Martin Fischer-Dieskau

Dirigieren im 19. Jahrhundert

Der italienische Sonderweg

Martin Fischer-Dieskau

DIRIGIEREN IM 19. JAHRHUNDERT

Der italienische Sonderweg

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ISBN 978-3-7957-8570-3

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Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 22464

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Coverabbildung: Guiseppe Verdi dirigiert Stabat Mater von Rossini in La Scala, April 1892 – A Bonamore (culture-images/Lebrecht Music & Arts)

Inhaltsverzeichnis

Zum Thema

Die Doppeldirektion

Voraussetzungen

Maestro al Cembalo

Primo Violino Direttore d’orchestra

Concertino

Die Direktionsstimme

Violindirektor oder Klavierkapellmeister: Wer dominiert die Doppeldirektion?

Begleiterscheinungen der Doppeldirektion

Die italienische Orchesterkultur des Ottocento

Aspekte der Orchesterqualität

Stabilität und Regularien

Etat und Ambition

Rekrutierung und Musikermigration

Besetzung und Sitzordnung

Taktstock

Dürfen beide Leitungsfunktionen als Grundlage für den italienischen Alleindirigenten gelten?

Pianist

Geiger, Cellist oder Kontrabassist

Gründe für den Durchbruch der Alleindirektion

Etappensiege des Taktstocks

Legenden um die Inauguration des Taktstocks

Angelo Mariani

Profil

Mariani und Verdi

Mariani und Wagner

Marianis Probentechnik

Im Schatten der Opernproduktion: Das Konzert

Instrumentalmusik

Luigi Mancinelli

Die Entwicklung des zeitgenössischen italienischen Opernschaffens im Spiegel des konkreten Dirigierkontextes

Largo concertato

Duetto

Individualisierung und Erweiterung durch Verdi und Meyerbeer

Paradigma Aida: Marianis Erbe

Emanuele Muzio

Emilio Usiglio

Giovanni Bottesini

Franco Faccio

Ausblick

Franco Faccio zwischen Mariani und Toscanini

Stetig steigendes Prestige

Edoardo Mascheroni

Leopoldo Mugnone

Giuseppe Martucci

Korrektur einer Legende?

Dank

Über den Autor

Literaturverzeichnis

Register

ZUM THEMA

Das Erscheinen des Typus des modernen Dirigenten im 19. Jahrhundert vollzog sich auf italienischem Boden auf eine Weise, die nur in enger Korrelation mit den prävalenten Kompositionsprinzipien der landesspezifischen Opernproduktion betrachtet werden kann. Dabei darf die schrittweise Öffnung der tradierten Form einer Arie als viersätzige Folge von Scena, Cantabile, Tempo di mezzo und Cabaletta zu höherer Geschlossenheit und Individualisierung im musikdramatischen Kontext nicht intentional im Sinne einer teleologischen Entwicklung verstanden werden. Dafür ist allein schon die beherrschende Figur Verdis ein Garant, der die altbewährten Genres des italienischen Operntheaters niemals infrage stellte, sondern der mit seinen Bühnenwerken über Jahrzehnte derart erfolgreich war, dass er die Gattung der italienischen Oper von innen heraus zu verwandeln vermochte. Betrachtet man darüber hinaus die praktische Leitung des musikalischen Geschehens sozusagen als Außenseite der Werkentstehung, wird andererseits der »absichtslos« experimentelle Charakter der schrittweisen Übernahme anderer Strukturen wie etwa der Integration alles Rezitativischen in den orchestralen Erzählfluss deutlich, wie sie von jenseits der Alpen Einzug in die italienische Operndramaturgie gehalten hat. Das Accompagnato fällt in der Tat als Erstes ins Auge, wenn es um die Notwendigkeit geht, solche musikdramatisch bedeutsamen Momente nicht mehr vom Instrument aus, sondern mit der Hand allein zu leiten. Taktfiguren mussten erfunden werden. Doch wie verhielt es sich überhaupt mit der Einführung des aufrecht stehenden Dirigenten in Italien? Verlief sie parallel zu den anderen europäischen Kulturen?

Mit zunehmender Artikulation des »Besonderen« eines Werkes stiegen, von den Ausführenden selbst teilweise unbemerkt, ganz selbstverständlich auch die Anforderungen an dessen Wiedergabe. Bis zur Übernahme der nicht zuletzt durch Verdi angeregten Reformen zunächst der 1840er-, dann auch der 1870er-Jahre spielten die italienischen Orchester eine mehr oder minder »dekorative« Rolle im Gesamtereignis Oper, weil der Instrumentierung der Partituren noch geringe Bedeutung beigemessen wurde, der Probenaufwand infolgedessen gering ausfiel und das Personal außerdem nur teilweise mit professionellem Hintergrund musizierte. In Deutschland und Frankreich wurden Opernaufführungen längst von einem »instrumentfrei« agierenden Musiker – es sei denn, man wollte den Taktstock oder die Notenrolle als ein solches ansehen – geleitet, während in Italien niemand erstaunt war, wenn zu Beginn einer Vorstellung in den frühen 1860er-Jahren kein musikalischer Direktor heutiger Prägung an ein Extrapult trat, sondern der erste Geiger scheinbar allein für die Aus- und Aufführung verantwortlich war. Dass dieser bei der Einstudierung von einem Kollegen unterstützt wurde, der zeitweilig auch während des Abenddienstes noch am Tasteninstrument saß, häufig ohne zu spielen, konnte dabei weithin unbemerkt bleiben. Der Automatismus der Verteilung auf mehrere Rollen bei der Realisierung einer Opernaufführung – zur doppelten Orchester- und Sängerführung vor der Bühne gesellte sich zeitweilig noch ein kostümierter Chorleiter auf der Bühne – wich dem Bewusstsein höherer Verantwortung für die Individualkompetenz eines einzigen musikalischen Leiters. Italien wird damit zum Sonderfall innerhalb des europäischen Dirigentenpanoramas, weil die Verzahnung mit den Spezifika der landesüblichen Opernproduktion auch für eine entscheidende Verzögerung gegenüber den Dirigiertraditionen anderer Nationen sorgte. Namen, die der Entstehung des heutigen Dirigenten anderswo Vorschub leisteten wie jene von Habeneck, Berlioz, Spohr oder Mendelssohn sucht man in Italien vergeblich. Das hat folgenden Grund: Eine Situation, wie wir sie heute von jedem Opernhaus kennen und erwarten – mit dem Dirigenten als alleinigem Herrscher über alle musikalischen Komponenten einer Aufführung, Sänger wie Orchester, von einer Position aus mit dem Rücken zum Publikum Orchester und Bühne überschauend –, wurde in Italien erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Realität. Warum perpetuierte man eine Tradition in Italien, die diesseits der Alpen Jahrzehnte früher aufgegeben worden war? Ging vom italienischen Violinmeister eine besondere Art der Suggestion aus, oder bedurften italienische Opern einfach nicht der gleichen musikalischen Kontrolle wie die Werke deutscher oder französischer Provenienz? Diese Fragen müssen mithilfe der Angaben zur musikalischen Leitung in den überlieferten Libretti, aus ikonografischem Material, aus theoretischen und ästhetischen Schriften sowie aus Besprechungen, Reiseberichten, Briefen und Theaterchroniken heraus beantwortet werden.

