftigt mit Joelle gewesen, um irgendetwas anderes wahrzunehmen“, dachte Billy.

„Ich mag diese Pizzeria nicht“, nörgelte Lynette, Nates kleine Schwester. Billy hatte das ungute Gefühl, dass sie die nächsten Wochen wie eine Klette an ihnen hängen würde. Schon an ihrem ersten Abend in Sandy Hollow hatte Mrs Stanton ihren Sohn gezwungen, sie mitzunehmen. Wie sollte das erst in den nächsten Tagen werden?

„Na und? Wer hat dich denn gefragt?“, stichelte Nate. „Wenn’s nach dir ginge, wäre deine Pizza nur mit Gummibärchen belegt.“

Billy spürte die salzige Meeresluft auf seinen Wangen. Eine Windbö fuhr durch seine langen schwarzen Haare. Er schüttelte sich, um die düsteren Erinnerungen loszuwerden. „Nachts wird es hier ganz schön kalt“, bemerkte er.

„Das kann man wohl sagen“, murmelte Jay fröstelnd. Die kräftige Brise, die vom Meer kam, wehte das hellbraune Haar gegen seine Wange.

„Aber man kann hier trotzdem jede Menge Spaß haben“, behauptete Nate. „Das wird ein super Sommer! Abgesehen von der Arbeit.“

Billy stöhnte. „Erinnere mich bloß nicht daran!“ Er wandte sich an Jay. „Was machst du eigentlich, während wir jobben? Mit deinen Eltern abhängen?“

Jay lachte. „Quatsch. Ich werde mich an den Strand verziehen und mir eine mordsmäßige Bräune zulegen. Aber ich werde euch natürlich ausgiebig bedauern, weil ihr armen Kerle arbeiten müsst.“

„Klar, so siehst du aus.“ Nate gab ihm einen Schubs und Jay stolperte gegen eine Frau, die gerade vorbeiging.

Billy lachte. Nate war ein stämmiger Typ. Kräftig gebaut, stark und fast doppelt so breit wie Jay.

„Offenbar hat Jay sich während des letzten Jahres, in dem ich nicht da war, einige neue Freunde zugelegt“, dachte Billy. „Früher hätte er sich nicht mit solchen Muskelprotzen abgegeben.“

„Das Einzige, was ich in diesen Ferien machen möchte, ist Mädchen kennenlernen“, sagte Jay. „Sonst nichts.“

„Dann bist du hier genau richtig, Mann“, versicherte ihm Nate grinsend. „Letzten Sommer hatte ich drei Freundinnen.“

Jay grinste. „Wenn es hier so viele Mädels gibt, wie kommt es dann, dass wir bis jetzt noch keins getroffen haben?“

„Er hat nur gesagt, dass es in Sandy Hollow jede Menge davon gibt“, erwiderte Billy. „Das heißt aber noch lange nicht, dass sie auch an dir interessiert sind, Jay.“

Nate lachte schallend und klatschte mit Billy ab.

„Meine Freundinnen finden Nate alle doof“, schaltete Lynette sich jetzt wieder ein.

Nates Grinsen verschwand. „Warum gehst du nicht einfach im Meer spielen, Lynette?“

Seine kleine Schwester hüpfte munter hinter ihm her. „Wirklich alle meine Freundinnen finden Nate doof“, fügte sie mit hämischer Miene hinzu.

„Wen interessieren schon deine Freundinnen?“, knurrte Nate. „Ich habe von richtigen Mädchen gesprochen und nicht von solchen Küken wie dir.“

Lynette streckte ihm die Zunge heraus.

Billy verdrehte die Augen und warf Nate einen mitfühlenden Blick zu.

„Hey, seht doch mal!“, rief Lynette. „Da vorn gibt’s Eis!“

Billy folgte ihrem Blick. Sie hatte Swanny’s entdeckt, eine Eisdiele, die gleichzeitig auch eine Spielhalle war. Der Lieblingstreffpunkt aller Jugendlichen in Sandy Hollow.

„Eis!“, quengelte Lynette und zupfte ihren Bruder am Ärmel. „Ei-heis!“

Nate schnaubte genervt. „Vielleicht später.“

Sie schlenderten die Hauptstraße hinunter, wechselten auf die andere Straßenseite und gingen den gleichen Weg wieder zurück.

