Leseratten Verlag

präsentiert

 

 

Backnang Stories 2016

 

Die 20 besten Weihnachtsgeschichten

des Schreibwettbewerbes

aus dem Jahr 2016

 

 

 

Marc Hamacher (Hrsg.)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Backnang Stories 2016

ISBN 978-3-945230-21-3

1. Auflage, Allmersbach im Tal 2016

 

Alle Rechte und Pflichten der jeweiligen Erzählung liegen beim Autor.

 

Bild: Tanja Hamacher

Cover: Marc Hamacher

Satz und Layout: Tanja und Marc Hamacher

Lektorat: Carina Bein, Marc Hamacher

Herausgeber: Marc Hamacher

 

 

© 2016, Leseratten Verlag, Allmersbach im Tal

 

www.leserattenverlag.de

 

 

 

Grußwort vom Juze

 

 

Grüß Dich, Du Leseratte oder Lesemäuschen,

 

Du hast den diesjährigen Band der Backnang Stories gekauft oder vielleicht sogar geschenkt bekommen. Da wir naturgemäß eher an der Flasche und weniger an der Tastatur begabt sind, wollen wir Dich hier auch nicht allzu sehr mit aufgeblasenen und blumigen Worten belästigen.

Wir als die Aktion Jugendzentrum Backnang e.V. anno 1971, ältestes noch bestehendes selbstverwaltetes Jugendzentrum der BRD, leisten schon immer einen großen Beitrag zur Kultur in Backnang. Sei es durch die seit über 30 Jahre stattfindende Juze Murr-Regatta, die Jugendmeile am Straßenfest, unser Beats for Freaks-Festival oder die unzähligen Konzerte in unseren heiligen Hallen. Upps, die aufgeblasenen Worte sollten doch erst nach unserem Grußwort kommen. Entschuldigung, aber das passiert uns manchmal, wenn es um unser geliebtes Juze geht. Jetzt ist aber Schluss damit. Wenn du mehr Beweih- räucherung (#Weihnachten) unsererseits hören möchtest, wende Dich an unseren Vorsitzenden. Der macht das gerne während einer kleinen Audienz, immer am Sonntag um 19 Uhr. :)

Wir hatten im Juze auch immer literarische Beiträge. Diese trugen jedoch nicht unbedingt das Prädikat kulturell wertvoll. Deshalb waren wir eher skeptisch, als Marc vor circa drei Jahren zu uns kam und uns von seinen Plänen erzählte: Wir sollen einer der Lesungsorte für die Backnang Stories werden.

 

 

 

Zunächst waren wir zweifelnd. Könnte das funktionieren? Trauen sich überhaupt „normale“ Bürger in unsere Hallen? Und wie reagieren unsere Stammgäste auf den literarischen Overflow? Diese Skepsis war schnell völlig verflogen. Wir schauen auf zwei erfolgreiche Lesungen zurück. Die Stimmung war hervorragend und geprägt von Freundlichkeit und gegenseitigem Respekt. So freuen wir uns auf eine weiter erfolgreiche Zusammenarbeit, den Beginn einer hoffentlich jahrhundertelangen Tradition. :)

Wir wollen uns ganz herzlich beim Leseratten Verlag bedanken, der diese Buchreihe auf den Weg gebracht hat. Weiter natürlich auch ein Dank an die Jury, welche aus Hunderten von Einsendungen in zeitintensiver Detailarbeit die besten Geschichten ausgesucht hat und – natürlich – vor allem bei Euch, den Autorinnen und Autoren – Jungs und Mädels, Ihr seids do Hammer!

Jetzt bleibt uns ja eigentlich nur noch zusagen:

Im Juze rauchts, im Juze schdägds, scheiss egal, Lessa bregts.

 

Euer Juze

 

 

 

Vorwort

 

Oh, du wunderbare Weihnachtszeit! Ich denke, dass jeder Mensch eine andere Verbindung zu diesen Feiertagen hat. Manche sehen es sehr religiös. Für andere ist es einfach nur Stress. Manche Familien finden nach langer Zeit der Trennung wieder zusammen – manchmal für immer. Und es soll auch Menschen geben, die sich auf diese Tage freuen, nur um mal von der Familie wegzukommen und einen Cocktail (oder zwei oder drei) an irgendeinem Strand dieser Welt zu schlürfen. Doch bei all den Unterschieden haben alle etwas Gemeinsames: Man reflektiert, denkt über das Jahr und das Leben nach und zieht sein Fazit daraus.

