SERUM

DES

GEHORSAMS

 

 

 

© Copyright Erben Hanns Kneifel

© Copyright 2016 der eBook-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf, Petershagen

 

www.verlag-peter-hopf.de

 

 

Cover: © chispas – Fotolia.com

 

ISBN ePub 978-3-86305-230-0

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

 

 

 

HANNS KNEIFEL

Serum des Gehorsams

 

Science-Fiction-Roman

 

 

Serum des Gehorsams, zuerst als 4. Roman des Verfassers 1967 für den AWA-Verlag, München, geplant und geschrieben, gekürzt bei Moewig veröffentlicht, wenig bearbeitet abermals 1979 bei Moewig (Terra Astra) und 1995 bei Schneekluth erschienen, für die vorliegende eBook-Ausgabe gründlich über- und bearbeitet, gewissenhaft angereichert und neu eingerichtet, mit ehrlich-nostalgischer Anhänglichkeit an den Urtext erweitert.

 

 

 

1. Kapitel

 

Aus: Baron Achill Hylobatos jr., Prof. Yves-Alain Khalil-Mandjaossi und Capitána Sonaidia Sharçais: A.L.A.R. – Atlas, Lexikon und Astronomischer Ratgeber zu allen bewohnten, bewohnbaren und unwirtlichen Welten sowie deren Muttergestirnen. Verlag DIE GALAXIS, Terra/Mars © 3085, IXX. Auflage; verschiedene Datenspeicher-Versionen. Band I. (»Aalmayster – Baarbeanth«)

 

»... war es ein ausgesprochener Glücksfall, als Commander Thorlayfson Cassade den Planeten und, dank der KI seiner Ausrüstung, die Stabile Galaktische Schnittstelle entdeckte. Ihr Vorhandensein – die SGS ist bis heute ein kosmisches Rätsel – verleiht der erdgleichen Welt Arcadia besondere Bedeutung als Auswandererplanet. Cassade nannte seinen Fund (zwei Monde, Atrax und Dryadh) ursprünglich Amazoyne; feministisch geprägte Frauenrechtlerinnen der ersten Einwandererwelle durch die SGS setzten die Namensänderung durch. Wie Kaptayn Noc Physs in Machenschaften des Verstandes, Halcon-Verlag, Minster, Kasmin IV, MCMLXIV, treffend zitiert, wird ein erdgleicher Planet kurz nach der ersten Siedlerphase zu einer Art Landkarte sämtlicher Mythen, Legenden, Epopöen der guten alten Erde: alle Begriffe, von Asenameise bis Zephyrkentaur finden sich rasch ein. Die ausgedehnte Flusslandschaft, kleiner, aber ebenso bedeutungsvoll für Arkadias Wettermaschine wie Amazonien für Terra., heißt Lotos-und-Zedern-Grove. Unter den ersten, die im Dschungel Häuser bauten und in idyllischer Umgebung zu leben versuchten, war Space-Kaptayn Vaugh Xenakis Gray, berühmt durch den geglückten Versuch, bestimmte Gebiete der Venus, (s.d.) endgültig zu terraformen; sein rätselhaftes Verschwinden beschäftigt noch heute die Massenmedien ...«

 

Das melodische Sägen der Zimbalzikade riss ganz plötzlich ab. Der Körper des Neoparden streckte sich, drehte sich im Sprung, und ein blitzschneller Prankenhieb tötete den Goldhasen. Das Raubtier grunzte und begann die Beute zu zerreißen. Zwei Regenbogenreiher, vom Geruch frischen Blutes angelockt, kreisten über der Lichtung. Wieder setzte die Zikade mit ihrem Diskantgesang ein, jenseits der Kontrapunktik.