Billy fiel auf, dass sich nur wenige Kunden in dem kleinen Supermarkt des Ortes aufhielten. Die Saison hatte gerade erst begonnen. In ein paar Tagen würde es im Supermarkt und in jedem anderen Geschäft in Sandy Hollow rund um die Uhr von Sommergästen nur so wimmeln.

„Das muss ein geiler Sommer werden!“, rief Billy. „Nach dem miesen letzten Jahr hab ich mir den echt verdient.“

„Ja, das war schon komisch, als du in dieser Klinik warst“, erwiderte Jay. „Ich konnte dich nicht mal besuchen.“

„Na und?“, schaltete Nate sich ein. „Sieh’s doch mal positiv, Billy. Du brauchtest ein ganzes Jahr lang nicht zur Schule gehen! Echt cool!“

„Jetzt geht’s mir jedenfalls wieder gut“, verkündete Billy. „Und ich werde in diesen Ferien so richtig die Sau rauslassen!“

Nate streckte die Hand in die Luft und Billy klatschte ab.

„Wie läuft’s denn so mit euren Ferienjobs?“, fragte Jay.

Billy und Nate stöhnten einstimmig.

„Meiner ist eigentlich gar nicht so schlimm“, sagte Billy dann. „Immerhin verbringe ich den ganzen Tag draußen auf dem Boot. Mein Chef hat mir erzählt, dass es ab und zu von reichen Typen zum Tiefseefischen gechartert wird. Dann bekomme ich vielleicht ein fettes Trinkgeld.“

„Wenigstens wolltest du jobben“, jammerte Nate. „Als mein Dad gehört hat, dass sie auf dem Golfplatz noch eine Aushilfe suchen, hat er sofort gesagt, ich würde das übernehmen – ohne mich überhaupt zu fragen! Ich wollte diesen Sommer Party machen und nicht Unkraut zupfen oder zerhauene Rasenstücke zusammenflicken.“

„Dad meint, das würde dir guttun“, mischte Lynette sich wieder ein. „Weil du nämlich ein fauler Knochen bist.“

Nate warf ihr einen finsteren Blick zu.

„Mein Job wird mich jedenfalls nicht vom Feiern abhalten“, verkündete Billy. „Ich kann den ganzen Tag arbeiten und die Nächte durchmachen. Wer braucht schon Schlaf?“

„Genau. Schlaf ist was für Weicheier“, bestätigte Nate. „Her mit den Mädels!“

Jay lachte. „Kommt mal wieder runter. Keine zwei Tage und ihr seid total im Eimer.“

„Ich doch nicht“, widersprach Nate. „Niemals!“

Billy hörte seinen Freunden nur mit halbem Ohr zu. Das Geräusch der Brandung hatte seine Aufmerksamkeit erregt. „Hey, lasst uns runter zum Strand gehen!“, schlug er vor und lotste seine Freunde zu dem Bohlenweg, der in Richtung Wasser verlief. Die alten Holzstufen, die von den Dünen hinabführten, ächzten und gaben unter ihrem Gewicht nach.

Sie hatten den Strand ganz für sich, aber Billy wusste, dass das nur eine Frage der Zeit war. Am Ende der Woche würde es hier von Sonnenanbetern, Wasserratten und Kindern, die Sandburgen bauten, nur so wimmeln. Und nachts würde es Lagerfeuer, Picknicks und haufenweise Partys geben. Dann konnte die beste Zeit des Jahres beginnen.

„Ich kann’s kaum noch erwarten, dass es endlich losgeht!“, dachte Billy.

„Du hast recht, Mann, es ist echt cool hier“, meinte Jay.

Billy sah sich um. Die Wellenkämme schimmerten hell im silbrigen Mondlicht. In einiger Entfernung konnte Billy einen gemauerten Anlegesteg sehen, der sich vom Strand bis weit ins Meer erstreckte.

„Was ist das?“, rief Jay plötzlich.

Billy zuckte zusammen. Er hörte, wie Lynette erschrocken nach Luft schnappte.

Der Himmel füllte sich mit Geräuschen.

Flügelschlagen. Flattern.

Über ihnen. Vor ihnen. Hinter ihnen.

„Seht doch nur!“, rief Nate alarmiert und zeigte auf die steinerne Mole.

Jetzt sah Billy es auch. Dutzende von Fledermäusen zogen im Tiefflug darüber hinweg.