Meine Weihnachtsfeiern waren früher immer mit viel Musik verbunden. Bei anderen Familien ist es Tradition, dass man sich kurze Weihnachtsgeschichten oder Gedichte vorliest. Nach zu vielen Wieder- holungen von Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte fragt man sich dann aber doch, ob es nichts anderes gibt. Deswegen hab ich die Idee verwirklicht, ein Buch mit lauter Weihnachtsgeschichten als Sonderausgabe der Backnang Stories zu veröffentlichen. So hoffe ich, dass wir als Verlag ein Stück unterhaltsame Heimat unter Ihren Baum legen können.

Die Mischung der Genre ist – wie immer – bunt. In diesem Buch finden sich nachdenkliche, aber auch humoristische Weihnachtsgeschichten. Sie spielen in der Vergangenheit, in der Gegenwart, aber auch in der fernen Zukunft.

An dieser Stelle geht mein Dank zunächst wieder an alle Autorinnen und Autoren, die sich bei dem Wettbewerb beteiligt haben. Dann danke ich der Jury: Eldrid Ehlers, Cornelia Floeth, Andreas Nawrot, Karin Riefert, Katharina Vent, Kerstin Wenger und Stephan Wonczak, welche sich durch zahlreiche Skripte gekämpft haben. Dank an die Sponsoren der Preise, die bei den entsprechenden Geschichten erwähnt werden. Aber auch an jene lokale Unterstützer, welche dem Verlag mit Rat, Raum, Zeit und dem Platz für Flyer und Werbeplakate helfen. Mein besonderer Dank gilt in diesem Jahr der Gang des Juze in Backnang. Nicht nur für das einleitende Grußwort, sondern auch für die lässige chillige Zeit während unserer Lesungen im Vereinsheim, wo wir immer das Ende unserer Lesetour kurz vor Weihnachten verbringen.

Zum Ende hin: Ja, auch 2017 wird es wieder Backnang Stories geben. Alle Details für unsere Ausschreibungen findet Ihr unter:

 

www.leserattenverlag.de

 

 

Marc Hamacher

Leseratten Verlag

 

 

 

 

Marcus Burkhardt

 

Marcus Burkhardt, seines Zeichens Weltklassemusiker bei Geddess, Zucker für die Ohren und Gabriella-Männer der Tat, Fernsehstar (37Grad ZDF), und nun auch Autor. Nebenher macht er noch »Schrottkunst«  und Spray Paint Bilder. Er wurde am Tage 2441462 des julianischen Kalenders in der Stadt der Goldschmiede geboren. Er ist mit der tollsten Frau der Welt  verheiratet, die ihm immer zur Seite steht und ihn bei allem unterstützt. 

 

 

 

Trompetensolo

 

Sie alle kennen das. Man fragt sich: Wie um alles in der Welt komme ich hierher? In eine Oh-Gott-ist-mir-das-peinlich-Situation. Ich versinke am besten gleich mal im Erdboden!

Und man denkt noch: Sollte nicht ich eigentlich derjenige sein, der sich das Ganze aus sicherer Distanz und mit einem Grinsen hoch zehn im Gesicht betrachtet? Und das mit einem Bier, oder der Jahreszeit angepasst, vielleicht doch eher mit einem heißen, nach Sternanis, Zimt und Nelken duftenden Glühwein in der Hand und im Kreise meiner Freunde? Mit erhobenem Finger auf den armen Kümmerling zeigend und rufend: »Seht euch den mal an!« Und während sich immer mehr Menschen dem Geschehen zuwenden, zufrieden mit der Welt nochmals an dem wunderbar wärmenden Getränk in meiner Hand nippend.

Nun … nein. Nein, dem sollte diesmal wohl nicht so sein. Denn das Leben ist grausam. Und das Schicksal launenhaft. Nein … boshaft. Nein … grauenboshaft. Oder besser grauenboshaftböse.

