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Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1.

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PERRY RHODAN – die Serie

 

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Nr. 2732

 

Der Hetork Tesser

 

Er ist der Zerstörer – gehasst von einer ganzen Galaxis

 

Uwe Anton

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Im Jahr 1516 Neuer Galaktischer Zeitrechnung steht die Milchstraße seit nunmehr zwei Jahren unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals, einer noch immer weitgehend rätselhaften Organisation, die vorgibt, im Rahmen der »Atopischen Ordo« für Frieden und Sicherheit zu sorgen.

Ihre Macht haben die Atopen mehrfach bewiesen, unter anderem, indem sie Perry Rhodan und Imperator Bostich zu einer 500-jährigen Isolationshaft verurteilten.

Auf einer Welt, deren Position im Universum dem Terraner vollkommen fremd ist, muss er sich auf lange Jahre der Buße einstellen. Doch wer ist DER HETORK TESSER ...?

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Unsterbliche begegnet einem Löwen.

Bostich – Der Arkonide sitzt in einer Bußklause.

Soroloyn Tevvcer – Der Onryone versucht, seine Anvertrauten zur Reue zu führen.

Avestry-Pasik – Ein weiterer Insasse der Bußklausen.

Neacue – Ein Langlebiger amüsiert sich.

1.

 

»Der Schlaf ist das Bild des Todes.«

Marcus Tullius Cicero,

106 bis 43 v. Chr.,

römischer Politiker, Anwalt,

Schriftsteller und Philosoph

 

Irgendwann erwachte er.

Es war dunkel um ihn, und er wusste nicht, wo er war.

Auch nicht, wann er war. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren.

Ein Tag hätte vergangen sein können, ein Jahr ... oder 500 Jahre.

500 Jahre ... Diese Zahl hatte eine gewisse Bedeutung für ihn. Sie war wichtig, doch ihm wollte nicht einfallen, wieso. Nur verschwommen stellte sich eine erste Erinnerung ein.

Er war verurteilt worden. Zu 500 Jahren Haft? Musste er nun seine Gefängnisstrafe antreten?

Oder war sie etwa abgelaufen?

Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber sie fielen ihm sofort wieder zu. Er war müde, furchtbar müde.

Blindlings tastete er um sich.

Er spürte ein glattes, straffes Laken. Ein Wohlgeruch drang in seine Nase. Zumindest empfand er es so. Es war der Geruch von Waschpulver ... oder vielleicht sogar von Stärke? Wann hatte er zum letzten Mal auf gestärktem Bettzeug geschlafen? Wann hatte er zum letzten Mal diesen eigentümlichen Geruch wahrgenommen? Vor 3000 Jahren?

Eigentlich war der Geruch unnatürlich und durchdringend, aber er verband angenehme Erinnerungen damit, wunderschöne Erinnerungen. Er war jung, noch ein Kind. Ma hatte die Bettwäsche immer gestärkt und das Laken ganz straff gespannt.

Das Kissen war eine weiße Wolke gewesen, weich und fest zugleich. Er hatte es hin und her schieben können, zusammendrücken und flach ziehen, und es war nie unbequem gewesen. Es hatte seinem Kopf immer die genau richtige Unterlage geboten. Ob er nun mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen oder geschlafen hatte wie ein Bewusstloser, nachdem er tagsüber gespielt und getobt hatte und gerannt war wie ein Verrückter, es war immer bequem gewesen, und er hatte sich immer wohl und geborgen gefühlt.

Das war nun irgendwie anders.

Der Schlaf von damals hatte kaum etwas mit dem von heute gemein.

Damals hatte nichts seinen Schlaf gestört. Er hatte keine Träume gehabt. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Zumindest bildete er sich das ein. Der Schlaf war immer ungestört gewesen, nicht jenes seltsame Schweben zwischen Traum und Wachen, das er nun erlebte. Ein zeitloses Schweben, in dem er sich für alle Ewigkeit verlieren konnte, wenn er nicht auf der Hut war.

Nun hatte er Träume, die in jenem qualvollen Schweben verharrten, die bestehen blieben. Er konnte sie nicht abschütteln. Dazu hätte er erwachen müssen, doch das konnte er nicht. Sie griffen nach ihm, wann immer er aufwachte, und zerrten ihn zurück in die Gefilde zwischen den beiden Zuständen.

