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Thomas Franke

Das

Tagebuch

Roman

Inhalt

Prolog

Menetekel

Zwei Glas Wein und ein Blitzschlag

Das vierte Gebot und ein Kissen

Louis-Antoine de Soissons

Drei Stände

Der Hohlraum

Die Bestie vom Gévaudan

Die Fälschung

Der Götze

Zorn

Allein

Die Botschaft

Im Wald

Fährtensucher

Die Hebamme

Der verrückte Graf

Der Pilger

Paris

Die Toten

Der Verdacht

Place de Gréve

Die Tabelle

Heimkehr

Finsternis und Hoffnung

Das Genie und der Coach

Mordkomplott

Bertrand

Der Entschluss

24. Dezember 1793

Die Wasser der Loire

Der Stall

Hasenragout

Der Kommandant

Die Schlacht

Rache

Licht nach der Dunkelheit

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Prolog

Sie kommen! Ich kann ihre Schritte hören, ihre groben Scherze und das Lachen

Gefesselt wie einen gefährlichen Verbrecher werden sie mich vor das Tribunal führen. Dann wird der Schlächter vortreten und sein Urteil sprechen. Es steht jetzt schon fest.

Vielleicht wird man mich erschießen, wahrscheinlich aber werden sie mich auf eine dieser schrecklichen Barken führen und ersäufen. Die trüben Wasser der Loire werden sich über mir schließen, ein letzter vergeblicher Kampf um Luft und Leben wird einsetzen und dann? Ich habe Angst schreckliche Angst!

Ihre Schritte sind nun ganz nah. Ich höre die Riegel, wie sie mit dumpfem Knallen zurückgeschoben werden.

Der Tod ist bereits hier. Er sitzt in meiner Zelle und sieht mich an mit Augen voller Schwärze. Ich spüre seine lauernde Kälte und das klebrige Gespinst seiner gestaltlosen Finger. Und wenn ich herumfahre, um zu schauen, wer nach mir greift, dann ist da nichts, nur dieses schreckliche grinsende Fragezeichen.

Oh Sacré-Cœur heiligstes Herz Jesu, hast du aufgehört zu schlagen? Bist du verstummt, als man dich auf Uniformen bannte? Ich kann dich nicht spüren. Dein Platz in mir ist finster und leer. Ist denn mein Glaube erstickt im schrecklichen Würgegriff der Furcht?

Sie holen alle! Ich höre das leise Flehen und das verzweifelte Schreien. Doch ich darf nicht in Furcht erstarren und nur an mich denken sie dürfen diese Zeilen nicht finden

Menetekel

»Einen Augenblick, ich verbinde.« Die Stimme der Frau klang kühl.

Leon schluckte. Die Warteschleifenmusik setzte ein und ihn traf ein dicker Regentropfen. Er trat einen Schritt zurück unter die schützenden Planen, die sie über die Grabungsstätte gespannt hatten, und im gleichen Augenblick begann es in der Leitung zu knistern. Seufzend setzte er sich wieder dem herannahenden Unwetter aus. Obwohl sie sich unweit der Stadt Nantes befanden, war der Handyempfang hier im Château de Chamilot eine problematische Angelegenheit. Sein Assistent Pawel, der die Logistik übernommen hatte und für die Computer zuständig war, fluchte ständig über die unzuverlässige Internetverbindung. Leon sah zu, wie der Himmel sich verdüsterte. Der nahe Atlantik konnte innerhalb weniger Minuten ein ausgewachsenes Unwetter bescheren.

»Dr. Weber?«, vernahm er den tiefen Bass Prof. Degenhardts.

Leon zuckte innerlich zusammen. »Ja, am Apparat. Sie hatten um Rückruf gebeten?«

»Es ist verdammt schwer, Sie zu erreichen, wissen Sie das?«

»Ja, das haben wir auch schon festgestellt«, rief Leon gegen das Trommeln des stetig zunehmenden Regens an. »Wir haben des Öfteren kein Netz. Das Château de Chamilot befindet sich offenbar in einer Art Funkloch.«

»Reden Sie deutlicher, Mann, ich verstehe kein Wort.«

»Wir haben Netzprobleme!«, brüllte Leon in den Hörer. Ein Dickhornschaf, das sich, träge wiederkäuend, auf dem grasbewachsenen Hügel direkt neben der Ruine niedergelassen hatte, schaute verdutzt zu ihm herüber.