Denn als ich die Augen aufschlug, konnte ich immer wieder nur das denken: Oh mein Gott! Was ist nur passiert? Wie um alles in der Welt … nein, wie um alles im Universum komme ich hierher?

Nackt mit weit ausgebreiteten Armen, die Hüfte an die Brüstung gepresst, auf dem Stadtturm in Backnang stehend! Im Winter. 30 Meter über der sich auf dem Weihnachtsmarkt amüsierenden Menge.

Schneeflocken umtanzten mein Haupt, erhellt durch den Strahler, der den Turm in ein feierliches Licht tauchen sollte. Oder mich. Dessen war ich mir in dem Moment nicht so sicher. Winzige Punkte auf meinen Armen und senkrecht abstehende Haare zeigten mir, dass meine Haut der eines Vogels glich. Eines gerupften Vogels. Eines nackten, gerupften Vogels. Eines nackten, gerupften - leider nicht unsichtbaren - Vogels. Ich war aber keiner – zumindest noch nicht. Ich fror und dachte so bei mir: Jeder andere Mann, der dich grad so sieht, würde dich fragen: »Naaa, is dir kalt?«

Nichts, aber auch gar nichts ließ sich in diesem Moment schönreden. Doch. Halt! Eines will ich hier nicht verschweigen. Immerhin war trotz der Kälte und der Nähe zur Brüstung mein bestes Stück nicht am Geländer angefroren.

Das Einzige, was wenigstens im weitesten Sinne zu meiner Beruhigung beitrug, war der Gedanke: Sicher schaut in diesem Moment gar keiner nach oben! Sicher sind alle 10.265.546 Menschen da unten anderweitig beschäftigt. Und sicher würde keiner, wenn er mich hier so stehen sähe, den Finger erheben und alle auf mich aufmerksam machen!

Sicher doch. Gaaanz sicher. So sicher wie das Amen … ach, lassen wir das. Denn als mein Hirn – sich gerade vom Schock erholend – wieder einigermaßen im Stande war, dem Rest meines erstarrten Körpers Befehle in Form von „Bewege dich nun ganz langsam nach hinten. Nimm die Arme herunter! Begib dich durch die Turmtüre ins Innere! Suche deine Kleider! Steige die Stufen hinab, mische dich unters Volk und tu so, als sei aber so was von gar nichts gewesen!" zu geben, da öffnete sich eben jene schlichte, eigentlich recht harmlos aussehende Tür. Durch diese kleine, böse Warum-ist-die-eigentlich-nicht-verschlossen Tür kamen die Weihnachtsbläser des Musikvereins, um die festliche Stimmung unten auf der Marktstraße mit einer besinnlichen Weihnachtsmelodie noch zu vertiefen.

Das ist übrigens normalerweise einer der Momente, die ich auf Weihnachtsmärkten besonders liebe. Dicht an dicht stehen die Menschen zusammen. Die Musiker betreten den Turm, die Bühne oder eine Mauer. Die Menge beobachtet sie und wird langsam still. Alle warten auf den Moment, in dem das Musikspiel beginnt. In trauter Feierlichkeit lässt man sich vom Geist der Weihnacht einfangen und lauscht den Klängen, während die Luft vom Duft nach Nelken und Zimt, nach Sternanis und Orange, nach Lebkuchen und Wein durchzogen ist. Ja. So ist das normalerweise. „Normalerweise" war hier heute leider gar nichts.

Nachdem sich also somit nun „Keiner-sieht-nach-oben" in die ewigen Jagdgründe verabschiedet hatte, meldete sich sein Bruder „Gaffender Musiker" umso lauter zu Wort. Der Anblick von fünf fast bis zum Boden geöffneten Mündern hätte normalerweise ganz sicher extrem zu meiner Belustigung beigetragen, wäre nicht ausgerechnet ich deren Grund gewesen. Mit einer Geistesgegenwärtigkeit, die ich mir selbst nicht zugetraut hätte, schnappte ich beim Versuch, meine Blöße zu verdecken, das Erstbeste, das ich in die Finger bekommen konnte: die Trompete des Solisten.