Die Geschichte des Dirigierens insgesamt ist natürlich kein linearer Prozess technischen Fortschritts. Der vom Lesepult aus agierende, allein verantwortliche musikalische Leiter erscheint als Endprodukt eines langsamen Ineinandergreifens verschiedener Praktiken über Generationen hinweg, abhängig jeweils von den Aufführungsorten, dem Genre und dem Land der musikalischen Darbietung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts koexistierten hörbares Taktklopfen, verschiedene Ausprägungen der geteilten Direktion mit und ohne Spielbeteiligung der leitenden Musiker, unterschiedliche Dirigierwerkzeuge vom Geigenbogen bis zu einer Art Marschallstab und schließlich mannigfaltigste Standorte und Positionen. Auch als der Professionalisierungsprozess des Dirigierens in ganz Europa bereits weit vorangeschritten war, standen die ersten bekannten italienischen Dirigenten Angelo Mariani oder Franco Faccio nicht auf gleicher Bedeutungsebene wie Hans von Bülow, Arthur Nikisch oder Hans Richter. In Italien, wo die Oper erfunden worden war, hielt sie sich für mehr als 300 Jahre als dominierende musikalische Kunstform allen politischen Umwälzungen zum Trotz. Nach der italienischen Einigung von 1861 übernahm sie zudem die Funktion der Stifterin einer Art nationaler kultureller Identität und wurde schnell zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Von Cavour, dem ersten Ministerpräsidenten des neuen Königreichs, stammt das Wort von der »Opernindustrie«, das seither eine Standardformulierung in der Forschung geworden ist.1

Die vollständige Identifizierung alles Musikalischen mit dem Gesanglichen herrschte in Italien nicht zuletzt deshalb vor, weil die brillanten Anfänge des barocken Konzerts, also, wenn man so will, der Gegenposition zur Oper, im 18. Jahrhundert – sämtlich Exponate hoher instrumentaler Virtuosität – durch die Abwanderung der potenziellen Fortführer dieser Tradition – Boccherini nach Spanien, Clementi nach England und Cherubini nach Paris – nicht weiter vertieft werden konnten. Kompositorische Errungenschaften wie beispielsweise das Prinzip der sinfonischen Entwicklung gerieten dabei fast vollständig aus dem Blickfeld und wurden zunehmend als Bedrohung des melodischen Einfalls gesehen, des Kernelements italienischen Musikempfindens. Paris blieb auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts europäischer Kristallisationspunkt der musikalischen Innovation und entzog Italien weiterhin wichtige Impulse, weil sich Rossini, Donizetti und Bellini der nördlichen Zentripetalkraft nicht verweigern wollten und deshalb die Erwartungshaltung des heimatlichen Publikums vom Formelhaften des ererbten Opernschematismus nur bedingt abzubringen vermochten.2 Kraft der überschau- und vorhersehbaren kompositorischen Muster einerseits und der sich ständig erneuernden Produktion für den Stückemarkt auf der anderen Seite blieb die Art und Weise der tradierten Ausführung der Werke im Schatten der Aufmerksamkeit und verließ sich auf die spezifisch italienische Variante der Doppeldirektion, ausgehend von der bereits im Barockzeitalter entstandenen Aufgabenteilung mit dem Geiger als Leiter von Instrumentalensembles und dem Komponisten am Cembalo, zuständig für das Opernorchester und die Gesangsstimmen.3

Während die Erforschung des Produktionssystems der italienischen Oper gut dokumentiert erscheint4, bleiben Art und Weise der musikalischen Leitung in den betreffenden Darstellungen unterrepräsentiert. Hier haben in besonderem Maße amerikanische Publikationen der letzten Jahrzehnte Abhilfe geleistet5, gefolgt von italienischen Beiträgen aus jüngster Zeit6, die sich jedoch auf Einzeldarstellungen beschränken. In der ersten Hälfte des Ottocento maß die interne Erwartungshaltung an eine italienische Oper der Partitur nicht denselben Stellenwert zu, wie ihn der interessierte zeitgenössische Besucher aus dem europäischen Ausland unter dem Vorbild der sinfonischen Tradition der Wiener Klassik auch auf der Halbinsel vorzufinden wünschte. Auskünfte aus den Lebensbeschreibungen Hector Berlioz’ und Louis Spohrs sind unter diesem Gesichtspunkt besonders ergiebig.7 Eine erste Zusammenfassung der europäischen Orchestersituation im 19. Jahrhundert von grundlegendem Charakter lieferte Adam Carse.8 Sie fand sinnvolle Ergänzung in umfassenden Studien zur Aufführungspraxis9 sowie in Untersuchungen zu den Orchestern der Emilia-Romagna10 bzw. der Société de Concert du Conservatoire11 in Paris mit deren markantem Einfluss auf die Arbeitsweisen italienischer Violindirektoren. In welch umfassendem Ausmaß die französischen Opern Giacomo Meyerbeers zur Wandlung des Publikumsgeschmacks, der Orchesterkultur und Bühnenpraxis in Italien beitrugen, erhellen die Forschungen Anna Tedescos und Antonio Rostagnos.12

Bei den Matadoren der ersten Generationen von italienischen Orchesterleitern selbst geben die disparaten biografischen Quellen meist der Genese des Berufsstandes als solcher zu wenig Raum, gehen dadurch mit mangelhafter Reflexion zu früh und zu selbstverständlich vom heutigen Erscheinungsbild des Dirigenten aus. Auch findet sich Angelo Mariani viel zu häufig in einer Position zwischen Agent provocateur13, Autor von Klavier-Petitessen14 und Protagonist in einem Eifersuchtsdrama15 wieder. Anders die Lage der Brüder Luigi und Marino Mancinelli, deren Wirken eine umfassende kritische Würdigung erfuhr.16 Über Faccio, Muzio, Bottesini und Martucci liegen italienische Monografien unterschiedlichster Prägungen und Epochen vor17, Fakten und Daten zum Wirken der Dirigenten Edoardo Mascheroni und Leopoldo Mugnone sind dagegen nur den einschlägigen Sammeldarstellungen zu entnehmen.18