Der Professor am anderen Ende der Leitung hielt offenbar die Hand vor den Hörer und gab barsch irgendeine Anweisung an jemanden in seinem Büro. Der Regen trommelte immer heftiger auf die Planen, und in der Ferne donnerte es. Das Wasser rann Leon kalt in den Nacken, doch als er sich erneut einen halben Meter unter die schützende Plane zurückwagte, wurde die Verbindung abrupt schlechter. Hastig trat er wieder vor.

»… es bei Ihnen läuft?« Er bekam nur noch den zweiten Halbsatz des Professors mit.

»Nun, äh die Grabungen kommen nur schleppend voran«, setzte Leon an. »Wir haben einige logistische Probleme und«

»Kommen Sie mir nicht mit Ausflüchten«, fuhr ihn der Professor an. »Haben Sie nicht zugehört? Das DAI bombardiert mich mit Fragen, und mir fallen bald keine Ausreden mehr ein. Und unser privater Finanzier ist auf dem Absprung.«

Leon seufzte innerlich. Das Deutsche Archäologische Institut trug nur knapp ein Viertel der Kosten. Den überwiegenden Teil zahlte ein reicher Amerikaner, der sein Vermögen in verschiedene wissenschaftliche Projekte zur König-Artus-Forschung steckte. Wenn er absprang, war das Projekt gestorben. »Ich kann Ihnen versichern«

»›Für Sie habe ich ein sehr vielversprechendes Projekt in Wales auf Eis gelegt‹, sagte er mir gestern erst«, unterbrach ihn der Professor erregt. »Sie haben uns nicht mehr und nicht weniger als eine Sensation versprochen, Dr. Weber!«

»Ich weiß, aber«

»Man hat Ihnen vertraut, weil Sie einen ausgezeichneten wissenschaftlichen Ruf genießen. Aber eins kann ich Ihnen sagen: Das Eis unter Ihren Füßen wird immer dünner. Sie haben es nur meinem Einfluss zu verdanken, dass Ihrem Projekt bislang nicht der Geldhahn zugedreht wurde.«

»Und dafür bin ich Ihnen auch sehr dankbar«

»Sie haben Zeit bis Donnerstag, um irgendeinen brauchbaren Hinweis zu liefern, dass Ihre Theorie mehr ist als das Hirngespinst eines fantasiebegabten Mannes.«

Ein Blitz zuckte über den Himmel und spiegelte sich in den erschrockenen Augen des Dickhornschafs, das seine lustlosen Kaubewegungen unterbrach. Gleich darauf krachte der Donner, und das Tier sprang erschrocken auf und stürmte über die hügelige Weide davon. Unter der düsteren Wolkendecke war es kaum mehr als ein bleicher Schemen.

»Bis Donnerstag«, wiederholte Leon fassungslos. »Aber das ist nicht mal mehr eine Woche!«

»Mehr kann ich nicht für Sie tun. Sie wissen, wie das läuft. Sie haben Ihre ganze wissenschaftliche Reputation in die Waagschale geworfen, um dieses Projekt durchzusetzen. Wenn ich mich nicht irre, sagten Sie: ›Die archäologische Überprüfung des Château de Chamilot wird alles, was ich bisher über den bretonischen Artus geschrieben habe, auf ein gänzlich neues wissenschaftliches Fundament stellen.‹ Sehen Sie zu, dass es für Sie nicht zum Menetekel wird.«

Leon hatte das Gefühl, als würde alle Kraft aus ihm schwinden. Bis Donnerstag! Damit hatte der Professor seinem Projekt im Grunde den Todesstoß versetzt.

»Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Dr. Weber. Auf Wiederhören.«

»Wiederhören«, murmelte Leon und steckte das Handy in seine Jackentasche. Er senkte den Blick. Minutenlang starrte er in den Regen, der die verfluchte Erde der Vendée allmählich in Schlamm verwandelte. Der Professor hatte keine Ahnung, was seine Worte wirklich bedeuteten. Hier ging es nicht nur um seine wissenschaftliche Karriere. Leon hob den Kopf und ließ den kalten Atlantikregen auf sein Gesicht prasseln. Dieses Projekt war alles, was er noch hatte.