Im Traum sah er ein seltsames Wesen. Er verband sogar einen konkreten Namen damit, ein Hinweis darauf, dass die Erscheinung kein bloßer Traum war, sondern eine Erinnerung, mit der er sich im Schlaf beschäftigte. Er versuchte, sie im Traum zu verarbeiten, weil er es in Wirklichkeit nicht konnte.

Matan Addaru Dannoer.

Der Richter.

Dannoer ...

Er versuchte, sich die Gestalt bildlich vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Sie entzog sich ihm wieder. Er war müde. So furchtbar müde.

Ich bin auf dem Weg zu meinem Gefängnis, dachte er. Oder vielleicht schon dort angekommen.

Aber warum musste er ins Gefängnis?

Das Gefängnis gab es nur im Spiel. Er hatte es mit seinen Eltern gespielt, aber nie mit Deborah, seiner Schwester.

Monopoly.

Als sie zum ersten Mal Monopoly gespielt hatten, war Deborah schon tot gewesen.

Gehen Sie in das Gefängnis. Wenn Sie auf dem Weg dorthin über LOS gekommen sind, erhalten Sie kein Gehalt. Ihr Zug ist damit beendet.

Er kämpfte gegen die Müdigkeit an, doch sie war so überwältigend, und es war so dunkel um ihn.

Er schlief wieder ein, sank zurück in die zeitlosen Gefilde zwischen Traum und Wirklichkeit, aus denen er sich einfach nicht befreien konnte.

 

*

 

Als er sich das nächste Mal dem Erwachen näherte, sah er erneut den Richter vor sich. Matan Addaru Dannoer. Er sah aus wie ein Mensch und gleichzeitig ganz anders. Er erinnerte ihn an einen uralten Indianer mit kupferfarbener, extrem runzliger Haut und zerfurchtem Gesicht. Das Haar war schwarz, doch als er näher hinschaute, bestand es aus Federn. Einige standen einzeln vom Hinterkopf ab. Er lächelte gütig und weise. Der Blick aus den dunklen Augen war bestimmt. Die Nase war flach, und er hatte keine Ohren.

Dannoer hat mich verurteilt, erinnerte er sich. Verurteilt zu 500 Jahren Gefängnis.

Und er hatte die Strafe freiwillig angetreten.

Hatte er das wirklich? Hatte er aus freien Stücken ein Raumschiff der Onryonen betreten? Er wusste es nicht mehr genau. Ja, doch, es konnte sein. Aber an den Flug zum Gefängnisplaneten sind nicht einmal verschwommene Erinnerungen oder zumindest sinnlose, surreale, sich widersprechende Bilder geblieben, wie die eines Traums.

Vielleicht träumte er einfach weiter?

Plötzlich verspürte er Angst.

Ich muss aufwachen, dachte er. Sonst bin ich verloren. Wenn ich nicht aufwache, werde ich vielleicht 500 Jahre im Schlaf verbringen.

500 Jahre, die für ihn verloren waren. Die Vorstellung war entsetzlich. Er musste erwachen.

Aber er war so furchtbar müde.

Obwohl er einen Zellaktivator trug.

Der Richter ... ihm war, als hätte er irgendwann noch einmal mit Matan Addaru Dannoer gesprochen. In welchem Zusammenhang? War es ein Verhör gewesen? Er hatte nur eine vage Ahnung, dass der Atope ihm mit ... Wohlwollen begegnet war. Mit Respekt? Ja ... aber auch mit einer untergründigen, namenlosen Furcht.

Und der Stab des Richters, der Glivtor ... Plötzlich sah er ihn vor sich. Er spielte ebenfalls eine bedeutende Rolle. Aber welche? Warum war dieser Stab so wichtig? Der Richter hatte ihn in der linken Hand gehalten, und er hatte irgendwie unnatürlich gewirkt, schlank und organisch. Wie ein Ast oder eine Schlange war er ihm vorgekommen.

Er kam trotz aller Bemühungen nicht gegen die bleierne Müdigkeit an. Sie wurde immer stärker und zog ihn schließlich zurück in den Schlaf.

Oder in den Traum.

Das war ein gewisser Trost für ihn. Wenn er träumte, war sein Verstand aktiv. Dann würde er nicht irgendwann aufwachen und feststellen, dass 500 Jahre vergangen waren wie ... im Schlaf.

 

*

 

Er kam wieder zu sich, trieb hilflos in jenen Gefilden zwischen Halbschlaf, Wachsein und Traum, in denen ein Mensch sich eine subjektive Ewigkeit verlieren konnte. Dann drohten ihn verworrene Erinnerungen an einen Flug zu überwältigen. Aber nur Erinnerungen, keine Träume.