Peter Purcell Gray schloss die Augen und sog an seiner Zigarette; an diesem Nachmittag stimmte die Harmonie des Dschungels nicht. Es war, als flüstere die Natur Halbtöne und Dissonanzen. Der Wald wucherte nicht nur dem Licht entgegen, sondern nach allen Seiten. Tödlich verstrickt, voller fahler Dornen, griffen Luftwurzeln nach unten und rissen die Oberfläche eines stillströmenden Baches mit schwarzem Wasser auf. Bäche wanden sich durch stinkende Zonen des Waldes. Das Gebiet lag abseits aller Gleiterpisten oder Flugkorridore; die Einsamkeit rund um Chateau Gray schien vollkommen. Riesenschmetterlinge mit metallisch leuchtenden Flügeln, optisch melodiöse Megamorphos, gaukelten in wirren Kreisen durch dunkle Höhlungen der Gewächse, die von der überreich wuchernden Vegetation übriggelassen worden waren. Über den Lücken zwischen Riesenbäumen und den wenigen Lichtungen wölbte sich ein dunkel stahlblauer Himmel ohne eine einzige Wolke, beherrscht vom Glanz des gelben Hauptreihensterns Olympia Magna. Antriebslos glitt das Motorboot den Fluss abwärts; im braungefärbten Wasser des Dragons-Grove-River driftete es unter den weit überhängenden Ästen der Uferbäume hinaus und bog in einen breiten Kanal ein. Strömungslinien und einzelne Blätter, zwischen denen Wasserkäfer umherzuckten, bildeten optische Harmonien.

Der Insasse des Bootes, ein weißhäutiger, tief sonnengebräunter Mann, trug lange Hosen, halbhohe Lederstiefel und ein Safarihemd mit vielen ausgebeulten Taschen. Er hielt ein Lee-Enfield-Gewehr Kaliber .303 auf den Knien, schnippte den Zigarettenrest ins Wasser und schob die Sonnenbrille hoch; er wartete auf die nächste Bewegung des Neoparden. Seit vier Stunden verfolgte Peter P. Gray das Raubtier. Ganz plötzlich verwandelte sich seine halb erwartungsvolle, halb betrachtende Haltung in scharf konzentrierte Aufmerksamkeit; er sah die Spur winziger Luftblasen vor dem Bug des Bootes im undurchsichtigen Wasser. Ein Kitharakaiman platschte von einer Sandbank in den Fluss.

Nach einigen Atemzügen lag der Dschungel in der trägen Ruhe des frühen Nachmittags. Der braune Würgfalke schrie viermal und fügte den letzten Baustein in die Harmonie.

Ruhe. Bewegungslosigkeit. Ein langer Takt der Stille. Die blasige Schaumspur wurde lebhafter, verschwand für einige Atemzüge, bog langsam dem Ufer zu. Wieder sah Peter Gray den Neoparden, den die Orchideenjäger el tigre nannten; ein geschmeidiges Tier, das sich in lautloser Harmonie bewegte. Peter hob das Gewehr und schaltete auf den Geschosslauf um. Der Neopard sicherte, schien in Peters Richtung zu blicken, dann war er aus dem Dickicht herausgeglitten und machte einen Satz, der ihn bis zum Ufer trug. Er verharrte auf einem modernden Baumstamm, der quer über dem Gewässer lag und vom Gewusel einiger Tausend Blattschneiderameisen bedeckt war; es sah aus, als kröchen lauter grünliche Lateinersegel über die schorfige Rinde. Der Neopard senkte den Kopf, starrte auf die Blasenspur – wie ein Pfeil, von der Bogensehne geschnellt, sprang er ins Wasser. Einige Sekunden lang brodelte, kochte und schäumte das Wasser dicht vor Peter Gray. Er drehte das Ruder und glitt näher an den blasigen Schlammwirbel heran. Dann sah er die beiden Körper. Das Tier zog etwas hinter sich her, den Körper eines Mannes in einem dunkelgrünen Taucheranzug. Die Hülle aus Kunststoffgewebe war zerfetzt, im Wasser kräuselte sich eine Blutspur. Peter verfolgte mit den Tageslinsen des Zielfernrohrs auf dem Gewehrlauf die Bewegungen des Raubtiers, hinauf zum Sandufer, wo der Neopard seine Beute fallenließ und fauchte.