Nach einem letzten Blick auf die düsteren Weiden ging Leon zu seinem Camper. Er zog sich trockene Sachen an und warf sich dann ein Regencape über. Er durfte sich nichts anmerken lassen. Wenn die Studenten erfuhren, dass das Projekt so gut wie gestorben war, würde die Stimmung kippen. Niemand würde sich mehr Mühe geben, und er konnte im Grunde genommen gleich alles zusammenpacken lassen. Aber solange alle motiviert weiterarbeiteten, bestand eine kleine Chance, dass sie doch noch Erfolg hatten.

Er stapfte zurück zur Grabungsstelle und ging zu den Stelltischen, auf denen seine Studenten die magere Ausbeute der letzten Stunden zusammengetragen hatten.

Leon holte tief Luft, nahm eine Keramikscherbe zur Hand, reinigte sie mit dem Pinsel von Erdresten und betrachtete sie unter dem Licht des Scheinwerfers. Schon eine halbe Minute später ließ er sie frustriert fallen. Das Fragment war neuzeitlichen Ursprungs, wahrscheinlich Anfang des 18. Jahrhunderts. Nun griff er nach einem rostigen Eisenteil, das vermutlich zum Zaumzeug eines Pferdes gehört hatte. Die ganze Zeit über versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, aber anscheinend war er kein allzu guter Schauspieler.

Emma, seine französische Kollegin von der Universität Nantes, stützte sich auf ihren Spaten und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Sie war groß gewachsen und hatte einen athletischen Körperbau. Ihr Trizeps zeichnete sich sehr deutlich an ihren muskulösen Armen ab.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich.

Leon brummte eine unverbindliche Antwort.

Emma rammte ihren Spaten in den Boden und schlenderte zu ihm herüber. Sie trug Jeans und ein ausgebleichtes T-Shirt und interessierte sich ganz im Gegensatz zu allen Vorurteilen über Französinnen in etwa so viel für Mode wie eine Kellerassel für die Aktienkurse an der Pariser Börse. Allerdings war sie eine hervorragende Triathletin und eine der angesehensten Expertinnen für spätantike und frühmittelalterliche Geschichte Mittel- und Westeuropas.

»Was bedrückt dich?«

Leon stützte die Hände auf den Tisch und starrte an ihr vorbei auf eine kleine Silbermünze, einen Denier aus dem 16. Jahrhundert. »Die Frage ist doch eher: Warum bist du nicht bedrückt?«, gab Leon zurück.

Emma lächelte. »Noch haben wir die Grabungen nicht beendet.«

»Ja, aber das ist pure Dickköpfigkeit. Wir haben nichts, absolut nichts!«

Emma setzte sich auf den Rand des Tisches und ließ die Beine baumeln. »Ich liebe meinen Beruf«, sagte sie. »Wir dürfen Menschen begegnen, die alle anderen auf diesem Planeten längst vergessen haben. Wir können in ihr Leben eintauchen und ein wenig an ihren Gedanken teilhaben. Wir lernen ihre Sorgen und ihre Träume kennen, und wir haben die Chance, von ihnen zu lernen, ein Privileg, das ihnen andererseits leider nicht vergönnt ist.«

»Emma, auch ich liebe meinen Beruf, aber«

»Wirklich?«, unterbrach sie ihn. »Dieser ganze Ort atmet Geschichte, und du bist so gehetzt, dass du seinen Geruch nicht einmal wahrnimmst.«

Leon versuchte, den aufkeimenden Zorn zu unterdrücken. »Vielleicht hast du recht, ich bin nicht annähernd so tiefenentspannt wie du, aber das mag daran liegen, dass ich für die Finanzierung dieses Projekts verantwortlich bin. Natürlich atmet dieser Ort Geschichte, aber es ist der falsche Atem, verstehst du?« Dann zischte er ihr zu, so leise, dass die Studenten ihn nicht hören konnten: »Dieses ganze Projekt ist ein einziges Desaster, und das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist ein romantischer Vortrag über die Schönheiten unseres Berufstandes. Hier geht es ums nackte Überleben!«

»Was ist passiert?«

Er seufzte. »Ich habe gerade mit Professor Degenhardt in Berlin telefoniert«

»Doktor Weber!« Die Stimme des jungen Studenten klang aufgeregt.