Das war ein sehr wichtiger Unterschied.

Erinnerungen an einen Flug, den er schlafend verbracht hatte.

Erinnerungen an den Richter Matan Addaru Dannoer und seinen Stab, den Glivtor.

Schon wieder ...

Wenn ich jetzt nicht erwache, dachte er, werde ich noch lange schlafen. Sehr lange.

War das vielleicht seine Bestrafung? Sollte er 500 Jahre schlafend verbringen?

Nein, das konnte nicht sein. Er sollte doch Buße tun. Buße für eine Tat, die er noch nicht begangen hatte.

Langsam klärte sich sein Verstand. Fast gegen seinen Willen stieg er aus diesen so verlockend angenehmen, bequemen Gefilden zwischen Schlaf und Wachsein empor, in denen er sich verloren hatte.

Er hätte gern behauptet, dass er die verworrenen Gedanken abgeschüttelt und umgeschaltet hätte – wie früher, als man ihn den Sofortumschalter nannte. Aber so war es nicht. Er befreite sich nicht aus eigener Kraft aus dem todesähnlichen Schlaf, der trotz allem von schrecklichen Träumen und Visionen durchsetzt gewesen war.

Man erlaubte ihm, sich daraus zu befreien.

Man erlaubte ihm, nun zu erwachen, weil man es für richtig hielt.

Wer war man? Seine Kerkerwächter? Jene Wesen, die ihn 500 Jahre lang anhalten würden, Buße zu tun? Oder die Atopen? Hatten sie eine solche Gewalt über ihn, dass sie sogar seinen Schlaf und seine Erinnerungen beherrschten?

Undeutlich erinnerte er sich an Gespräche, die er mit ihnen geführt hatte.

Oder bildete er sich diese Gespräche bloß ein? Hatte er sie nur im Traum geführt, auf dem Flug zu seinem Gefängnis? Waren sie ein verzweifelter Versuch seines Verstands gewesen, dem Unausweichlichen zu entkommen, das Geschehene zu verarbeiten?

Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und diesmal gelang es ihm. Wenn sich Wirklichkeit und Traum miteinander verbunden hatten, lösten sie sich nun voneinander, und er erwachte, kehrte in die Realität zurück.

Wieder tastete er um sich, und wie zuvor lag er in einem Bett. Die Bettwäsche war blütenweiß, und der Geruch von Stärke drang in seine Nase.

Ein Geruch, den er seit 3000 Jahren nicht mehr wahrgenommen hatte.

2.

 

»Die Dinge sind nicht immer das,

was sie zu sein scheinen.«

– Gaius Iulius Phaedrus, 15 v. Chr.

bis 50 n. Chr., römischer Fabel-

dichter, in seiner Fabelsammlung

Fabularum Liber Quartus

 

Perry Rhodan erkannte den Geruch sofort, auch nach 3000 Jahren. Manches vergaß man niemals. Er hatte ihn in seiner Kindheit wahrgenommen und oft daran gedacht, und irgendwann hatte er sich in sein Gedächtnis eingebrannt.

Seine Mutter hatte die Bettwäsche immer gestärkt.

Wäschesteife, hatte sie dazu gesagt. Damit hatte sie Wäsche- und Kleidungsstücke aus Leinen und Baumwolle nach dem Waschen behandelt, um sie zu festigen und in Form zu bringen. Sie hatte viel gestärkt, nicht nur Bettwäsche, sondern auch die Kragen und Manschetten der Hemden seines Dads, die Rüschen an ihren Blusen und ihre Schürzen.

Er sah sich um. Ja, er lag in der Tat in einem Bett mit gestärkter Wäsche. Es stand in einem Alkoven, einer Bettnische, vor der ein Vorhang zugezogen war. Es war ziemlich dunkel in der Nische, allerdings fiel durch einen Spalt in den Vorhanghälften und unter dem Stoff Licht herein.

Draußen musste es also hell sein.

Das Laken war bis zu seinem Kinn hochgezogen. Darunter war er nackt.

Wie lange hatte er geschlafen? Er wusste es nicht, genauso wenig, wie er wusste, wo er war. Zuerst glaubte er, dass es sich nur um ein paar Stunden gehandelt hatte, weil es ja schließlich hell war, doch dann fiel ihm sein Denkfehler auf.

Er hatte keine Ahnung, wann er eingeschlafen war.

Und er befand sich an einem anderen Ort, vielleicht – nein, wahrscheinlich sogar – auf einem anderen Planeten.