»Ein Taucher in dieser orffverlassenen Gegend?« Peter zielte, krümmte den Finger; der Schuss löste sich und peitschte neben dem Körper des zuckenden Tauchers in den aufstiebenden Sand. Der Neopard sprang zur Seite, stemmte die Pranken ein und starrte über vierzig, fünfzig Meter hinweg in Peters Augen. Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und schrie heiser. Peter repetierte und zögerte: er erwartete einen gewaltigen Satz, mit dem das Tier wieder zwischen den Büschen verschwinden würde. Der Taucher zuckte noch einmal und lag still da; der Sand tränkte sich mit Blut, das im Sonnenlicht wie schartiger Rost aussah. Peter senkte, verwundert, den langen Lauf der archaischen Waffe.

»Ich hab Sehstörungen.« Er erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. »Das ist ein Tag voller optischer und akustischer Dissonanzen!« Reglos sah er zu, wie kaum fassbare Dinge geschahen: der Neopard veränderte die Farbe seines triefenden Fells. Zunächst glättete sich das goldschwarz gesprenkelte Gekräusel, nahm rötliche Färbung an, auf dem Kopf erschien wie eine enganliegende Kappe graues Haar, der Körper streckte und dehnte sich, veränderte sich binnen langer Atemzüge und begann humanoid zu werden, erschreckend menschlich: Peters Erschrecken wuchs in den folgenden Minuten. Als er begriff, was er sah, welcher Verwandlung er zusah, fühlte er eisige Kälte zwischen den Schulterblättern. Nach etwa zwei, drei Minuten richtete sich auf der blutgetränkten, sichelförmigen Sandfläche neben dem Körper des Toten ein muskelstarrender Schwarzer auf: Peters Freund, Gefährte seines verschwundenen Vaters, Mayordom von Chateau Gray.

»Kaalin!«

Peter röchelte fast; ihn hatte eisiger Schrecken gepackt, und er vergaß schlagartig sämtliche Töne, Klangmuster, Rhythmen und jede Musik des Dschungels. Er vermochte noch nicht zu glauben, was er im grellen Licht gesehen hatte. Die Waffe schlug schwer ins Boot. Peters Verstand weigerte sich noch immer, nachzuvollziehen, was die Konsequenz dieses Geschehens bedeutete. Er war Zeuge eines schier unfassbaren Vorganges gewesen. Kaalin richtete sich auf, breitete die halb erhobenen Arme aus, und seine Blicke bohrten sich in Peters Augen: lange Blicke voll Erwartung, skeptischer Angespanntheit und aufmerksamen Zögerns Aufmerksamkeit trafen den Jüngeren. Mit einer befehlenden Geste bedeutete ihm Kaalin, die Waffe nicht mehr anzurühren. Seine Stimme schnitt durch die zitternde Halbruhe des Dschungels wie ein Laserstrahl.

»Du hast nicht geträumt. Ich hab mich verwandelt. Ich bin tatsächlich Kaalin!«

»Du hast einen Mann getötet!« Peters Stimme war voll ratloser Wut und Unsicherheit.

»Einen von vielen, Peter.«

Die Antwort traf ihn wie ein Blitz; er rang schweigend um Einsicht. Kaalin winkte, Peters Finger zitterten; er löste sie vom Riemen der Waffe. Kaalin grinste kalt und rief:

»Komm zu mir, Peter. Schalte den Motor ein.« Peter löste sich mit Mühe aus seiner Starre. Mit breiter, schäumender Bugwelle und wirbelndem Heckwasser schoss das Boot quer über den Fluss und schrammte ein Stück weit über den Sand. Der Motor schaltete sich aus. Peter sprang über die Bordwand und ging langsam zu Kaalin. Er wischte über sein ölglänzendes, sonnenverbranntes Gesicht und fühlte in seinen kraftvollen Schultern ein seltsames Ziehen, als ob die Adern sich verengten wie dünne Notenlinien. Er blieb stehen und starrte die beiden Männer an, den lebenden und den toten.