»Ja?« Leon warf seiner Kollegin einen kurzen Blick zu. »Wir reden später.« Er ging um den Tisch herum zu einer der Grabungsstellen. Das Château de Chamilot war eine sehr alte Burg, deren erste Bauten bereits im 5. Jahrhundert errichtet worden waren. Und das machte sie für Leon so spannend. Im Lauf der Jahrhunderte hatte sie eine wechselvolle Geschichte erlebt. Während der Hugenottenkriege Ende des 16. Jahrhunderts brannte ein Großteil der Burganlagen nieder. Nur ein Teil wurde wieder aufgebaut. Der Vendéekrieg, der zur Zeit der Französischen Revolution tobte, besiegelte dann das Schicksal der Festung. Sie diente als Stützpunkt und später auch als Gefängnis der Truppen des Nationalkonvents, bevor sie bei einem Eroberungsversuch der Vendéer vollständig zerstört wurde. Leon vermutete, dass der mächtige Burgfried das Munitionsdepot der Festung gewesen war. In jedem Fall war das Gebäude in einer gewaltigen Explosion regelrecht zerfetzt worden. Nur die Fundamente und letzte Überreste der Grundmauern waren erhalten geblieben. Und darauf konzentrierten sie ihre Forschung.

Die untersten Räume des Turms, ehemalige Vorratslager, waren später als Gefängniszellen genutzt worden.

Einer der Studenten kniete vor einer etwa ein Meter hohen Mauer und zog knapp über dem Boden behutsam einen lose sitzenden Stein heraus.

»Was haben Sie gefunden?«, fragte Leon. Sein Herz begann zu klopfen, als er zusah, wie der junge Mann einen weiteren Stein aus der Wand löste. Emma trat hinter ihn und lugte ihm über die Schulter. Auch die anderen Teammitglieder waren neugierig geworden.

»Hier ist ein Hohlraum.«

»Können Sie schon etwas erkennen?«, wollte Emma wissen.

Der Student nahm einen der Scheinwerfer und leuchtete in den Spalt. »Da ist irgendetwas!«

Emma warf Leon einen raschen Blick zu und lächelte ermutigend.

Der Student löste mit einem Schraubenzieher einen weiteren Stein. Er ging sehr behutsam und methodisch vor, eigentlich eine sehr lobenswerte Eigenschaft bei einem angehenden Archäologen. Dennoch verspürte Leon mehr als nur einen Hauch von Ungeduld. Schließlich handelte es sich hier nicht um zerbrechliche Knochenstücke oder poröse Papyri, sondern um massiven Granit.

Schließlich zog der junge Mann den Stein heraus und beugte sich vor.

»Und?«, rief einer seiner Kommilitonen.

»Eine Kiste oder so etwas Ähnliches. Ich zieh sie jetzt heraus.«

Leon schluckte. »In Ordnung.«

Mit größter Vorsicht brachte der junge Mann einen kleinen dunklen Kasten zum Vorschein, der ungefähr die Größe eines Schuhkartons hatte. Eine poröse dunkle Schicht bedeckte den Kasten, und man konnte Linien aus grünen, etwa daumennagelgroßen Metallköpfen erkennen.

»Was ist denn das für ein Zeug?«, fragte einer der Studenten, als etwas von der porösen Schicht abbröckelte.

»Leder«, entgegnete Leon und gab sich keine Mühe, die Bitterkeit in seiner Stimme zu verbergen. Er spürte die Enttäuschung wie einen Schlag in die Magengrube. »Verdammte Scheiße«, murmelte er.

Emma warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie sprang über die flache Mauer, kniete neben dem Studenten nieder und untersuchte behutsam den kleinen Kasten. »Das ist ein messingbeschlagener Koffer, vermutlich Eiche mit Leder überzogen, schätzungsweise aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.«

»Klingt eher nicht nach einem Hinweis auf die bretonische Besiedelung«, kommentierte eine junge Studentin lapidar.

»Vielleicht haben wir ja Glück und irgendein Graf hat sein Gold darin versteckt!«, rief ein anderer.

Emma hob den kleinen Koffer an. »Wohl kaum«, erwiderte sie mit schiefem Grinsen.

»Dann wenigstens einen guten Wein?«, bemerkte ein anderer.

Leon hörte dem Gespräch nicht länger zu. Ihm war nicht nach Scherzen zumute. Emma erwiderte irgendetwas, doch schon im nächsten Augenblick verstummte das Geplänkel.