Mit der Trompete vorn an atmete ich einmal tief durch, nur um dann zu bemerken, dass sich dadurch mein Anblick nicht unbedingt zum Besseren gewendet hatte. Hätte ich genau in diesem Moment einen Ton herausgebracht – aus dem Mund, nicht der Trompete - , mir wäre nichts eingefallen, das irgendwie zur Verbesserung meiner Situation beitragen hätte.

Die Schockstarre der Musiker verschaffte mir zwar eine Gnadenfrist, aber selbst ich war mir bewusst, dass dies nicht lange so bleiben würde. Nun zählt Denken auch nicht gerade zu meinen Stärken. Schon gar nicht bei minus 10 Grad, nackt und nur mit einer Trompete bewaffnet auf dem Stadtturm.

Also ich gebe ja zu, eigentlich war der Anblick der Musiker schon Gold wert. Der Mann mit der Tuba – sein Mund war fast so groß wie der Auslass seines Instrumentes. Die Frau und der Mann an den Hörnern … als hätte ihnen jemand ebensolche aufgesetzt. Der trompetenlose Trompeter … nun ja, recht einsam ohne sein Instrument. Am schönsten fand ich allerdings die Posaunistin. Irgendwie hat sie es in der ganzen Situation geschafft, ihre Posaune in zwei Teile zu zerlegen, die sie nun mechanisch wieder zusammenzusetzen versuchte. Scheppernd trafen die zwei Teile bei jedem Versuch, sich irgendwie wieder zu einem Ganzen zu verbinden, aneinander. Und das tat sie mit ebenfalls weit geöffnetem Mund, den Blick starr auf meine Trompete gerichtet. Ja, echt Gold wert. Eigentlich. Aber irgendwie doch eigentlich eher nicht.

Im Nachhinein betrachtet hätte ich besser schweigen sollen. Also, ich wollte eigentlich nichts gesagt haben, aber mein Unterbewusstsein hatte wohl den Drang zu kommunizieren. Und so hörte ich, wie ein leises und stockendes »Guten Abend!« meine Lippen verließ.

Man beachte, dass mein Unterbewusstsein scheinbar sogar die Tageszeit kannte. Respekt! Ich war ja schon froh zu wissen, wo ich war. Sauerstoff in der Luft, Schwerkraft vorhanden … ERDE.

Nun, auf jeden Fall schienen diese zwei Worte das Eis gebrochen zu haben, denn was nun folgte war eine ganz normale Begrüßungszeremonie, wie sie gang und gäbe ist. Scheinbar wollte ein jeder so tun, als sei hier alles völlig normal auf unserem Stadtturm. Nichts Besonderes eigentlich an einem Mann mit Trompete vorne an.

Nun, als jede Hand geschüttelt, jedes »Guten Abend« gesprochen war und sich die Prozedur langsam dem Ende neigte, war ich durch das Händeschütteln – natürlich völlig unbeabsichtigt - der Türe um einiges näher gekommen. Nun zeigte der Trompeter durch leichtes Gestikulieren jedoch an, er wolle wohl sein Instrument wiederhaben. Zumindest deutete ich sein Kopfnicken, mit gleichzeitigem Augen auf die Trompete richten, als solches. Das kam ja mal gar nicht in Frage. Zumindest nicht für mich.

Das folgende Gerangel um die Trompete lässt sich kurz wie folgt beschreiben: Bekommst Schlag auf Finger, wenn du versuchst, Trompete zu nehmen!

Erfolgreich wehrte ich, mit dem Rücken zur Wand, jeden Versuch ab, mir meinen blechernen Schutz zu entreißen. Von der Kälte spürte ich zu dieser Zeit auch nichts mehr. Macht ganz schön warm so ein kleiner Trompetenringkampf. Ha! Nennt mich den Verteidiger der Trompete, Beschützer von Witwen und Waisen und … ähm, okay. Entschuldigen Sie bitte. Manchmal geht es etwas mit mir durch und ich drifte ab.