»Ich erkläre dir alles, wenn wir im Chateau Gray sind.« Kaalin kniff die Augen zusammen und sprach leise weiter. »Sieh genau hin!«

Er beugte sich nieder und riss den Ärmel des Taucheranzugs auf. In der Beuge des rechten Ellenbogengelenks war ein kleines, aber auffälliges Mal eintätowiert; ein winziger Schmetterling mit schwarzen Flügeln. Kaalin deutete auf den Rückenteil des Anzugs. Dort war unter einer wasserfesten Verkleidung ein Konglomerat von Zylinderabschnitten und rechteckigen Schachteln zu sehen, als Kaalin die Säume auseinander riss; eine Sprengladung mit Uhrenzünder, Funkempfänger und dick isolierten Drähten; ein ebenso archaisches Relikt wie Peters Gewehr. Kaalin stellte die Uhr ein, packte den Toten am Gürtel und schleuderte ihn mit einem erschreckend kräftigen Schwung ins hoch aufklatschende Wasser. Peter ging neben Kaalin schweigend zum Boot und schob den Karbonfiberrumpf ins Wasser; ebenso schweigend fuhren beide Männer zum Haus, und Peter zuckte zusammen, als Minuten später eine schmetternde Detonation die Luft beben ließ, Vogelschwärme aufscheuchte, den verbliebenen Rest frühabendlicher Harmonie vernichtete und ihm auf gewalttätige Weise zu sagen schien, dass sich Takt und Tonart seines bisherigen Lebens verändert hatten. Er blickte in Kaalins große, schwarze Augen; ihm war, als habe er unbewusst auf dieses Erlebnis oder eine ähnliche Schrecklichkeit gewartet.

 

Auch Peter P. Gray sah die Hausfront erst, als das Boot rund zwei Dutzend Meter vom Anlegesteg entfernt war. Derselbe Designer-Architekt, der die Zirkum-Venus-Station entworfen hatte, war halbwegs über sich hinausgewachsen und hatte Chateau Gray fast in der Natur versteckt, mitsamt dem Wasserfall, der über den würfelförmigen Seitenanbau rieselte und über den dachartigen Vorsprung des Terrassenüberhangs, über Pflanzen, Sand und vielfarbiges Gestein bis hinunter zu den Überschwemmungsmarken des Wassers rann. Flusswasser wurde auch in der großen Wohnhalle durch einen Glaskasten geleitet, in dem Dutzende Fische – bizarre, lautlose Fauna der Umgebung – zwischen Steinen, Lianen und Wurzeln um die Sauerstoffbläschen herumschwammen. Vor den Männern rollte die schwere Metalltür zurück; Kaalin ging ins Bad. Peter setzte sich auf die Armlehne eines Sessels und starrte auf die seeartige Verbreiterung des Flusses hinaus, bemühte sich, seine Empfindungen und Gedanken zu ordnen. Auf der anderen Seite wucherte der Dschungel an die verglasten Hausmauern heran. Das Haus, scheinbar für die Ewigkeit errichtet, war nicht größer als neunzig mal sechzig terranische Meter, eineinhalbstöckig, von einem Eternity-II-Meiler betrieben, der alle Geräte und Beleuchtungskörper betrieb, Peters Studio und etliche verschwiegene Einrichtungen des Kellers. Im Inneren war die Stille absolut und in diesem Moment drückend.

Seit mehr als zwanzig Jahren, seit dem Verschwinden und Tod von Vaugh Xenakis Gray, lebten Kaalin und Peter allein; nach weiten, langen, erschöpfenden Reisen, die seinen Namen in der Galaxis bekannt machten, zog sich Peter hierher zurück. Der Wohnraum war seit Vaugh Grays Tod kaum verändert worden; in einem Wandschrank stand eine Reihe Gewehre aus den besten terranischen Werkstätten neben anderen Waffen; Munitionsschachteln und Energiemagazine lagen auf Wandbrettern. Peter stellte die Büchse ab, ging ins Bad und duschte lange heiß und kalt; ein summender Wirbel kühler Luft trocknete ihn. Er zog eine Leinenhose an und warf einen Kimono über, noch immer tief in Gedanken versunken. Er durchquerte die Halle, setzte sich im Studio vor das schneeweiße Cembalo und ließ die Arme sinken; er gestand sich ein, völlig verwirrt zu sein. Er zündete eine Zigarette an und wartete. Kaalin kam herein, stellte Gläser voll eisgekühltem Erfrischungstee auf den Tisch. Das alte Gesicht des Venusiers wirkte wie eine Steinmaske. Nach einer Weile sagte Peter:

»Du hast nicht etwa das Bedürfnis, mir zu erklären, was heut Nachmittag dort draußen passiert ist? Ich glaub noch immer, dass ich einen Albtraum erlebe.«

»Das ist nicht in einem Satz zu sagen.« Kaalin starrte auf die Seeoberfläche, über die erste Abendschatten fielen. »Du musst Geduld haben und mir Zeit lassen.« Peter riss an der stählernen Tischplatte ein Streichholz an. Die Flamme ließ im Halbdunkel seine Züge scharf hervortreten. Kaalin blickte ihn an und begann schließlich leise zu sprechen.