Mehrere Dinge ereigneten sich kurz hintereinander. Zunächst hatte Leon das Gefühl, als würde der Boden unter seinen Füßen zittern. Ein mächtiger Donnerschlag zerriss die Luft, und das Licht ging aus. Zeitgleich streifte etwas seine Hüfte, und ein seltsamer Moschusgeruch drang ihm in die Nase. Er vernahm ein Geräusch, das er nicht einzuordnen wusste. Es ging unter im Trommelfeuer des Regens, der auf die Planen prasselte, und gleich darauf setzte aufgeregtes Stimmengewirr ein. »Was zur Hölle war das denn? Ein Erdbeben? Nur das Gewitter! Der Blitz hat eingeschlagen«

»Ist irgendjemand verletzt?«, rief Leon über den Lärm hinweg.

»Ich bin okay«, meldete sich eine Stimme.

»Ich auch«, sagte ein anderer.

Eine Taschenlampe leuchtete auf, und der Lichtstrahl huschte über blasse, erschrockene Gesichter.

»Alle sind in Ordnung«, meinte Emma und blickte von einem zum anderen.

»Gut«, sagte Leon. »Offenbar hat ein Blitzeinschlag die Stromleitungen lahmgelegt. Pawel, wir sollten am besten den Generator anschließen. Der Rest begibt sich bitte in die Wohnwagen. Das Gewitter ist direkt über uns, und ich will nicht, dass hier noch jemand vom Blitz erschlagen wird.«

Aufgeregt tuschelnd zerstreuten sich die Studenten. Emma stellte den Koffer auf den Tisch unter die schützenden Planen und sah zu Leon hinüber. »Ich komme mit euch!«

Er zuckte die Achseln. Die drei traten in den strömenden Regen hinaus. Draußen war es so düster wie in einem Kohlenkeller, und auch die Lichter der nächstgelegenen Gehöfte waren erloschen. Offenbar hatte der Stromausfall die gesamte Gegend getroffen. Hastig stapften sie durch den Matsch. Leon war dankbar, dass er daran gedacht hatte, sich ein Regencape überzuwerfen, denn die beiden anderen waren binnen weniger Augenblicke bis auf die Haut durchnässt. Als sie den LKW erreicht hatten, kletterten sie auf die offene Ladefläche, auf der noch immer sorgfältig verpackt der Generator stand.

»Ohne Kran kriegen wir das Ding nicht herunter«, meinte Pawel.

Leon seufzte. Der Kran befand sich am zweiten, größeren LKW, und der war derzeit Richtung Lyon unterwegs, da sie sich den Fuhrpark mit zwei weiteren Ausgrabungsprojekten teilten, um Kosten zu sparen.

»Dann lassen wir ihn eben hier auf der Ladefläche.«

»Geht das?«, fragte Emma.

Beide sahen Pawel an. Er war für die Logistik zuständig, kannte sich jedoch bedeutend besser mit Computern aus als mit den Maschinen fürs Grobe. »Ich wüsste nicht, was dagegen spricht«, sagte der junge Mann zögernd. Dann brach er plötzlich ab und schien noch einmal eine Spur blasser zu werden.

»Alles in Ordnung?«, fragte Emma.

»Ihr werdet das schon hinbekommen«, meinte Leon, der sich schon halb zum Gehen gewandt hatte. »Ich hole inzwischen die Leitung für den Verteiler, während ihr den Generator auspackt.«

»Ähm einen Moment noch, Leon!«

»Was ist denn?« Genervt wandte Leon sich um. Es war kalt und nass, das ganze Projekt ging den Bach hinunter, und seine Stimmung war auf dem Tiefpunkt angelangt. Zumindest glaubte er das in diesem Moment. Gleich darauf sollte er jedoch eines Besseren belehrt werden.

»Äh es ist so«, stammelte Pawel. »Im Grunde haben wir den Generator nur sicherheitshalber mitgenommen und dann stellte sich ja schon bald heraus, dass wir ihn eigentlich nicht brauchen, weil wir den Strom über das nächste Gehöft beziehen können. Nun ja es war natürlich nicht vorauszusehen, dass«

»Worauf willst du hinaus?«, unterbrach Leon ihn.

»Die Benzinkanister sind zusammen mit dem Lastwagen unterwegs nach Lyon.«

Leon stellte fest, dass seine Stimmung noch einmal beträchtlich tiefer sank. »Unterwegs nach Lyon«, wiederholte er mit Grabesstimme.

»Es tut mir leid.«

Leon presste die Lippen zusammen. Was konnten sie jetzt noch tun? Der Toyota fuhr mit Diesel. Sie hatten also nicht einmal die Möglichkeit, etwas aus dem Tank abzuzapfen.

»Jetzt guck nicht so. Es konnte doch niemand ahnen«, mischte sich nun auch Emma ein.