Auf der Gefängniswelt des Atopischen Tribunals.

Vorsichtig schlug er die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und setzte die Füße auf den Boden. Seine Muskulatur spielte mit, als er aufstand. Man schien ihn gut behandelt und gepflegt zu haben. Nachwirkungen eines langen Tiefschlafs spürte er jedenfalls nicht.

Er zog den zweiteiligen Vorhang auf. Sonnenschein fiel in den Alkoven und erhellte ihn.

Er trat hinaus in ein Schlafzimmer. Oder ein Wohnschlafzimmer? Dafür sprach die abgetrennte Bettnische.

Die Einrichtung des Zimmers war ... irdisch. So musste man es ausdrücken. Aber sie war irgendwie altertümlich. Sie entsprach eher einem Zimmer aus seiner Jugendzeit, den 1930er- oder 1940er-Jahren alter Zeitrechnung als einem modern eingerichteten Raum.

Gleichzeitig wirkte sie irgendwie ... anders. Anfangs konnte er den Finger nicht genau darauflegen, doch ein paar Tage später wurde es ihm klar. Die Einrichtung war nicht völlig authentisch. Sie war eher so, wie er sie in Erinnerung hatte, und Erinnerungen konnten trügen.

Allerdings verfügte sie über einen gewissen Standard, fast schon Luxus, den er in seiner Jugend nicht gekannt hatte. An einer Wand stand ein Schreibtisch, davor ein lederner Bürostuhl. Die Mitte des Zimmers wurde von einer Sitzgruppe mit einer Couch und schweren Ledersesseln beherrscht.

Auf dem Schreibtisch stand ein altmodisches, schweres schwarzes Telefon mit einer Wählscheibe und einem Hörer an einer Schnur.

Wann hatte er zum letzten Mal eine Wählscheibe gesehen? Es musste Jahrtausende her sein.

Wahrscheinlich 3000 Jahre, dachte er.

Er trat zum Schreibtisch, hob den Hörer ab und hielt ihn an sein Ohr.

Kein Freizeichen. Gar nichts. Die Leitung war tot.

 

*

 

Neben dem Bett lag Kleidung auf einem Stuhl. Unterwäsche, ein rotblau kariertes Hemd, wie er es als Kind oft getragen hatte, Jeans, Socken und leichte Slipper. Rhodan zog sich an. Dann setzte er die Inspektion des Zimmers fort.

Eine Wand des Raums bestand praktisch aus einem großen Sprossenfenster. Er schaute hinaus auf einen gepflegten, weitläufigen Park mit Wiesen, Bäumen und Sträuchern. Eine kleine Schafherde graste dort friedlich, vielleicht sieben oder acht Tiere. Der Park erstreckte sich, so weit das Auge sehen konnte, doch Rhodan fiel auf, dass der Horizont seltsam verschwommen wirkte, nicht genau definiert, als sei der Idylle, die sich ihm bot, keine natürliche Grenze gesetzt.

Rhodan ließ das pastorale Bild einen Augenblick wirken. Dann wandte er sich ab und sah sich wieder in dem Zimmer um. Ihm fiel eine Tür auf.

Er zögerte kurz. Er war fast sicher, dass sie gerade eben noch nicht dort gewesen war, konnte es aber nicht genau sagen. Es war durchaus möglich, dass er sich täuschte, sie nach dem Erwachen übersehen hatte. Er war noch immer ziemlich verwirrt.

Wahrscheinlich hatte er viel länger geschlafen, als er annahm.

Er ging zu der Tür und öffnete sie. Im Nebenraum stand ein großer Billardtisch, daneben ein kleiner Beistelltisch, auf dem eine Schachtel Zigaretten lag. Zündhölzer und ein Aschenbecher vervollständigten das Arrangement.

Rhodan trat näher. Chesterfield. Er kannte die Marke von seiner Jugend her.

Er nahm die Schachtel in die Hand, hob sie hoch. Der Karton fühlte sich einfach richtig an, war nicht zu leicht, nicht zu schwer. Er öffnete die Packung, und würziger Tabakgeruch stieg ihm in die Nase. Er war überzeugt, dass es sich um eine echte Packung handelte – doch das war unmöglich.

Wie sollte jemand eine Packung frischer Zigaretten bereitstellen können, die es seit 3000 Jahren nicht mehr gab?