Billy lief ein kalter Schauer über den Rücken. „So viele“, dachte er. „Wo kommen die denn bloß alle her?“

„Irre“, flüsterte Jay.

Lynette drückte sich an Billy vorbei und versteckte sich hinter ihrem großen Bruder.

Die Fledermäuse stiegen steil in den Himmel und verdeckten für einen Moment den Mond, sodass der Strand plötzlich dunkler wirkte. Dann flogen sie aufs Meer hinaus und verschwanden.

„Wo sind die denn jetzt hin?“, fragte Lynette mit ihrem Piepsstimmchen.

„Zurück zur Insel“, antwortete Billy. „Sie liegt nicht weit von der Küste entfernt. Aber dort lebt niemand mehr. Die Fledermäuse nutzen die verlassenen Gebäude.“

„Die Insel der Fledermäuse“, sagte Jay. „Klingt wie aus einem Horrorfilm.“

„Die Einheimischen nennen sie ‚Insel der Vampire‘“, verbesserte ihn Nate. „Da gibt’s nur ausgebrannte Ruinen. Deswegen wohnt da auch keiner mehr.“

Jay lachte. „Insel der Vampire? Das ist doch albern!“

„Einige Leute behaupten, dass in den verlassenen Häusern Blutsauger gelebt haben“, erklärte Billy. „Vor einigen Jahren sind ein paar Schüler der Highschool nach ihrer Abschlussparty da rübergefahren. Sie hatten gewettet, dass sie die Vampire finden und töten würden. Als zwei von ihnen einen Sarg entdeckten, haben sie ihn angezündet.“

Lynette schauderte und drängte sich enger an Nate.

„Das Feuer hat den Vampir zwar umgebracht, aber als die Jugendlichen die Insel verlassen wollten, wurden sie von anderen Blutsaugern verfolgt“, fuhr Billy fort. „Die Schüler versuchten, sie ebenfalls zu verbrennen, doch dabei gingen die Häuser in Flammen auf und keiner der Jugendlichen kehrte jemals zurück.

Manche behaupten, sie seien zusammen mit den Vampiren in dem Feuer umgekommen. Wieder andere glauben, dass die Blutsauger sie erwischt haben. Auf jeden Fall setzt seitdem niemand mehr freiwillig einen Fuß auf die Insel.“

Nate lachte. „Was für eine blöde Story! Glaubt das etwa jemand?“

„Ja, eine Menge Leute“, erwiderte Billy leise.

Sie standen schweigend da und blickten auf die Steinmole.

Schließlich wandte Billy sich von dem dunklen, stürmischen Meer ab. „Lasst uns zurück in die Stadt gehen“, schlug er fröstelnd vor.

Seine Freunde waren sofort einverstanden. Billy wusste, dass die Fledermäuse sie erschreckt hatten – und seine Geschichte. Lynette klammerte sich ängstlich an Nates Ärmel. „Wie soll ich denn Mädchen kennenlernen, wenn ich ständig meine kleine Schwester im Schlepptau habe?“, grummelte Nate genervt vor sich hin.

„Wenn du mich nicht dabeihaben willst, kann ich ja auch nach Hause gehen“, sagte Lynette schnippisch.

„Nein!“, rief Nate. „Bloß nicht! Mum wird mich umbringen.“

„Kauf mir ein Eis, oder ich erzähle ihr, dass du versucht hast, mich loszuwerden!“

„Hey, das ist Erpressung!“, protestierte Nate.

Billy gluckste vor sich hin. „Ich glaube, sie sitzt am längeren Hebel, Nate.“

„Also, wenn ich du wäre, würde ich ihr eine Kugel kaufen“, gab nun auch noch Jay seinen Senf dazu.

Nate gab nach. „Okay, dann kriegst du eben dein Eis.“

Billy musste lachen. Nate war ein muskulöser, knallhart aussehender Typ. Aber seine kleine Schwester wusste genau, wie sie ihn nach ihrer Pfeife tanzen lassen konnte.

Schweigend gingen sie am Strand entlang zurück. Doch als Billy gerade die Holztreppe betrat, die die Dünen hinaufführte, stieß Lynette einen ohrenbetäubenden Schrei aus.

„Nein!“, kreischte sie. „Loslassen! Neiiin!“

2

Billy erstarrte. Als er sah, warum Lynette aufgeschrien hatte, japste er erschrocken nach Luft.