»Bisher hast du dich für viele Dinge nicht sonderlich interessiert, die für andere von Wichtigkeit sind. Du verachtest jeden, der nicht einen derart flexiblen Verstand besitzt, so wie du.«

»Daran ist etwas Wahres.« Peter grinste und streifte die Asche in die petrifizierte Schädeldecke eines marsianischen Polwolfs. »Ich bin dreißig Jahre alt und weiß noch immer nicht wirklich, wie mein Vater war, was er tat, und wie er starb. Hältst du es nicht an der Zeit, mir die Wahrheit zu erzählen?« Kaalin deutete auf die riesige Zerrzeder am gegenüberliegenden Flussufer.

»Wenn man dich zwingt, deinen Verstand zu benutzen – was nicht häufig ist –, vollbringst du Ungewöhnliches. Deine Musik, sagen sie, hat eine neue musikalische Epoche eingeleitet. Wir haben Vaugh Gray unter der Zeder begraben, nicht wahr?« Peter nickte und drehte die versteinerte Knochenschale; auch eine Erinnerung an seinen Vater. »Seit dem Tag, an dem wir Vaugh begruben, wurden auf uns genau dreißig Anschläge unternommen. Es ist schon fast ein Wunder, dass du davon nichts gemerkt hast.«

Peter schwieg und starrte Kaalin fassungslos an. »Deine Naivitätskonstante scheint hoch zu sein. Oder du wolltest nichts merken.« Kaalin ließ die Eiswürfel im Glas klirren. »Ein Agent kam im Gleiter, der andere schwamm durch den Strom, ein anderer wollte uns mit Gas töten. Meine Wachsamkeit hat bisher verhindert, dass uns eines der Attentate ernstlich schadete.«

»Aber warum ... die Vorgeschichte ... « Abenddämmerung fiel über den Dschungel, das Thermoglas verwandelte sich in einen rauchfarbenen Spiegel. Peter schien sein eigenes Abbild zu studieren; er sah die Falte über den Mundwinkeln, die er als ironisch definierte, die dunkelblauen Augen über der leicht gekrümmten Nase, und er erkannte, dass sich Faszinierendes und Abstoßendes in seinem Gesicht mischten: seit Kaalins ersten Worten bröckelte sein Selbstverständnis ab.

»Weder deine Art zu leben noch die deines Vaters ist und war die anderer Menschen, nicht einmal hier auf Arcadia.« Kaalin hob die Schultern. »Vaugh hat das Venusprojekt zu Ende gebracht und gilt als Held der Galaxis. Zu Recht. Später werden Vaughs und meine Freunde dir alles ganz genau berichten. Dein Vater war ein großer Mann, und er starb in einem Kampf, der vielen Agenten das Leben kostete – zuletzt auch ihn. Seine letzten Worte waren: Erziehe Peter für die Fortsetzung des Kampfes! Ich versprach’s ihm und hielt Wort.«

»Kampf? Welcher Kampf?«

»Du hast bewiesen, dass du kämpfen kannst.« Kaalin bedeutete ihm, ihn nicht zu unterbrechen. »Du hast mit deiner Musik einen Kampf des Geistes, des Verstandes geliefert. Der Mordversuch heute war für mich das letzte Signal. Im Lauf des nächsten Jahres werden wir einen Kampf zu führen haben, dessen Härte unvorstellbar ist. Es geht um die Erde. Ihre Freiheit steht auf dem Spiel.« »Die Erde? Die Freiheit?«

»Nicht weniger, Peter. Ich weiß, dass du die Filmmusik fast fertig hast; wir müssen nach Terra. Niemand erwartet, dass du alles gleich verstehen kannst. In den nächsten Wochen wird man dir alles zeigen, was du brauchst, um die ungewöhnlich komplizierte Geschichte zu verstehen. Die Gründe liegen weit in der Vergangenheit.«

»Die Musik ist fertig. Noten und Bänder liegen im Studio.«

Peter stand auf und grinste verstört; jetzt war er sicher, in einem wüsten Traum gegen unsichtbare Mauern zu rennen.