Er schloss die Schachtel wieder. Der Duft hatte seine Sinne geschärft. Er schnupperte, roch edles Holz und Bohnerwachs. Auch dieser Raum verfügte über einen exquisiten, gepflegten und geradezu blank gewienerten Parkettboden, von dem der Geruch ausging.

Eine weitere Tür führte in den nächsten Raum. Rhodan öffnete sie und schritt hindurch.

Dieses Zimmer war die Bibliothek, die er in einem Haus wie diesem fast schon erwartet hatte. Sie enthielt Bücherregale aus echtem, dunkel lasiertem Holz, die bis an die Decke reichten, sämtliche freie Wände bedeckten und Unmengen von Bänden enthielten. Rhodan warf nur einen kurzen Blick darauf. Es handelte sich ausschließlich um gebundene amerikanische Ausgaben. Er würde sich später in Ruhe einen genaueren Überblick verschaffen.

Er ging weiter in eine Küche. Sie war altmodisch, wahrscheinlich schon alt gewesen, als er selbst ein Kind war. An einer Wand befand sich ein frei stehender Holzherd direkt neben einem Gasherd. Daneben lag auf einem glatt gescheuerten Holztisch eine weitere Packung Streichhölzer, wie Rhodan sie aus seiner Jugend kannte.

Er drehte den Wasserhahn der Spüle auf. Wie er erwartet hatte, floss nur kaltes Wasser heraus. Immerhin entdeckte er einen Kühlschrank, und sofort stieg eine längst vergessene Erinnerung in ihm empor.

Anfangs hatte man Kühlschränke mit Ammoniak betrieben. Freilich war diese Substanz ätzend und verursachte nicht nur Lecks, sondern zudem einen üblen Geruch. Erst in den 1920er-Jahren hatte man Ersatzchemikalien entwickelt, die Kühlschränke für den Hausgebrauch geeignet machten. In den 1930er-Jahren wurde der Kühlschrank dann zur Standardausstattung privater Haushalte, und Ende des Jahrzehnts hatte Familie Rhodan auch einen bekommen.

Das große, wuchtige Gerät war gut gefüllt mit Lebensmitteln, die gekühlt werden mussten, sollten sie nicht verderben. Rhodan sah Eier und Milch, aber auch Käse, Wurst und Fleisch. Sogar ein paar Flaschen Bier und Limonade standen im Türfach, und ein kleines, abgetrenntes Eisfach enthielt ... Speiseeis.

Rhodan öffnete einige der hohen Vorratsschränke in der Küche und fand darin andere, haltbarere Lebensmittel, die ihm sofort wieder vertraut waren. Dosensuppen von Campbell, hauptsächlich die Sorten Tomate, Hühnchen-Nudel und Rindfleisch-Bouillon, aber auch einige andere, in dem Fach darunter Heinz-Ketchup, auf anderen Schrankbrettern Kellog's Cornflakes und Hershey's Schokoladenriegel.

Wer immer dieses Gefängnis errichtet hat, scheint sich gut mit meiner Jugend auszukennen, dachte er mit einem Lächeln. Er kam sich vor wie in einem schlechten Trivid, in dem jede Menge Schleichwerbung betrieben wurde.

Dann verging ihm das Grinsen. Diese Marken stammten allesamt aus seiner Kindheit. Wer diese Wohnung oder dieses Haus eingerichtet hatte, musste sich gut über seine Jugend informiert haben.

Oder aber, er hatte diese Informationen Rhodans Gedächtnis entnommen. Was bedeutete, dass an seinem Gehirn herumgepfuscht worden sein musste.

Rhodan sah sich verstohlen um. Vielleicht musste er seine Situation völlig neu überdenken. Was, wenn diese Wohnung nur eine Illusion war, zusammengestellt aus seinen Erinnerungen? Wenn man ihm nur vorgaukelte, sich in einem Haus zu befinden, wie es ihm aus seiner Jugend vertraut war? Sollte es ihm irgendwann gelingen, diese Illusion niederzureißen, würde er vielleicht nur Holos vorfinden oder, noch perfider, bloße Datenspeicher, die mit Gasherd oder Kühlschrank beschriftet waren. Lag er womöglich weiterhin in einem Bett, wenn auch nicht in einem altmodischen mit gestärkter Wäsche, sondern in einer hochmodernen Tiefschlaf-Vorrichtung, und träumte nur, sich in einem alten Haus zu befinden? Schritt er dieses Haus nur in Gedanken ab, als befände er sich im Simusense?