Ein Stück den Strand hinunter griffen zwei riesige Fledermäuse einen kleinen schwarzen Hund an. Ängstlich wirbelte der Winzling um die eigene Achse und schnappte nach ihnen.

Doch die Fledermäuse ließen sich davon nicht abschrecken. Kreischend und mit geöffneten Mäulern stießen sie auf ihn hinab. Eine landete im Sturzflug auf dem Rücken des Hundes und grub ihre Zähne tief in sein Fleisch.

Der Kleine stieß ein durchdringendes Jaulen aus.

Die zweite Fledermaus schoss auf den Nacken des Hundes zu.

Starr vor Entsetzen sah Billy zu, wie die beiden Blutsauger sich in den Hund verbissen und begannen, wie wild mit den Flügeln zu schlagen.

Der Kleine zappelte hilflos hin und her und jaulte markerschütternd.

„Das kann nicht sein“, dachte Billy. „Fledermäuse können so was doch gar nicht.“

Der Hund wand sich verzweifelt in alle Richtungen, um sich zu befreien, aber seine Angreifer ließen ihn nicht los. Sie schlugen immer heftiger mit ihren Flügeln – bis sie schließlich mit ihrer winselnden Beute abhoben. Langsam stiegen sie in die Luft.

Zwanzig Zentimeter.

Fünfzig.

Und immer höher.

Mit kräftigen Flügelschlägen flogen sie in Richtung Meer.

Billy war wie gelähmt. Er konnte den Blick nicht von der schrecklichen Szene abwenden.

Auf einmal hörte er Lynette schluchzen. Sah, wie sie dem jaulenden Hund hinterherstürmte.

„Lynette, komm zurück!“, schrie Billy und rannte los. Außer seinem eigenen abgehackten Atem hörte er Nate und Jay, die dicht hinter ihm waren. Ihre Schritte klangen auf dem feuchten Sand seltsam hohl.

Billy hatte Lynette schnell überholt und hielt jetzt auf die Fledermäuse zu. Sie schienen Probleme zu haben, ihre schwere Last zu tragen. Hektisch mit den Flügeln schlagend flogen sie langsam am Strand entlang.

Der Hund strampelte mit den Beinen und winselte durchdringend.

Billy legte noch einen Zahn zu. Nate und Jay waren jetzt auf gleicher Höhe mit ihm.

„Haltet sie auf!“, schrie Lynette.

Aus dem Augenwinkel sah Billy, wie Jay stolperte und der Länge nach hinschlug. Aber er blieb nicht stehen. Nate war immer noch an seiner Seite. Sie hatten die Fledermäuse schon fast erreicht.

Der Hund heulte panisch. Blut tropfte aus den Stellen, wo ihn die Fledermäuse gepackt hielten.

Billy rannte weiter, bis er direkt unter ihnen war. Er streckte die Arme aus. Versuchte, sich den Hund zu schnappen. Und verpasste ihn um wenige Zentimeter.

Nate sprang in die Luft und griff ebenfalls knapp daneben.

„Ich muss höher springen als er!“, dachte Billy.

Aber er schaffte es nicht.

Die Fledermäuse schlugen noch wilder mit ihren Flügeln. Sie flogen jetzt immer schneller. Entfernten sich von Billy.

Er rannte so schnell er konnte. Nate hielt keuchend mit ihm Schritt.

Plötzlich schnappte etwas Kaltes, Nasses nach Billys Beinen und brachte ihn aus dem Gleichgewicht.

Er blickte nach unten. Ohne es zu merken, war er ins Meer gelaufen. Eine große Welle überrollte ihn, stieß ihn zurück und erschreckte ihn mit ihrer Kälte.

Billy sah, wie Nate durch das knietiefe Wasser platschte und immer noch versuchte, die Fledermäuse zu erreichen. Doch kurz darauf hatte auch er keinen Boden mehr unter den Füßen und wurde von den heranrollenden Wellen hin und her geworfen.

„Nate!“, rief Billy. „Komm zurück! Wir können nichts mehr tun!“

Nate kam zu ihm herübergeschwommen. Gemeinsam mussten sie mit ansehen, wie die Fledermäuse und ihre Beute sich als gespenstische Umrisse vor dem Mond abzeichneten. Sie wurden immer kleiner, bis sie schließlich ganz verschwanden.

Billy war klar, dass sie den Hund zur Insel schleppten, um ihn dort auszusaugen. Voller Ekel und Entsetzen starrte er ihnen hinterher.