»Wisst ihr was«, unterbrach Leon sie, »vergesst es einfach. Ich fahre rüber zu Mathéo und frag, ob er einen Kanister für uns hat. Wenn wir ihm schon den Strom abkaufen, warum nicht auch etwas Benzin?«

»Es tut mir wirklich sehr leid«, beteuerte Pawel.

Leon brachte ein klägliches Lächeln zustande und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. Dann stapfte er zum Geländewagen, ließ sich auf den Fahrersitz sinken und schlug die Tür hinter sich zu. Endlich allein! Ihm war nach Schreien zumute, aber er schrie nicht. Stattdessen stützte er die Hände aufs Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe, über die in Bächen der Regen lief, in die Dunkelheit hinaus. Am Horizont flammten Blitze auf, und das Donnergrollen ließ den Boden des Wagens vibrieren. Der Duftbaum am Rückspiegel verströmte das Aroma von Limetten, und der Aschenbecher stank nach kaltem Rauch. Eigentlich war er seit gut drei Jahren Nichtraucher, aber vor ein paar Wochen hatte er wieder damit angefangen. Dieses Projekt war eine einzige Katastrophe. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen.

Schon während seines Studiums hatte Leon sich auf die romanisierten Kelten Galliens und Britanniens spezialisiert. Er hatte seine Doktorarbeit über die historischen Hintergründe der Artussage geschrieben und diese mit der geschichtlich verbürgten Person des Riothamus in Verbindung gebracht, die Mitte des 5. Jahrhunderts gelebt hatte. Dieser Name war eigentlich ein Titel, der so viel wie »höchster Anführer« bedeutete. Sehr wahrscheinlich war der Mann der letzte Heerführer Britanniens gewesen, der seine Truppen nach römischer Art organisierte. Dann wurde seine Hilfe auf dem Kontinent benötigt. Er kämpfte in Gallien gegen den Hunnen Attila und später gegen den westgotischen König Eurich. Im Allgemeinen ging man davon aus, dass er nach verlorener Schlacht in dem kleinen burgundischen Städtchen Avallon verstorben war.

Leons Doktorarbeit hatte breite Anerkennung gefunden. Beflügelt durch diesen Erfolg, hatte er sich dieser mysteriösen historischen Gestalt intensiver gewidmet. Bei seinen Nachforschungen war er auf eine glaubwürdige Quelle gestoßen, derzufolge Artorius, genannt Riothamus, sich als König der Bretonen an der französischen Atlantikküste niedergelassen hatte, und zwar sehr weit südlich, etwa auf der Höhe des heutigen Nantes. Dort hatte er die Feste Camelot erbaut. Als Leon den Hinweisen nachging, fiel ihm sofort die Namensähnlichkeit mit der Burgruine Château de Chamilot auf. Als er dann noch herausfand, dass man ganz in der Nähe britisch-römische Münzen gefunden hatte, die auf die Mitte des 5. Jahrhunderts datiert werden konnten, hatte er sich auf diese Entdeckung gestürzt und weitere Hinweise gefunden. Aber verifizieren konnte er seine Theorie nur, wenn er die Ruine genauer erforschte. Zwei Jahre intensiver Überzeugungsarbeit hatte es gekostet, bevor das Projekt Wirklichkeit wurde. Er hatte seine gesamte wissenschaftliche Reputation als Kenner der britisch-bretonischen Geschichte in die Waagschale geworfen. Und nun? »Gewogen und für zu leicht befunden«, murmelte er leise.

Eine plötzliche Bewegung riss ihn aus seinen Gedanken. Er glaubte, im Aufleuchten des Gewitters ein Tier vorbeihuschen zu sehen. Überrascht blickte er dem Schatten nach. Ein weiterer Blitz erhellte grell den Himmel, und er konnte eine große, zottige Gestalt hinkend im niedrigen Buschwerk verschwinden sehen. Ein Hund? Leon runzelte die Stirn. Das Biest war riesig gewesen, und seines Wissens gab es hier keine frei laufenden Hunde, aber seine Hand würde er dafür gewiss nicht ins Feuer legen. Er startete den Motor und wendete den Toyota. Die großen Räder des vierradgetriebenen Geländewagens wühlten im Schlamm, spritzten Matsch in hohem Bogen umher und kämpften sich hinauf zu dem mit riesigen Pfützen bedeckten Weg, der zu Mathéos Gehöft führte.