»Ich kenn dich seit mehr als zwanzig Arcadia-Jahren. Deine Verwandlung ...?«

»Ich bin ein Venusier der letzten Generation. Wir existieren sozusagen nur in verschwommenen Legenden und haben es geschafft, unsere ... Begabung zu verstecken. Unsere Leute sitzen an den wichtigsten Stellen, meist in der galaktischen Polizei. Der Planet Venus, zweite Welt des terranischen Systems, hat die Gene der Menschen verändert, die von Vorgängern deines Vaters auf die Planetenoberfläche gebracht wurden.«

»Ich versteh immer weniger, Kaalin.«

»Wir können unsere Zellkerne durch die Befehle eines mutierten Stücks der Großhirnrinde kontrollieren, wenn wir uns in Lebewesen verwandeln, deren Metabolismus wir mehr oder weniger genau kennen. Vorausgesetzt, das Körpergewicht und das Skelett sind gleich geartet. Wir leben länger, angeblich etwa zweihundertfünfzig terranische Jahre. Ich bin hunderteinunddreißig.« In seinem Gesicht erschienen, als Peter die Raumbeleuchtung eintastete, Dutzende tiefer Kerben; seine Augen wurden schwarz wie polierte Kohle. »In der terrageformten Zone der Venus, im Nukleus, basiert das Leben wie auf Terra auf Wasser und Sonnenlicht. Nach dem Zusammenbruch der Wolkenhülle – dein Vater ließ sieben riesige Eisasteroiden zum Planeten bugsieren – breiteten sich Sümpfe aus, Wasserflächen, Wald; der Kreislauf von Verdunstung und Regen stabilisierte sich binnen weniger Jahre. Mein Vater erzählte mir alles. Die Evolution bemächtigte sich nicht nur des Planeten, sondern auch seiner Besucher, der Besiedler; die Natur besorgte die Mutationen großartig und großzügig. Die letzte Generation existiert wahlweise in drei Erscheinungsformen: als Bewohner flacher Meere fühlen wir uns als Delphinartige wohl. Wendiger, stromlinienförmiger, mit Sprache begabt. An Land sind wir menschenähnlich; längere Zehen, die sich beim Laufen einkrallen, schützende Hornschicht der Sohlen, größere Lungen, stärkere Beißkiefer, dunkelrote Fellhaut als Kälteschutz. Unsere verstandesgesteuerten und unbewussten Reaktionen sind schneller als die der Menschen. Ich kann’s dir beweisen.« Peter hielt sich an der Sessellehne fest und schüttelte langsam den Kopf. Sein Gesichtsausdruck zeigte, dass sein Weltbild ebenso zu zerbröckeln begann wie zuvor schon sein Selbstverständnis. Kaalin sprach ungerührt weiter.

»In den Sümpfen halten wir uns am liebsten als schnelllaufende, schwimmende Schildkröten mit elastischem Panzer auf; unsere Ernährung und die meisten anderen Lebensäußerungen bewegen sich in begreiflichen Rahmen. Menschenähnlich.« Peter zündete die nächste Zigarette an, verbrannte die Fingerkuppen und rieb sie gegeneinander. Er wachte langsam aus der Starre auf und begann in winzigen Schritten zu begreifen.