„Na wartet!“, dachte er bitter. „Ich weiß, dass ihr keine echten Fledermäuse seid. Ich werde euch vernichten! Bevor der Sommer zu Ende geht, seid ihr alle erledigt!“

3

Lynette wollte kein Eis mehr. Sie wollte nur nach Hause.

Billy, Jay und Nate gingen auf dem Pfad, der zu ihren Sommerhäuschen führte, vor ihr her. Sie unterhielten sich leise miteinander, um die Kleine nicht noch mehr aufzuregen.

„Das waren Vampire“, murmelte Billy.

„Vampirfledermäuse?“, fragte Jay. „Ich wusste gar nicht, dass die so stark sind.“

„Nein, ich meine Vampire, die sich in Fledermäuse verwandeln“, stellte Billy richtig.

Jay schnaubte ungläubig.

„Na klar“, murmelte Nate. „Und Frankenstein hat unser Nachbarhaus gemietet.“

„Ihr habt doch gesehen, was sie getan haben“, flüsterte Billy. „Meint ihr etwa, normale Fledermäuse würden so etwas fertigbringen?“

Lynette begann wieder zu heulen. „Werden sie den Hund töten?“, schluchzte sie. Sie hatte natürlich doch gelauscht.

„Gut gemacht, Billy!“, zischte Nate ihm zu und versuchte, seine kleine Schwester zu beruhigen.

„Hey, das wollte ich nicht. Aber es stimmt“, verteidigte sich Billy. „Ihr müsst mir glauben. Das waren keine Fledermäuse.“

„Huh, da gefriert mir ja das Blut in den Adern“, dröhnte Jay mit einem höhnischen Lachen.

„Das ist nicht lustig“, rief Lynette. „Ich finde es ganz schön unheimlich!“

„Sie hat recht, das ist es auch“, sagte Billy. „Und wenn ihr nicht auf mich hört, seid ihr auch in Gefahr.“

„Wegen der Vampire?“ Jay verdrehte die Augen.

„Ja genau, wegen der Vampire!“, wiederholte Billy eindringlich. Er sah Jay fest an und versuchte, seinen besten Freund davon zu überzeugen, dass er es ernst meinte.

Jay runzelte die Stirn. „Äh, Billy, weißt du, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es diese Viecher wirklich gibt.“

„Er glaubt, ich spinne“, dachte Billy frustriert. Er musterte die besorgten Gesichter seiner Freunde und bemerkte den Blick, den sie untereinander tauschten.

„Sie halten mich für verrückt“, fügte er im Stillen hinzu. „Aber das ist auch kein Wunder. Mir wäre es genauso gegangen – vor letztem Sommer.“

Die Erinnerung daran quälte ihn immer noch.

Aber er war hier, um dem Grauen in Sandy Hollow ein Ende zu bereiten. Wenn seine Freunde ihm helfen sollten, mussten sie die Wahrheit erfahren.

„Letztes Jahr hatte ich hier eine Freundin“, begann er zu erklären. „Ihr Name war Joelle. Ich habe sie gleich in der ersten Woche kennengelernt und wir haben die ganzen Ferien zusammen verbracht.“

„Und was ist dann passiert?“, fragte Jay. Seine Augen leuchteten neugierig auf.

Billy holte tief Luft. „Die Vampire haben sie getötet. Sie sind als Fledermäuse von ihrer Insel herübergeflogen, haben am Strand wieder ihre Menschengestalt angenommen und Joelle dann umgebracht. Sie haben ihr das Blut ausgesaugt, bis sie tot war.“

Seine Freunde starrten ihn sprachlos an. Billy spürte, dass sie ihm nicht glaubten.

„Ich weiß, es klingt verrückt“, räumte er ein. „Aber es ist nun mal passiert. Ich habe die Bissspuren an Joelles Hals gesehen.“

„Und wenn es Mückenstiche waren?“, gab Jay zu bedenken.

„Ich weiß, wie ein Mückenstich aussieht“, fuhr Billy ihn an. „Diese Löcher waren größer und tiefer.“

Nate kratzte sich am Kinn. „War Joelle das Mädchen, das sie am Strand gefunden haben?“

Billy nickte.

„Es hieß, sie sei ertrunken“, murmelte Nate. „Niemand hat etwas von Vampiren erwähnt.“