Er sah in diesem Augenblick keine Möglichkeit herauszufinden, ob seine Umgebung real war oder nicht. Er musste zuerst einmal so viele Informationen wie möglich sammeln.

Er setzte den Rundgang fort und betrat ein geräumiges Badezimmer mit gekachelten Wänden, einer frei stehenden Wanne und einer Toilette. Er testete deren Wasserspülung; sie funktionierte einwandfrei. Und die Wannenarmatur verfügte über zwei Hähne. Aus dem einen floss glühend heißes, aus dem anderen kaltes Wasser. Zumindest würde er den Holzherd nicht befeuern müssen, um warmes Wasser für ein Bad zu bekommen.

Eine weitere Tür führte zu einer Diele. Sein Gefühl sagte ihm, dass die einzelnen Räume um sie angeordnet sein mussten. Doch nun sah er, dass von ihr aus Türen zu jedem einzelnen Raum führten, während er durch andere Türen von einem Raum zum anderen gegangen war.

Jeder Raum musste also über mindestens zwei Türen verfügen. Rhodan konnte sich nicht erklären, wieso er bei seinem Rundgang keine Türen entdeckt hatte, die in die lang gestreckte Diele führten. Als er aus der Diele ins Billardzimmer schaute, sah er zwei weitere Türen, die in die benachbarten Räume führten: ins Wohnschlafzimmer und die Bibliothek.

Er drehte sich um und trat in den Korridor zurück.

Und entdeckte dort eine weitere Tür, die zu keinem der Räume führte, die er soeben inspiziert hatte.

 

*

 

Er stieß die Tür auf. Licht fiel durch die Öffnung und erhellte die ersten Stufen einer abwärts führenden Treppe, deren Fuß im Dunkeln lag.

Rhodan tastete nach einem Lichtschalter an der Wand, fand aber keinen.

Dann fiel es ihm wieder ein, und er griff nach oben. Seine Finger berührten eine Art Seil, und er zog daran.

Vor ihm leuchtete eine Glühbirne auf und erhellte das Treppenhaus.

Eine Lichtschnur, kein Schalter. Bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts, in dem er geboren war, waren in seiner Heimat, den USA, Lichtschnüre gebräuchlich gewesen.

Die Treppe vor ihm war sehr steil. Rhodan tappte vorsichtig die Stufen hinab und trat in einen Fitnessraum mit einer altmodisch anmutenden Einrichtung. An der Decke hing ein Sandsack. Eine Hantelbank und ein Expander vervollständigten die Einrichtung.

Der Nebenraum beherbergte ein großes Schwimmbecken.

Er sah sich nach einem Fenster um, mit dem er den Raum belüften konnte. Wer trainierte, transpirierte auch, und ohne ausreichende Belüftung würden die Wände früher oder später Schimmel ansetzen.

Doch er fand keine Öffnung. Vielleicht war das ein Ansatz für einen Fluchtversuch. Der Raum musste auf eine Weise belüftet werden, die er bisher nicht durchschaute. Und vielleicht bot diese verborgene Belüftung eine Möglichkeit zur Flucht.

Eine tolle Wohnung, dachte er. Doch die Begeisterung über sein neues Domizil legte sich sofort wieder.

Denn diese Räume sollten wohl sein Gefängnis für die nächsten 500 Jahre sein.

In diesem Moment hörte er, wie in der Etage über ihm eine Tür zuschlug.

3.

 

»Wolf und Lamm werden

beisammen weiden,

und der Löwe wird Stroh fressen

wie das Rind.«

Jesaja 65:25

 

»Hallo?«, rief Rhodan, erhielt jedoch keine Antwort. Er hatte eigentlich nicht damit gerechnet.

Trotzdem stürmte er die Treppe hinauf, blieb atemlos an ihrem Kopf stehen und sah sich um.

Nichts. Da war niemand.

Noch einmal rief er »Hallo?«, und erneut antwortete niemand.

Er kniff die Augen zusammen. Da fiel es ihm auf: Wenn er sich nicht völlig irrte, befand sich in der Diele nun eine weitere Tür, die er zuvor nicht gesehen hatte. Die zu den einzelnen Räumen seines Gefängnisses waren noch vorhanden und standen offen, doch die neu erschienene schien soeben zugefallen zu sein. Das war das Geräusch gewesen, das er gehört hatte.

Zögernd trat er zu ihr, streckte die Hand aus. Was hatte es mit den Türen hier auf sich? Entstanden sie immer, wenn sie benötigt wurden? Oder sah er sie nur, wenn er sie sehen sollte?