Aber wo wir schon dabei sind: Ist es nicht das, was wir haben wollen? Eben dieses Abdriften? Das Besondere, oder gar das Absondere? Ist es nicht so, dass wir in eine Welt abtauchen wollen, die uns der Realität entreißt?! Das Normale hat man doch selbst. Jeden Tag, jede Stunde, ja jede Minute des Lebens ist normal. So ist das Leben nun mal. Genau deswegen lesen wir doch. Heraus aus dem Alltäglichen! Heraus und hinein! Hinein in die Sage, die Mär von Ungeheuern und Helden. Jaaa, ich bin hier der Held, aus dem Legenden werden! Ich bekämpfe Windmühlen aller Art. Ich trotze Sturm, Wind und Hagel, um meine Prinzessin zu freien! Ja! Seht her - so bin ich in Wirklichkeit: wild, tollkühn, unbezwingbar. Genau darum lesen wir. Die Identifikation mit dem Held der Geschichte, die Identifikation mit dem Schrecken der Bösen, die Identifikation mit … mir. Womit wir wieder beim Thema wären.

Heldenhaft verteidigte ich den Überrest meiner Ehre. Nieder mit dem Trompeter! Mann gegen Mann stand ich aufrecht und wehrte Angriff um Angriff ab. Ziehend und zerrend standen wir uns gegenüber. Auge in Auge. Die Trompete als letzter Schild zwischen uns. Es hätte mich nicht gewundert, wäre sie entzweigerissen. Mit jedem abgewehrten Versuch stieg mein Selbstvertrauen. Ich bin unbezwingbar! Ein lautes »Hahaaa!« schallte durch die Luft. Es war allerdings nicht meines.

In der Realität entwand mir der Trompeter schon beim ersten Versuch das Instrument, holte einen Lappen und Poliermittel aus einem Koffer und brachte das gute Stück auf Hochglanz.

Aufrecht stehend traf es in meinem Fall auch nicht so ganz. Eher gebückt. Oder tief in mich zusammengesunken in der Hocke. Die Hände vorm Gemächt verschränkt. Doch. Ja. Das traf es eher. Haben Sie übrigens im Fluss des Lesens den Satz „Die Hände vorm Gemächt verschränkt" bemerkt? Wie dieser schlichte Satz so fließend, ganz ohne Stocken zu ihnen rüber kam. „Die Hände vorm Gemächt verschränkt."

Ich gebe zu: Inhaltlich lässt dieser Satz doch einiges zu wünschen übrig. Die Tiefe. Die Aussagekraft. Das ist doch ziemlich trivial. Und auch die Bedeutung. Jeder, der die einzelnen Worte kennt, weiß sofort, was mit diesem Satz gemeint ist. Hände – verschränkt - vorm Gemächt. Und dann ist da dieses absolut harmonische Ineinandergreifen der einzelnen Worte. Diese unsichtbare Bindung von Buchstaben und Leerzeichen, die einem von der Zunge gehen wie flüssiges Karamell: „Die Hände vorm Gemächt verschränkt." Ich sehe schon bildlich die Assoziationen im Kopf meiner Leser. Flüssiges Karamell und Gemächt. Diese süße und verruchte …  oh Gott! Jetzt nur nicht daran denken! Aber ich hab recht, stimmt’s? Ein Bild, das Sie von nun an verfolgen wird. Keine süßen Naschereien mehr, ohne dieses Bild vor Augen. „Karamellisierte Bananen" treiben Ihnen Schweißperlen auf die Stirn. Von nun an werden Wörter wie „Gemach" oder „Karamell" und auch ähnlich verwandte Wörter diesen Gedanken hervorrufen! Sie werden erstaunt sein, wo sich diese Worte überall verstecken. Seit die Haute Cuisine Deutschland in jeder Fernsehsendung erreicht hat, wird alles „karamellisiert". Und Sie werden hinhören. Ganz genau. »Was hat der da drüben gerade gesagt? Ich hab genau „Gemächt" und „Karamell" gehört.«

Sie werden mich verfluchen und mir, für dieses Bild im Kopf, alles Mögliche wünschen. Und das nur, weil ich auf so geschickte Art und Weise vom ursprünglichen Thema abgelenkt habe. Sie haben mich und den Stadtturm glatt vergessen? Richtig! Sie waren so sehr mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Tja. Das ist wahre Kunst. Den Leser auf Gleise führen, die er gar nicht zu befahren beabsichtigte. Und meine Ablenkung hätte auch funktioniert, hätte ich mich nicht durch meine eigene Erklärung verraten.