Während die Bewegung der historischen Aufführungspraxis generell davon ausgeht, dass es im Instrumentenbau seit dem 18. Jahrhundert keine »Fortschritte«, sondern eher nur Anpassungen an die jeweiligen Erfordernisse der Musiksprache einer Epoche gegeben habe, scheint dieser Gedanke aus dem Dirigentenorbit verbannt. Aktuelle Aufführungen in Doppeldirektion scheitern zumeist an praktischen Vorgaben wie zu kurz bemessenen Probenzeiten oder zu stark besetzten Klangkörpern. Dabei würde eine solche Wiederbelebung alter Leitungstechniken andererseits vermutlich die Einsicht fördern, an welchen Punkten der Darbietung moderne Dirigiertechnik erst unumgänglich wurde bzw. bis wohin die direkten klanglichen Auswirkungen ihrer Vorgängerformen den heutigen Hörer tragen könnten. Von Alberto Mazzucato in der Gazzetta musicale di Milano beklagte Missstände in der Orchesterleistung der 1850erund 1860er-Jahre am Teatro alla Scala hätten dagegen vermutlich augenblicklich und probenlos behoben werden können, wenn ein Dirigent von bereits fortgeschrittener Taktstockerfahrung wie Mancinelli, Mugnone oder Martucci sich ihrer zum damaligen Zeitpunkt schon hätte annehmen können. Waren die Tempi in der Periode der Violindirigenten langsamer, weil sich der Bogen aufgrund seiner Länge und Unhandlichkeit nicht flexibel genug bewegen ließ? Sind die Taktstöcke im 20. Jahrhundert kürzer geworden, um der wachsenden rhythmischen Implikationen neuer Musikstile besser Herr zu werden? Geriet die Dynamik außer Kontrolle, weil die Geigenleiter durch Lautstärke führen zu müssen glaubten? An den Schnittpunkt dieser Fragen aus dem Kontext europäischer Leitungstraditionen zu gelangen und gleichzeitig das langlebige italienische Biotop dirigentenloser Musikausübung zu würdigen, hat sich diese Arbeit zur Aufgabe gemacht.

1  Vgl. John Rosselli, The Opera Industry in Italy from Cimarosa to Verdi. The Role of the Impresario, Cambridge 1984, S. 39.

2  In Rückschau auf seine Karriere, die begann, als Rossini im Zenit seines Erfolges stand, schreibt Giovanni Pacini: »Tutti seguirono la stessa scuola, le stesse maniere, per conseguenza erano imitatori, al par di me, dell’Astro maggiore. – Ma, Dio buono! come si faceva se non vi era altro mezzo per sostenerci?« (»Alle folgten der gleichen Schule, den gleichen Mustern und waren, wie es mir scheinen will, infolgedessen [alle] Imitatoren des großen Erleuchteten. – Aber, lieber Gott! Wie sollte man sich helfen, wenn es sonst keine Mittel gab, sich zu ernähren?«) Giovanni Pacini, Le mie memorie artistiche, Florenz 1865, S. 54.

3  Eine natürliche Folge des zur treibenden rhythmischen Kraft gewordenen Generalbasses im 17. Jahrhundert war, dass es dem Cembalospieler leicht wurde, für den Zusammenhalt aller Mitwirkenden zu sorgen. Er organisierte, probte und komponierte für gewöhnlich auch die Musik, an der das Tasteninstrument immer teilhatte. Die rechte Hand konnte Noten hinzufügen, aber auch Einsätze geben, während die linke fortfuhr, die Basslinie zu spielen. Lief das Geschehen aus dem Ruder, wurden Stützakkorde mit beiden Händen zugleich »gehämmert« und so der Dirigent vom visiblen zum auditiven Zeichengeber. Unverzichtbar als Funktionsverstärker der Rezitative wie des Orchesterspiels waren die ihn flankierenden Bassinstrumente, Violoncello und Kontrabass, beide vom Notenpult des »Maestro« spielend.

4  John Rosselli, The Opera Industry in Italy from Cimarosa to Verdi. The Role of the Impresario, Cambridge 1984; italienische Fassung: John Rosselli, L’impresario d’opera, Turin 1985; John Rosselli, Singers of Italian Opera. The History of a Profession, Cambridge 1992; John Rosselli, The Life of Verdi, Cambridge 2000; Jutta Toelle, Oper als Geschäft. Impresari an italienischen Opernhäusern 18601900, Kassel 2007; Michael Walter, »Die Oper ist ein Irrenhaus«. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1997.

5  Luke Jensen, The Emergence of the Modern Conductor in 19th-Century Italian Opera, in: Performance Practice Review, Bd. 4, Nr. 1, Art. 5, Berkeley 1991; Martin Chusid, A Letter by the Composer About »Giovanna d’Arco« and Some Remarks on the Division of Musical Direction in Verdi’s Day, in: Performance Practice Review, Bd. 3, Nr. 1, Art. 10, Berkeley 1990; Gregory W. Harwood, Verdi’s Reform of the Italian Opera Orchestra, in: 19th Century Music, X/2, 1986, S. 108–134.

6  Ruben Vernazza, Il direttore d’orchestra nel sistema produttivo del teatro d’opera italiano di fine Ottocento. Un caso eloquente: Emilio Usiglio a Firenze nel 1892, in: Roberto Illiano, Michela Niccolai (Hrsg.), Orchestral Conducting in the Nineteenth Century, Lucca 2014, S. 185–212; Mariateresa Dellaborra, Alessandro Rolla direttore d’orchestra del Regio Teatro alla Scala, in: ebd., S. 323–344; Elisa Grossato, Dal virtuosismo strumentale alla direzione di »Aida«. Poliedricità artistica di Giovanni Bottesini (18211889), un direttore d’orchestra »impeciato di quartettismo«, in: ebd., S. 345–362.

7  Hector Berlioz, Mémoires de Hector Berlioz comprenant ses voyages en Italie, en Allemagne, en Russie et en Angleterre 18031865, www.gutenberg.org; Louis Spohr, Selbstbiographie, 2 Bände, Kassel/Göttingen 1860.

8  Adam Carse, The Orchestra in the XVIIIth Century, Cambridge 1940; Adam Carse, The Orchestra from Beethoven to Berlioz, New York 1949.

9  Daniel J. Koury, Orchestral Performance Practices in the Nineteenth Century. Size, Proportions and Seating, University of Rochester Press 1986; Clive Brown, Classical and Romantic Performing Practice 17501900, Oxford 2004; Kai Köpp, Handbuch historische Orchesterpraxis, Kassel 2009.

10  Marcello Conati, Marcello Pavarani (Hrsg.), Orchestre in Emilia-Romagna nell’Ottocento e Novecento, Parma 1982.

11  D. Kern Holoman, The »Société des Concerts du Conservatoire« 18281967, Berkeley 1997.

12  Anna Tedesco, »Queste opere eminentemente sinfoniche e spettacolose«. Giacomo Meyerbeer’s Influence on Italian Opera Orchestras, in: Niels Martin Jensen, Franco Piperno (Hrsg.), The Opera Orchestra in 18th- and 19th-Century Europe, Berlin 2008, S. 185–223; Antonio Rostagno, Verdi’s »Aida« and Performing Practice in Nineteenth Century Italian Opera Orchestras, in: ebd., S. 297–313; Antonio Rostagno, La Scala verso la moderna orchestra (dagli anni Venti dell’Ottocento all’Unità d’Italia), in: Studi verdiani, Bd. 16, Parma 2002, S. 157–219.