»Warum hast du den Toten einfach am Ufer liegengelassen?«

»Geier, Milane und Ameisen haben ihn bis morgen früh spurenlos beseitigt. Wieder einer, der nicht zurückkehrt, und von dem niemand weiß, wo er geblieben ist.«

»Warum verfolgen uns diese mörderischen Agenten?«

»Weil ... hör gut zu: seit mehr als drei Jahrzehnten versuchen Aliens aus der Tiefe der Galaxis, die Erde zu versklaven. Sie haben die Gestalt monströs großer Raupen. Arcadia ist aus verschiedenen Gründen, zu denen auch die kosmische Anomalie zählt, ihre Startplattform. Sie bereiten ihre Machtübernahme mit unendlicher Geduld vor. Auf der Erde haben sie die Idee der vier Kasten geschaffen, die auch hier um sich zu greifen beginnt. Im Chateau Gray merkt man davon nichts oder nicht viel. Sie operieren mit Drogen und verteilen Sämlinge und Schösslinge jener Blumen, von denen sie später, nach der Machtübernahme, leben wollen. Alle Terraner werden, wenn die Invasion glückt, Sklaven der Raupen und Schmetterlinge sein. Wenn meine Freunde eintreffen, haben sie alle Informationen bei sich, die dein Vater gesammelt hat. Dann wirst du den furchtbaren Rest sehen und die gesamte Tragweite dieser Invasion begreifen.«

Peter setzte sich, mit undeutbarem Gesichtsausdruck, und drückte ein Kontaktfeld auf der Schreibtischplatte. Die Unterwasserscheinwerfer und die Strahler rund ums Haus schalteten sich ein und verwandelten die Finsternis in ein tausendfarbenes Idyll. Eine zweite Schaltung setzte die Elemente einer Spitzen-Wiedergabeeinheit in Bewegung. Musik. Aus Dutzenden versteckter Lautsprecher überfluteten die Klänge den großen Raum. Eine Klarinette tremolierte, der Ton fiel in ruhige Tiefe, schraubte sich hoch und schwieg, als das Orchester einsetzte. Chrotta, Brummeisen und Celesta leiteten den Kopfsatz der Sinfonie ein. Peter Purcell Gray: Thema und Variationen der Handschrift von Saragossa. Berge schienen sich aus den Tonclustern zu bilden, Flussläufe, karge Landschaften voller Geheimnisse entstanden, Legenden und Mysterien, kerzengerade Palmen und eine leere Landschaft, durch die ein Fluss mäanderte. Fieberglühende Visionen, Echos in riesigen Höhlen, in denen sich unglaubliches Geschehen vollzog, dann der gelassene Flügelschlag des Hippogryphs, der die Szenerie überflog und die Melodien in ruhig ausschwingenden Kadenzen beendete.

Peters letztes, nach Kaalins Meinung reifstes Werk; ein ausschweifendes, aber von Bachscher Disziplin gezähmtes Opus magnum, entstanden in der klängedurchwirkten Einsamkeit des Dschungels auf dem Hauptkontinent Arcadias. Peter stützte die Arme schwer auf die Platte und sah Kaalin zu, der in zwei bauchige Gläser neunzigjährigen Single Malt in feinem Strahl einschenkte. Die Musik half Peter Gray, zu verstehen, dass er am äußersten Rand einer Klippe stand – wenn die Sinfonie mit Panflöte, Ramsesharfe und dem Violinsolo endete, begann ein neuer Lebensabschnitt. Er hatte jeden erdenklichen Grund, sich davor zu fürchten.

Er schlief noch vor dem Ende ein, den Kopf in den Unterarmen vergraben. Kaalin leerte auch das zweite Glas, schaltete das Gerät aus, hob Peter mit spielerischer Leichtigkeit auf seine Arme und trug ihn zum Bett.

 

 

 

2. Kapitel

 

Aus: G. Shefa jr.: annuals & ballads of speed & spaceships, Verlag Afm Fshan, Bassacutena, Terra, III. Auflage, 3059

 

»Wie sein heldenmäßiger Vater, Vaugh Xenakis Gray, scheint auch der berühmte Sohn Peter Purcell das Bad in der Menge zu scheuen. Der Schöpfer von mehr als einem Dutzend Filmmusiken, die ausnahmslos höchste galaktische Auszeichnungen einheimsten, von Tonwerken wie der Burlesque Hannibals Mastodonten, Savannengräser, der Moby-Disc-Suite und sieben gleichwertigen, galaxisweit bekannten anderen Ton-Werken, lebt auf Arcadia, Olympia Magna III, verschwiegen und unauffindbar im Dragons Grove-Dschungel, im Lotos-und-Zedern-Wald, wohin kaum jemand hinfindet. Zweifellos ist P.P. Gray steinreich. Sein Freund und Mega-Impresario Kaalin Shaman versteht es meisterhaft, das jiepernde Interesse der Massenmedien mit abenteuerlichen Finten abzuwehren; Gray komponiert kompromisslos in selbstgewählter Einsamkeit. Wenige offizielle Bilder zeigen einen blendend aussehenden Dreißigjährigen, dessen Lächeln ein wenig arachnoid wirkt, und von dem meine Lebensabschnitts-Gefährtin meint, es sei eine teuflische Versuchung für jede Frau; seine Musik, jede Note davon, ist über jegliche Kritik erhaben ...«