Nun denn, zurück zu dem nackten Mann auf dem Backnanger Stadtturm!

Auch von heldenhaft war ich relativ weit entfernt. Alle Trompeten bliesen eher zum Rückzug. Man beachte hier den Wortwitz. Tätärätäää!

Ich hatte echt keinen Schimmer mehr, wie es weitergehen sollte. Links von mir: Musiker. Rechts von mir: Musiker. Vor mir: ein Geländer und danach nur Leere. Und hinter mir: die Mauer vom Stadtturm. Und so langsam wurde mir auch wieder kalt. Noch kurze Zeit und eine Trompete wäre völlig überflüssig. Und immer noch dieses Rätsel, wie ich überhaupt hierher kam. Wie kommt’s eigentlich? Wobei … so ein leiser Gedanke schlich sich in meine Gehirnwindungen … ganz langsam schälte sich etwas aus der Tiefe meiner Gedanken. Erst nur sehr vage, doch dann immer klarer. Einzelne Szenen fügten sich zu einem Bild: Aufgestanden, angezogen und Zähne geputzt. Auf den Weihnachtsmarkt gegangen. Freunde getroffen. Glühwein getrunken. Am Glühweinstand getanzt. Oh je! Glühwein mit Peng getrunken. Weiter getanzt. Und gesungen. Glühwein mit viel Peng getrunken … ach du Schande … und dann war da doch auch irgendwas mit »Wetten, dass du dich nicht traust …« Oh neeeiiin!

Erneut öffnete sich die Tür des Stadtturms und mir kam der Gedanke: Sind wir hier auf einer Ausstellung? Das gibt’s doch nicht. Doch es war glücklicherweise nur der Dirigent. Sonst niemand.

Oh! Nur der Dirigent!

Jetzt bloß keine Panik.

Oh je! Nur der Dirigent!

Das bedeutete, gleich ging das hier los! Das Weihnachtsspiel würde beginnen. Und sollte bisher da unten auf der Marktstraße, aus welchen Gründen auch immer, noch keiner was bemerkt haben, gleich würde er oder sie es mit Sicherheit! Gleich würden 453.569.543.986 Menschen, Freunde und Feinde, mich hier stehen sehen. Oder hocken. Gleich würden alle in erstauntem »Ooohhh« einträchtig vereint sein, bevor sie in ein schallendes »ha ha ha« einstimmten. Gleich würden Scharen von Blitzlichtern aus Kameras, Handys und was weiß ich was auf mich gerichtet sein. Ein digitales Gewitter würde über mich hereinbrechen. Oh Gott! Und die Zeitung! Gleich würde jeder BKZ-Leser, jeder Rems-Murr-Kreisler, nein, die ganze Welt würde mich und mein bestes Stück kennen, gleich würde …

Schweißgebadet schreckte mich der Wecker aus dem Schlaf. Mein Herz schlug ein Stakkato im 180er Takt. Klitschnass lag ich in meinem Bett, die Decke in einem Knäuel um mich gewickelt. Das Fenster weit offen und mir war kalt. Richtig kalt. Von innen und außen. Keine Trompete nötig.

Langsam gewann allerdings die Realität die Oberhand und ich kam immer mehr zu mir. Mein Herzschlag beruhigte sich und ich begriff die Absurdität meines Traumes. Meines Albtraumes.

Ich wischte mir den Schweiß vom Gesicht, enthedderte meine Decke, stand auf und schloss das Fenster. Noch etwas zittrig schlurfte ich ins Bad und ging unter die Dusche. Ich musste mich etwas beeilen. Es war ja schon halb fünf am Abend. In einer Stunde war Treffpunkt. Schnell zog ich mich an, nahm Mantel und Schal vom Haken, nahm den Koffer mit meiner Trompete und machte mich auf den Weg. Denn heute war schließlich Weihnachtsmarkt in Backnang.