13  Vgl. Mary Jane Phillips-Matz, Verdi and the »Total Theatre« of Our Day, in: Atti del III° congresso internazionale di studi verdiani, Mailand 1974, S. 309f.

14  Vincenzo Borghetti, Le romanze dei direttori: Toscanini, Mariani, Mugnone, Mancinelli, Faccio, Muzio e Bottesini, in: Francesco Sanvitale (Hrsg.), La romanza italiana da salotto, Turin 2002.

15  Umberto Zoppi, Mariani, Verdi e la Stolz, Mailand 1947; Lorenzo Alpino, Verdi, Mariani, La Stolz e Gemito, in: Corriere del pomeriggio illustrato, Bologna 1927; Vincenzo Ramón Bisogni, Angelo Mariani tra Verdi e la Stolz, Varese 2009.

16  Antonio Mariani, Luigi Mancinelli. La vita, Lucca 1998; Antonio Mariani (Hrsg.), Luigi Mancinelli. Epistolario, Lucca 2000; Antonio Mariani, Marino Mancinelli: competenza e sfortuna, Lucca 2001.

17  Raffaello De Rensis, L’»Amleto« di A. Boito, con lettere inedite di Boito, Mariani e Verdi. Ancona 1927; Raffaello De Rensis, Franco Faccio e Verdi. Carteggi e documenti inediti, Mailand 1934; Gaspare Nello Vetro, L’allievo di Verdi: Emanuele Muzio, Parma 1993; Gaspare Nello Vetro, Giovanni Bottesini: 18211889, Parma 1989; Fabio Fano, Giuseppe Martucci. Saggio biografico-critico, Mailand 1950.

18  Dokumentiert ist allerdings ein umfangreicher Briefwechsel mit Puccini, Mascagni, Leoncavallo, Massenet, Richard Strauss und Verdi, den Leopoldo Mugnone um 1933 in einer Sammlung von mehr als 2000 persönlichen Dokumenten an die Musei teatrali dell’Opera di Roma sowie an das Konservatorium der Stadt Neapel übergab.

DIE DOPPELDIREKTION

Voraussetzungen

Im Gegensatz zu späterer Zeit liegt die musikalische Leitung am italienischen Opernhaus1 zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht in der Hand eines Einzelnen, sondern ist in der Regel auf zwei Personen aufgespalten, denen verschiedene Aufgabenbereiche zufallen. Es handelt sich um eine doppelte Leitung, wobei nicht in allen Phasen und Entwicklungsstufen grundsätzlich die eine der anderen übergeordnet ist. Die eine Funktion bezieht sich hauptsächlich auf den vokalen Sektor, die Solisten und mitunter auch den Chor, die andere auf den instrumentalen Bereich, das Orchester und möglicherweise auch auf die Banda. Die Verantwortung teilt sich in Bestimmung des Tempos, der Phrasierung, der gesanglichen Charakterisierung bis hin zur dynamischen Balance auf der einen und der praktischen Durchführung einer musikalischen Darbietung von Anfang bis Ende auf der anderen Seite, also in eine Trennung von Vorbereitung und Ausführung, wenn man so will. Der entscheidende Schritt in Richtung zum heutigen Dirigenten wird dann vollzogen sein, wenn einer Person, die von der Mitwirkung als Spieler entlastet ist, die Gesamtleitung übertragen wird, während die andere Person in die Stellung einer Hilfsfunktion zurückgedrängt wird. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Gewinnt der »Maestro al Cembalo« die vorrangige Position, die sich dann auch auf das Orchester ausdehnt, wird der »Primo Violino e Direttore d’orchestra« zum bloßen Konzertmeister, wie wir ihn heute kennen. Dies kann – sozusagen als eine erste Evolutionsstufe zum modernen Dirigat – oft schon während der ersten Aufführungsphase der Fall sein, wenn der Komponist am Cembalo oder Tasteninstrument noch anwesend ist. Gaetano Donizetti beschreibt seine Funktion folgendermaßen: Er müsse so platziert sein, »dass er dem Primo Violino mit Worten und Gesten die verschiedenen von ihm gewünschten Tempi anzeigen kann.«2 Erhält andererseits der »Capo d’orchestra« am ersten Geigenpult die Oberhand – also zu Beginn einer vom Komponisten bereits »abgesegneten« Aufführungsserie –, dann wird der inzwischen zum »Maestro al Cembalo« aufgerückte Hauskapellmeister in der Nachfolge des Komponisten, aber nunmehr ohne dessen eigene Mitwirkung, zu einem bloßen Cembalo- bzw. Klavierspieler degradiert, der dem Violinisten als »Maestro concertatore« bei der Probenarbeit mit den Vokalisten ausübend zur Seite steht – entsprechend etwa dem heutigen Korrepetitor –, »am Abend« aber dem »Primo Violino« die Leitung überlässt.

Im Dekret zur Konstituierung ihres Hoforchesters bestimmte die kaiserliche Prinzessin und Erzherzogin Österreichs Marie-Louise, Napoleon Bonapartes zweite Gattin, im Juli 1816 wie selbstverständlich keine Einzelperson zum musikalischen Leiter, wie es heutiger Erwartung entspräche:

DECRETO SOVRANO intorno all’organizzazione dell’orchestra di Corte.

Parma 10 Luglio 1816.

NOI MARIA LUIGIA PRINCIPESSA IMPERIALE ED ARCIDUCHESSA DAUSTRIA PER LA GRAZIA DI DIO DUCHESSA DI PARMA PIACENZA E GUASTALIA ECC. ECC. ECC.

Veduta la nomina da Noi fatta con successivo Decreto del sig. Ferdinando Simonis al posto di Maestro di Cappella, Cantore e Maestro di Canto, e del sig. Ferdinando Melchior[r]e a quello di primo violino e Direttore della musica stromentale.3

Im Jahr 1836 berief die Prinzessin4 keinen Geringeren als Nicolò Paganini, um ihrem Orchester neues Profil zu verleihen. Dieser unternahm es, neue Richtlinien zu formulieren, um die jeweiligen Betätigungsfelder des »Maestro di cappella« und des »Primo Violinista Direttore d’orchestra« genau abzustecken. Für Ersteren waren unter Artikel 6 zwei Richtlinien vorgesehen: 1. Anwesenheit und aktive Teilnahme an allen Proben für Opern und Konzerte am herzoglichen Theater. 2. Alle Veränderungen in den Partituren vornehmen, die vor dem Publikum zur Aufführung gelangen.5 Dem Orchesterdirektor und ersten Geiger unterliegen folgende Verantwortlichkeiten:

§ 1.° Procurare che ogni servizio cammini il meglio possible, e la disciplina sia scrupolosamente osservata. Farà rapport al Capo D.re della Musica di tutti que’ casi che eccedessero I suoi poteri. § 2.° Imporrà delle tasse sugli stipendi de’ Professori in proporzione delle loro mancanze. § 3.° Dirigerá l’Orchestra e la sorveglierà in tutti I servigi di Corte, o del D.le Teatro, o delle funzioni di Chiesa. § 4.° Egli dovrà mantenere in esercizio l’Orchestra facendo di frequente suonare quartette, quintetti, sinfonie, ed in especie le dodici rinomatissime di Beethoven, § 5.° Darà le disposizioni convenevoli, acciocché I Professori abbiano sempre in pronto de’ pezzi da suonare a solo, onde, ad ogni richiesta del Capo Direttore della Musica, si possano eseguire nelle Accademie di Corte, o nel D.le Teatro. § 6° Sarà sua cura di osservare che tutti gli istrumenti, sì da arco che da fiato, siano buoni, ed atti perciò a rendere con effetto le note della Music ache I Professori debbono eseguire. § 7 ° Darà due lezioni cinque volte la settimana, della durata ciascuna di ¾ d’ora, a due individui destinati da S.M. § 8° Curerà che tutto quanto è presentato in questo Regolamento intorno ai Professori Sostituti, ed Aspiranti, sia scrupolosamente eseguito. § 9.° Potrà cambiare I posti ai Violinisti, dovendo I secondi suonare indistintamente le parti de’ primi, e viceversa, così dicasi pure dei Professori di Viola, e dicasi pure che nessun Professore potrà rifiutarsi di disimpegnare le parti d’un altro, anche d’istrumento diverso, dietro ad ordine del Direttore, ogni qualvolta si trovi capace di farlo. § 10.° Di concerto al Maestro di Cappella del D.le Teatro, invierà in tempo debito, al Capo Direttore della Musica un rapporto in iscritto, nel quale sarà riferita la capacità degli Artisti di Canto scritturati dall’Impresario, e l’informarlo delle Opere per Musica a che si destinano, onde vedere se siano scelte bene, ed adattate agli Artisti scritturati.7

§ 1. Dafür Sorge zu tragen, dass jeder Dienst auf die bestmögliche Art absolviert wird und die Disziplin sorgfältig gewahrt bleibt. Er ist dem Capo Direttore della Musica6 Rechenschaft schuldig über alle Belange, die seine Kompetenzen übersteigen. § 2. Er behält Teile des Gehalts der betroffenen Orchestermusiker ein, je nach Art ihrer Verfehlungen. § 3. Er leitet das Orchester und beaufsichtigt es bei allen Hof- oder herzoglichen Theater- oder Kirchen-Diensten. § 4. Er hält das Orchester in Form, indem er es Quartette, Quintette und Sinfonien [Ouvertüren], besonders die 12 [sic] berühmtesten von Beethoven üben lässt. § 5. Er achtet darauf, dass die Orchestermusiker immer Solostücke für den Konzertvortrag bei den Akademien oder im Theater für den Capo Direttore bereit haben. § 6. Es fällt in seinen Verantwortungsbereich, dafür Sorge zu tragen, dass die Instrumente, Streich- wie Blasinstrumente, in Ordnung sind, damit sie die Musik adäquat ausführen können. § 7. Es wird von ihm verlangt, dass er fünfmal pro Woche zwei von Ihrer Majestät ausgesuchten Schülern Unterricht erteilt. § 8. Er achtet auf die Einhaltung aller Regeln auch für Substituten und Anwärter des Orchesters. § 9. Er ist berechtigt, erste und zweite Geiger und Bratscher auszutauschen, wo er es für notwendig erachtet. Es versteht sich, dass kein Spieler sich den Anordnungen des Direktors verweigern darf, im Falle, dass er in der Lage ist, sie zu befolgen, den Part eines anderen zu übernehmen, egal welchen InstrumentS. § 10. In Zusammenarbeit mit dem Maestro di cappella des herzoglichen Theaters liefert er dem Capo Direttore della Musica beizeiten einen schriftlichen Bericht über die Fähigkeiten der vom Impresario engagierten Gesangskünstler und informiert ihn über die geplanten Opernwerke, um festzustellen, ob sie gut ausgesucht und geeignet sind für die unter Vertrag genommenen Künstler.

Drei Jahre zuvor, im April 1813, erschien in der Allgemeinen musikalischen Zeitung das Schreiben eines in Italien reisenden Deutschen, ein Bericht, der diese Praxis auch für andere Städte bestätigt und außerdem auf eine ganze Reihe von Teilaspekten der Aufführungsmodalitäten an italienischen Theatern aus dieser Epoche verweist:

Jede Oper wird übrigens vom ersten Violinisten, der in der Mitte des Orchesters einen etwas erhöheten Platz einnimmt, dirigirt. Der Kapellmeister am Klavier, zwischen dem ersten Contraviolon und Violoncell beynahe in einer Ecke, ist mit seiner Partitur kaum sichtbar und spielt eine sehr kleine Rolle, die sich nicht selten sogar auf Blattumwenden beschränkt. Nur in Florenz fand ich ein Orchester, ganz nach deutscher Art eingerichtet. Hier sass Hr. Kapellm. Bondi auf etwas erhöhetem Platze vor dem Klavier und dirigirte die Oper durch Taktiren etc. [...] Die Art des Taktschlagens ist in Italien überall die, welche in Deutschland nur an wenigen Orten angenommen worden ist; die ersten zwey Bewegungen des Taktirenden sind stets Niederschläge, welche laut angegeben werden, und es ist wahr, dass damit das Tempo leichter für alle bestimmt wird.8

Entscheidend ist, dass die Entwicklung zum modernen Dirigenten mit der Ablösung der Doppeldirektion durch die Einzelleitung sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Italien anbahnt. Erstmals in den 1860er-Jahren – 1853 findet sich zum letzten Mal die getrennte Nennung von »Capo« und »Concertatore« – erscheint am Teatro alla Scala der Begriff, in dem sich die Gesamtleitung von Einstudierung und Aufführung widerspiegelt, jener des »Maestro concertatore e Direttore d’orchestra«. In dieser bis heute auf italienischen Theaterzetteln anzutreffenden Bezeichnung spiegelt sich nicht zuletzt auch der Ursprung aus den unterschiedlichen Aufgaben des am Tasteninstrument operierenden Meisters innerhalb der Doppeldirektion, bevor der Begriff zum Synonym für den allein und mit Taktstock dirigierenden Maestro avancierte. »Direttore« ohne Zusatz bezieht sich in den meisten Fällen auf die Leitung der aktuellen instrumentalen Darbietung vom ersten Geigenpult aus, kurz: auf den Violindirektor. Die von Theater zu Theater, von Anlass zu Anlass divergierenden Bezeichnungen der beiden Ämter sind verwirrend. Im Weiteren werden mehr direkte Zuordnungen versucht.