 

In der Balneologischen Erlebniswelt, Los Angeles minor, Terra, Sol III, klickte etwa zur selben Zeit, als Peter Gray erschöpft schlief, das Zählwerk des Eingangs. Ein Besucher, schmalgesichtig und von unauffälliger Statur, schob seinen Zeigefinger in den Scannerschacht. Der implantierte Mikrochip wurde abgetastet, die Sperre fiel. Auf einem schneeweißen Sandstreifen ging der fourth zu den Umkleidekabinen, löste die diamagnetischen Säume seiner dunkelgrünen Uniform und schlüpfte in die Badehose; als er auf den menschenleeren Kunststrand zuging, blendete ihn die Sonne. Er wusste, dass er eines der Sandkörner der Menschheit war, eine männliche Arbeiterin in einem Ameisenstaat. Er durfte leben, weil er arbeitete. Die privilegierten Klassen, die firsts und seconds, zogen es vor, durch Kreaturen wie ihn hindurchzusehen wie durch wohlgeputztes Glas. Er wagte, zum Nachbarstrand hinüberzublicken, wo sich barbrüstige second-Frauen sonnten; Glühstrahlen trennten die Badebezirke.

Er ging langsam auf die Brandung zu und schwamm ein Stück auf die scheinbar offene See hinaus. Als er tropfend an Land watete, fühlte er sich müde und legte sich in den Schatten eines zerfallenden Ruderbootes, Teil der Biosuggestion. Kurz bevor seine Gedanken in die Nebel des flachen Schlafs abglitten, spürte er ein ultrakurzes Stechen nahe der Wirbelsäule. Sein Traum glitt wie auf Schmetterlingsflügeln in eine farbensprühende Vision hinein: Eine flatternde Wolke, zusammengesetzt aus herrlichen Farben, schwebte über einer Traumlandschaft, einer idealisierten Vision der Bauwerke und Parks von Los Angeles. Ausläufer der Wolke berührten hier eine Blüte, deren Kelch sich ihr entgegenstreckte, und ein zauberhafter Schmetterling ließ sich dort auf einer Pflanze nieder, deren frühlingsgrüne Blätter unbeschreiblich schöne Düfte in die Luft verströmten.

Gesang erklang wie von silbernen Querflöten. Er stand, hingerissen, inmitten der Herrlichkeit und wusste, dass er mitgeholfen hatte, diese Schönheit zu schaffen. Als er erwachte, war Sinn in sein armseliges Dasein gekommen: er hing den Gedanken nach, die der Traum übriggelassen hatte, und fand sie wieder. Er, am Ende der sozialen Skala, würde mit allen Kräften helfen, die Wolken zu schützen – und sei es mit seinem eigenen Leben.

Er duschte, zog sich um und verließ das Gelände. Auf der Straße schwebte ein pinkfarbener Gleiterbus vorbei; voll junger firsts, die einen Ausflug machten. Er wusste, dass die Wolken es verhindern würden, dass andere Menschen ihm bevorzugt wurden, dass er also die gleichen Rechte haben würde wie diese hochmütigen, reichen firsts und seconds. Was er nicht wusste, war, dass die winzige Gelatinekapsel, die jemand in seinen Rücken geschossen hatte, von seinem Kreislauf absorbiert worden war und das Serum einen winzigen Teil der Großhirnrinde paralysiert hatte. Nur die Bilder und Folgerungen des Traums blieben dort eingeprägt und der Zwang, jedem zu helfen und zu gehorchen, der die neue Erkenntnis unterstützte; er als einzelnes Individuum war zu schwach dazu.

 

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