 

 

 

 

Tabea Ebinger

 

Tabea Ebinger geht eigentlich in Backnang zur Schule, ist dort aber momentan nicht anzutreffen, da sie aus ihrer gewohnten Umgebung „geflohen“ ist. Sie liebt Sprachen und verbringt deshalb ein Austauschjahr in den USA. Außerdem mag sie Musik sehr und spielt Querflöte und Klavier.

Weihnachten ist eine ihrer liebsten Zeiten im Jahr und sie freut sich schon, das Ganze dieses Jahr auf amerikanisch zu erleben.

 

 

 

Wir gratulieren ihr mit:

»Geborgen«

zum 1. Platz in der Kategorie unter 18 Jahren

und wünschen ihr weiterhin viel Erfolg.

 

Der Preis wurde mit freundlicher Unterstützung gesponsert:

 

 

 

 

Geborgen

 

Es begab sich zu der Zeit, als Angela Merkel noch Kanzlerin von Deutschland war und Frank Nopper als Oberbürgermeister über Backnang herrschte. Wir schreiben den 24. Dezember 2016.

 

»Ihr müsst einfach dieser Straße folgen, an der zweiten Kreuzung rechts abbiegen und dann kommt ihr zur Unterkunft. Das Zelt ist nicht zu übersehen. Alles Gute mit dem Baby und frohe Weihnachten!«, hatte der Lastwagenfahrer noch gesagt, als er das junge Paar an der B14 aussteigen ließ.

Mariam und Ilias hatten ihr Glück bereits in der großen Unterkunft in München versucht, nachdem sie es über die österreichische Grenze geschafft hatten. Doch dort waren sie in die Landeserstaufnahmestelle, kurz LEA, nach Karlsruhe geschickt worden. Da hatte man sie nur noch verzweifelt fortgeschickt – kein Platz mehr. Es täte ihr sehr leid, hatte die Frau gesagt, aber man könne nichts tun.

Mutlos hatten sie sich an die Straße gestellt, in der Hoffnung, dass irgendjemand sie mitnehmen würde. Irgendjemand. Irgendwohin.

Dabei suchten sie doch nur einen sicheren Ort, wo ihr kleiner Sohn auf die Welt kommen konnte, denn es dauerte nicht mehr lange, das spürte Mariam ganz deutlich. Und Ilias konnte es aufgrund ihres regelmäßigen schmerzerfüllten Stöhnens erahnen.

Während sie auf das gelbe, eingeschneite Ortsschild mit der Aufschrift Große Kreisstadt Backnang, Rems-Murr-Kreis zugingen, sahen sie nichts von dem, was sie umgab. Nicht den Schnee, der in dichten Flocken vom Himmel fiel. Sie spürten nicht den eisigen Wind, der durch die Straßen wehte. Sie achteten auch nicht auf die Glocken, die den Beginn des Heiligabend-Gottesdienstes verkündeten. Die beiden waren ganz in ihre eigene Welt versunken, während Ilias seine schwache Frau stützte und die beiden sich die Straßen entlangschleppten.

 

In Gedanken sah Ilias wieder die fliegenden Trümmer vor sich. Und dann, wie er seine Frau weggezogen hatte. Weg von dem Haus ihrer Eltern, in dem ihre Familie war, als es in sich zusammenfiel. Es hatte einen lauten Knall gegeben und dort, wo er gestern noch mit dem kleinen Neffen gespielt hatte, blieb nichts als ein Schutthaufen.

Das war zu viel.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er den Entschluss gefasst zu fliehen. Sie hatten alles zurückgelassen. Seine Familie, das neu gebautes Haus, ihre Freunde, die kleine christliche Gemeinde, die dort, mitten in Syrien, eine Botschaft der Hoffnung verbreitete, in all dem Leid. Was sie wohl morgen, zum syrischen Weihnachtsfest taten?