Der »Primo Violino« leitete, ganz praktisch gesprochen, durch Auf- und Niederbewegung des Geigenhalses oder andere entsprechende Gestik, durch Taktieren mit dem Bogen oder einfach durch lauteres Spielen – was auf ein akustisches Führen hinauslief, weniger auf ein optisches, zumal er ja, wie in der Allgemeinen musikalischen Zeitung zu lesen war, die ersten beiden Zählzeiten jeweils auf sein Pult klopfte. Louis Spohr schreibt 1816 in seinen Lebenserinnerungen über seine Eindrücke von der Mailänder Scala:

Die Ausführung übertraf sehr meine Erwartung; sie war rein, kräftig, präzis und dabei sehr ruhig. Herr Rolla, ein durch seine Kompositionen auch im Auslande bekannter Künstler, dirigierte bei der ersten Geige. Außer ihm ist weiter keine Direktion, weder am Piano noch mit dem Taktierstabe, sondern bloß noch ein Souffleur mit der Partitur, der den Sängern den Text souffliert und den Choristen nötigenfalls den Takt gibt.9

Johann Joachim Quantz10 und Leopold Mozart11 waren in ihren bekannten Schriften im 18. Jahrhundert unter den Ersten, die dieser Art der Orchesteranführung als Spieler eines Melodieinstruments, Flöte bzw. Geige, den Vorzug gaben. Sie argumentierten, melodische Nuancengebung sei wichtiger als Rhythmus- und Harmoniekontrolle durch den Cembalisten. Dessen Rolle, also die des mitgestaltenden Kollegen des Geigers innerhalb der Doppeldirektion, wird, wie schon anklang, ab einer bestimmten, noch aufzuzeigenden Entwicklungsstufe auch als »Maestro concertatore« bezeichnet. Das erklärt sich aus dem italienischen Wort »concertare«: »einstimmen«, »probieren«, »proben« der Sänger und des Chores. Solange der Gattungstyp der Oper Secco-Rezitative vorsah, am längsten in der Opera buffa, gab es außerdem einen weiteren Cembalisten zur Verstärkung des ersten, der sich ausschließlich um die Sängerbegleitung während der Vorstellung kümmerte. Eine Gegenüberstellung der Besetzungslisten in den Libretti des Zeitraums von 1798 bis 181512 am Teatro alla Scala in Mailand zeigt das plötzliche Verschwinden des zweiten Cembalisten ab dem Jahr 1803.13 Vincenzo Lavigna war in diesem Jahr 27-jährig zum alleinigen »Maestro al Cembalo« ernannt worden und verblieb in dieser Anstellung bis in das Jahr 1832 als enger Mitarbeiter der wichtigsten musikalischen Repräsentanten dieser Zeitspanne: Rossini, Bellini, Donizetti und Mercadante. Auf dem Programm stand seine erste Opera buffa La muta per amore, ossia il medico per forza als letzter Titel der Stagione di Primavera, jener Saison, die vorzugsweise dem komischen Genre und debütierenden Komponisten gewidmet war.14

1802 war auch der von Spohr beobachtete Alessandro Rolla, auf der Libretto-Seite als »Capo d’orchestra« angegeben, an die Scala berufen worden. Die Doppeldirektion barg sicherlich Konfliktstoff, aber die beiden in diesem Dokument genannten Meister stehen insoweit für eine harmonische Zusammenarbeit miteinander im Theaterorchester, als sie am 3. Juni 1804 als gemeinsame Autoren einer Ballettmusik für die Kantate Teseo von Vincenzo Federici fungierten. Dass sich auch Probleme in der Beziehung zwischen den beiden Ämtern hätten ergeben können, erhellt aus den divergierenden Gehältern: Lavigna kam auf 1.600 Lire di Milano, wie aus seinem erhaltenen Kontrakt aus dem Jahr 1807 in der Biblioteca Trivulziana15 ersichtlich ist, der Position Rollas wurde dagegen eine Summe von ungefähr 7.000 Lire di Milano zugebilligt. Rolla unterstützte Lavigna aber als Kompensation für die Ungleichheit der Bezahlung: Als der junge Verdi sich nach seiner Ablehnung am Mailänder Konservatorium an Rolla wandte, lautete dessen Empfehlung: »Non pensate più al conservatorio: scegliete un maestro in città; io vi consiglio o Lavigna o Negri.«16 Verdis Wertschätzung der Unterrichtsmethoden Lavignas ist uns heute durch die biografische Literatur hinreichend bekannt. Ein weiterer Schüler Lavignas war Giacomo Panizza, der seinem Lehrer im Amt des »Maestro al Cembalo« von 1833 bis 1848 an das Teatro alla Scala folgte und dort ebenfalls komponierte: zwei Opern und mehr als ein Dutzend Ballette. Auch Rolla konnte seine Stellung »vererben«: Von 1833 bis 1855 wurde sein Lehrling Eugenio Cavallini am selben Haus sein Nachfolger. Cavallini wird eine bedeutende Rolle bei der Morphose vom Violindirektor zum Dirigenten übernehmen.17

Maestro al Cembalo

Obwohl der »Maestro al Cembalo« nach der Abschaffung der Secco-Rezitative seine eigentliche Funktion als Mitwirkender bei der Aufführung eingebüßt hatte, blieb er weiterhin aufgefordert, an den Aufführungen teilzunehmen. Sein Instrument, das Clavicembalo18, war in vierfacher Hinsicht von Bedeutung: Es half, die tonartlich-harmonische Situation, in der sich das aufzuführende Werk gerade befand, zu festigen und das Tempo zu halten. Es gab allen Beteiligten hörbare Impulse, auf welcher Zählzeit man sich befand, und war in der Lage, den Sängern im Bedarfsfalle die entsprechenden Tonhöhen zu übermitteln. Eine Notiz aus der Allgemeinen musikalischen Zeitung vom 5. Februar 1840 bezieht sich auf Giacomo Panizza und gibt Auskunft über weitere Belange des »Maestro al Cembalo«. Besprochen wird die Uraufführung von Verdis Erstling Oberto conte di San Bonifazio am 17. November 1839 an der Mailänder Scala:

Herr Panizza ist seit mehreren Jahren in der Scala als eine Art Kapellmeister angestellt, d.h. er studirt die ältern Opern mit den Sängern ein: bei welcher Gelegenheit er gar oft nach Bedürffnis die Stücke beschneidet, verlängert und mannichfaltig zustutzt. Sein offizieller Titel ist: Maestro al Cembalo: er hat seinen Sitz, wie der Kapellmeister in Teutschland, am Klavier im Orchester, das er aber nicht wie jener durch Taktgeben leitet, sondern sein ganzes Geschäft besteht darin, jedesmal das Blatt der Partitur, sobald deren untere Zeile vom Kontrabassisten und Violoncellisten, die ihm je einer zur Seite sich befinden, abgespielt ist, umzuwenden. Da nun zu dieser Funktion kaum einiges Notenlesen genügt, so hat auch der Maestro al Cembalo meistens seinen Substituten, und sitzt höchstens nur in den ersten drei Vorstellungen am Klavier.19