Er musste seine Frau schützen, deshalb waren sie gegangen. Er hatte das Leid nicht mehr ertragen können. Und jetzt, am Ziel ihrer Träume? Nichts als Ablehnung. Die Menschen sagten, es gäbe keinen Platz mehr in ihrem Land. Dabei besaßen doch viele von ihnen ein Haus oder zumindest eine Wohnung. So viel wollte er doch gar nicht. Nur einen sicheren Ort, an dem sie bleiben konnten.

Nun hatten sie die Straße erreicht, in die sie abbiegen sollten. Der Boden war vereist und Mariam stürzte fast.

Weit entfernt sah sie schon das Licht vom großen Zelt, das neben der Turnhalle, die ebenfalls als Flüchtlingsunterkunft diente, auf dem Gelände des beruflichen Schulzentrums stand.

Wird man uns dort helfen?, fragte sie sich. Warum Gott, warum? Wo soll unser kleiner Sohn nur geboren werden? Hilf uns!

Sie erinnerte sich an den Traum, den sie letzte Woche gehabt hatte. Sie hatte eine Stimme gehört, die sagte: »Lea wird euch helfen.« Sie war sich sicher gewesen, dass das ein Hoffnungszeichen von Gott gewesen war. Aber man hatte sie in Karlsruhe nicht aufgenommen.

Was wird morgen sein? Herr, wir brauchen deine Hilfe!, betete sie im Stillen. Sie wollte die Hoffnung nicht verlieren. Heute war doch Weihnachten. Die Menschen feierten überall, dass Jesus auf die Erde gekommen war, wenn er auch für sie gekommen war, dann musste er ihr doch helfen.

Noch bevor sie das Ende der Straße erreicht hatten, kam ihnen ein Mann entgegen.

»There’s no place left! Go back! Go to a different place«, sagte er und wollte sie nicht durchlassen.

Doch so kurz vor dem Ziel wollte Ilias nicht aufgeben. Er nahm seine hochschwangere Frau auf die Arme und trug sie bis zum Eingang des Zeltes. Aber hier bestätigte sich, was der Mann gesagt hatte. Das Zelt war heillos überfüllt. Es gab keinen Platz mehr für sie. Verzweifelt gingen sie die Straße zurück und machten sich unbewusst auf den Weg in Richtung Innenstadt.

Mariam schrie leise auf, als eine Wehe ihren Körper durchfuhr.

Ilias liefen die Tränen übers Gesicht. Wie sollte er seiner Frau nur helfen? Sie waren beide schon völlig unterkühlt. Wenn nicht bald etwas geschah, würde ihr Kind hier draußen in der eisig kalten Nacht zur Welt kommen. Und Mariam würde wahrscheinlich sterben!

Mariam konnte kaum mehr sehen, wohin sie ging, sie war viel zu erschöpft. Das Zelt in Backnang, dieser fremden Stadt, so weit von ihrer Heimat entfernt, war ihre letzte Hoffnung gewesen, denn sie waren zu erschöpft, um es noch woanders hinzuschaffen. Sie fühlte sich so verloren. Sie sehnte sich nach Geborgenheit.

Als sie weiter die Straße entlanggingen, vorbei an Straßenlaternen, die helle Flecken auf den schneebedeckten Weg warfen, wurde sie plötzlich von einem unerklärlichen Frieden erfüllt.

Mittlerweile befanden sie sich nicht mehr weit von der Innenstadt entfernt. Sie waren der Straße gefolgt und irgendwann hatte diese einen Knick gemacht. Jetzt durchquerten sie einen Fußgängertunnel, der unter der S-Bahn-Linie hindurchführte, was die beiden natürlich nicht wussten. Sie zuckten zusammen, als ein Zug mit lautem Donnern über ihre Köpfe hinwegrumpelte. Als der Lärm des Zuges verstummt war, hörten sie den sanften Klang der Kirchenglocken. Dieses Mal war es die Vater-Unser- Glocke, die zu dem Gebet, kurz vor dem Ende des Gottesdienstes, geläutet wird. Mariams Herz machte einen Sprung. Nun wusste sie, dass Gott sie nicht vergessen hatte.

»Die Kirche«, brachte sie mit zitternden Lippen hervor.

»Was?«, fragte Ilias und beugte sich zu seiner Frau herunter, um ihre leisen Worte zu verstehen.