Aus der Beschreibung wird deutlich, dass die eigentliche Funktion verlorengegangen ist, das Arrangement aber nach der Tradition beibehalten wird: Cellist und Kontrabassist sitzen zur Rechten und Linken des »Maestro al Cembalo«, der zum Notenumblätterer degradiert ist.20 Oder war es doch mehr, was von ihm erwartet werden durfte? Aus einem Brief Donizettis zur Orchesterdisposition am Teatro alla Scala der 1830er-Jahre gehen Aktivitäten des »Maestro al Cembalo« hervor, die, zumindest wenn es sich um den Komponisten handelte, weit über das Notenumwenden hinausgehen konnten:

Il principale quartetto dell’Orchestra essendo nel centro riunito può a sua volta condurre il resto degli strumenti, ed il Compositore che si trova nel mezzo di questo, ed accanto al primo violino ha (qualora il voglia) il vantaggio di dare al Principale e colla voce e col gesto, l’indicazione de’ tempi che desidera.21

Das Führungsquartett des Orchesters im Zentrum kann aus eigener Initiative den Rest der Instrumentalisten leiten, und der Komponist, der sich in der Mitte dessen [des Quartetts] und neben dem »Primo Violino« befindet, hat (soweit er es wünscht) die bevorzugte Möglichkeit, dem Prinzipal durch Stimme und Geste seine Tempovorstellungen zu übermitteln.

Auf das »mannichfaltige Zustutzen« treffen wir auch in dem von Vincenzo Lavigna unterzeichneten Vertrag von 1807, erneuert 1812:

Assistere a tutte le prove [...] al cembalo [...] tanto alla Scala quanto alla Canobbiana […] aggiustare e puntare tutti li spartiti vecchi per adattarli ai nuovi cantanti, con la paga di 100 lire di Milano; inoltre scrivere opere a richiesta della direzione teatrale, con paga separata di 1500 lire per un’opera seria e di 1050 lire per una comica.22

Allen Proben am Cembalo beiwohnen, an der Scala wie an der Canobbiana, Einrichten und Kürzen der bereits gespielten Partituren, um sie den Bedürfnissen der neu engagierten Sänger anzupassen, mit einem Gehalt von 100 Lire di Milano; außerdem auf Anfrage der Theaterdirektion Opern schreiben, mit einer Separatbezahlung von 1.500 Lire für eine Seria und 1.050 für eine komische Oper.

Immerhin stellte das Komponieren eigener Werke eine erhebliche Gehaltsaufbesserung dar, besonders wenn es sich um eine Opera buffa handelte. Von der mehr oder weniger inaktiven Beteiligung an den Aufführungen, wie vom deutschen Berichterstatter beschrieben, ist nicht die Rede. Die Praxis des Einhelfens bei Fehlern der Sänger während der Vorstellung – Töne, Harmonie, Tempo, an der Tastatur oder mit den Füßen stampfend – bedurfte keiner Erwähnung. Die Konzentration auf den vokalen Bereich war Voraussetzung. Dass man vom »Maestro al Cembalo« allerdings erwartete, nicht nur neue Opern zum Repertoire beizusteuern, sondern in der Hauptsache intensive Proben- und Einrichtungstätigkeiten auszuüben, lässt erste Schritte der Abkehr von der Tradition des 18. Jahrhunderts erkennen, innerhalb derer immer und in jedem Fall von einer Personalunion »Dirigent und Komponist« auszugehen war. Jetzt stand das Organisatorische im Vordergrund, das Komponieren rückte auf die zweite Stelle. Lavigna hat dennoch vertragsgemäß eine imposante Reihe musikalischer Bühnenwerke produziert.23 Die Verbindung von Opernkomponist und »Maestro al Cembalo« hat prinzipielle Bedeutung, die in diesen Betrachtungen noch eine Rolle spielen wird.

Beispiel: Abb 1: Teatro alla Pergola 1839. Luigi Savi, Komponist von fünf Opern, von denen zwei in Florenz aufgeführt wurden, firmiert hier als »Maestro e Direttore dell’Opere«. Abb 2: Pietro Romani 1842 am Teatro della Pergola in derselben Funktion, Vincenzo Gabussi als »Direttore della musica«, auch er Komponist einer Oper Ernani, bevor Verdi den Stoff vertonte.24

Die Bezeichnung »Maestro al Cembalo« findet sich vorzugsweise an großen Theatern wie La Fenice in Venedig oder La Pergola in Florenz. Sie hatte sich dann vollständig von ihrer ursprünglichen Bedeutung als Hinweis auf den Begleiter der Secco-Rezitative gelöst, als Giacomo Panizza – oben als Schüler Lavignas erwähnt – den Titel in der Stagione 1845/46 bei der Einstudierung von Rossinis Otello, einem Werk mit Accompagnato-Rezitativen, führte. Das Tasteninstrument war zu diesem Zeitpunkt nicht nur aus stilistischen Gründen, sondern schon allein wegen der stetig wachsenden Anzahl der Orchestermusiker, die keiner Verstärkung mehr bedurften, obsolet geworden.

Eine repräsentative Auswahl von Libretti (auf den entsprechenden Seiten mit Nummern versehen) aus der ersten Jahrhunderthälfte zeigt, wie abhängig vom Ort und anderen Gegebenheiten die jeweilige Titulierung der Cembalofunktion ausfallen konnte.

Das Teatro Regio in Turin gibt den entsprechenden Musiker 1847/48 als »Maestro concertatore delle Opere« an (Abb. 3), und ähnlich verhält es sich in Padua 1842: »Maestro alle ripetizioni« (Abb. 4). In einigen Fällen wird an der Bezeichnung deutlich, dass derselbe Musiker nicht nur für die Einstudierung der Solisten, sondern auch des Chores zuständig war. Man vergleiche die Besetzungsangaben des Teatro La Fenice von 1830 (Abb. 5), von Triest 1824 mit Pacinis Temistocle (Abb. 6) und von Ravenna, Teatro Comunale, in der Karneval-Stagione 1835 mit Bellinis Sonnambula (Abb. 7). In allen drei Fällen lautet dort die Bezeichnung: »Maestro al Cembalo e Direttore dei Cori«. Demgegenüber lässt sich an der Scala bereits 1802 ein eigener Chordirektor nachweisen (Abb. 8; Abb. 9 und 10). Hier ist außer den »Maestri al Cembalo« Ambrogio Minoja und Agostino Quaglia noch Gaetano Terraneo als »Direttore del coro« aufgeführt. Aus diesem Libretto-Blatt A (Zingarellis Meleagro an der Scala, Carnevale 1798) wird die Besonderheit deutlich, von der schon die Rede war. Es heißt hier für Minoja und Quaglia ausdrücklich: »Alli Cembali«. Es waren also zwei Cembali an der Aufführung beteiligt, und bereits 1803, als ein starker Personalwechsel an der Scala eintritt, wird, wie erwähnt, diese Musizierpraxis unter Lavigna und Rolla aufgegeben (Abb. 9 und 10).25 Dass im 18. Jahrhundert an Opern vielfach, wenn an größeren Häusern nicht gar regelmäßig, zwei Cembali beteiligt waren, erweist sich an den ikonografischen Quellen. Beispiele: Dresden und Turin.

Gegenübergestellt seien zur doppelten Cembalo-Besetzung noch die Abbildungen 14 und 15: zwei Besetzungslisten aus dem Teatro alla Pergola in Florenz, von 1813 bzw. 1821. In beiden Fällen heißt es hier: »Maestro al primo Cimbalo«, woraus sich zwangsläufig die Existenz eines zweiten Cembalos ergibt. Doch bleibt fraglich, ob die Bezeichnung ohne Weiteres Rückschlüsse auf eine künstlerische Beteiligung zulässt, denn gewisse Titel hielten sich, wie bereits angedeutet, noch weit über die Zeit ihrer Wirksamkeit hinaus, wenn die ursprüngliche Funktion längst erloschen war.26

Die Abbildung 16, zeigt: Bei der Aufführung von Donizettis Anna Bolena 1835 am Mailänder Teatro La Canobbiana, der etwas kleineren Schwester der Scala, sind noch zwei »Maestri al Cembalo« (Giacomo Panizza und Giovanni Bajetti) angegeben, obwohl bei dieser Oper nicht einmal die aktive Mitwirkung eines einzigen Cembalisten obligatorisch wäre. Es ergeben sich folgende Erklärungsmöglichkeiten: Im 18. Jahrhundert nutzten die Maestri zwei Cembali als Klangverstärker entlang der weit voneinander entfernt sitzenden Musikerreihen und für die an verschiedenen Stellen der Bühne agierenden Sänger für die Rezitative.27 War der Komponist, wie es die Regel vorsah, vertraglich zur repräsentativen Mitwirkung an den ersten drei Abenden der Uraufführung verpflichtet, begab sich der Kapellmeister des Hauses an das zweite Cembalo, genannt: »clavicembalo d’accompagnamento«, links außen postiert, um von dort aus alle notwendigen Stützfunktionen zu gewährleisten und/oder den Continuo-Part zu spielen. In diesem Fall führte der Komponist als »Maestro al primo cembalo« auch die Sänger in den Rezitativen, während die Continuo-Gruppe um den »Maestro al secondo cembalo« das Ripieno des Orchesters vervollständigte. Dem Aufstellungsplan des Turiner Theaters (Abb. 11) ist zu entnehmen, dass die Cembali in Italien an beiden Enden des Orchesterrechtecks postiert waren, in Dresden hingegen, wie bereits in Quantz’ Versuch28 gefordert und in Deutschland als vorbildhaft geltend, so, dass der Cembalist am ersten Instrument Sichtkontakt mit den Sängern hatte. Giuseppe Scaramelli betont allerdings, wie unnütz das zweite Instrument in der italienischen Aufstellung »in coda ai violini« aufgehoben sei. Die Theater hätten sich dessen entledigt, als damit begonnen worden sei, ein einziges Cembalo in der Mitte (das des »Maître de chapelle« nach französischem Muster) zu platzieren.29 Das Ende des Generalbasszeitalters hat letztlich auch der Aufführungspraxis mit zwei Cembali ein Ende gesetzt. Sicherlich kann von keinem exakten Zeitpunkt ausgegangen werden – der Wechsel an der Scala im Jahr 1802 bezeichnet ja nur den äußersten Punkt einer Entwicklung. Außerdem differieren die Aufstellungsmodi je nach Stadt und Theater erheblich. Als Orientierung für die Eliminierung des zweiten Cembalos darf aber in etwa die Wende zum 19. Jahrhundert gelten. Der Sitzplan der Opernorchester von Dresden und Turin von 1791 (Abb. 13) verzeichnet in jedem Fall noch zwei Cembali.30

Neben dem Hauptbegriff des »Maestro al Cembalo« existieren noch verschiedene andere Bezeichnungen im italienischen Sprachgebrauch. Für den »Maestro di cappella« schienen neben künstlerischen vor allem organisatorische Pflichten vorgesehen. Er musste »un particolare talento come compositore« (s.o.) besitzen, um Partituren auswählen, kürzen und korrigieren zu können. Er hatte den Komponisten zu vertreten, wenn dieser während der ersten drei Vorstellungen verhindert war, und durfte sich im Anschluss an diese Abende von einem anderen Hauspianisten ersetzen lassen. Der Titel »Maestro di cappella«, entstanden im kirchlichen und höfischen Rahmen, war etwa gleichbedeutend mit »Direttore della musica«, aber unterschieden vom »Maestro direttore delle opere«, einem in der Hierarchie tiefer stehenden Funktionsträger, dem vom »Maestro di cappella« die eigens präparierten Sänger und der Chor zur abendlichen Führung anvertraut wurden. Der »Maestro del coro« unterstand dem »Maestro di cappella«, falls dieser sich nicht selbst für diese Aufgabe einteilte. Verträge sahen vor, dass ein »Direttore della musica« auch selbst komponiere, wie im Fall von Lavigna gezeigt, und er war dem »Primo Violino Capo d’orchestra« insoweit übergeordnet, als ihm allein die komplette Auslegung, wie die Gesangsstimmen zu führen seien, oblag. Zu diesem Zweck sollte er nicht nur die Partien am Cembalo oder Pianoforte einstudieren, sondern auch Stimmproben mit den ersten Pulten des Orchesters abhalten und die Gesamtproben in seinem Sinn überwachen. Solange der Opernkomponist als »Maestro di cappella« auch seine Funktion als »Maestro al Cembalo« wahrnahm, ist seine Vormacht gegenüber dem »Primo Violino« eine Selbstverständlichkeit. Diese Situation ändert sich zunehmend mit dem beschriebenen Stilwandel, als nämlich das Secco-Rezitativ aufgegeben war und das Accompagnato durchgehend Verwendung fand. Der Verzicht auf das Secco-Rezitativ begegnet in den ab 1811 in Neapel uraufgeführten Opere serie erstmals bei Rossini 1815 in Elisabetta, regina d’Inghilterra, also seiner ersten daselbst geschriebenen Oper. In der Opera buffa liegt dieser Zeitpunkt sehr viel später: Selbst in Verdis Buffa Un giorno di regno (1840) kommen noch Secco-Rezitative vor.

Die ursprüngliche Gewichtung – zuerst der Komponist am Cembalo, dann der Violinist – geriet »offiziell« allerdings nie ins Wanken, nicht einmal, was die Dominanz des »Direttore della musica« über die Einsatzbewegungen des Primgeigers betraf, ganz gleich, wohin sich die fortschreitende Abänderung der Titel im italienischen Raum bis zur Jahrhundertmitte entwickelte – nämlich vom »Maestro al Cembalo« zum »Maestro Direttore della musica«, vom »Maestro di cappella« und »Maestro Direttore delle opere« schließlich zur ausschließlichen Verwendung des Begriffs »Maestro concertatore«.31

32Cenni sulle aziende teatrali33