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Cover

Vorspann

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Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Band 63

 

Die Sternengötter

 

von Dennis Mathiak

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

Als der Astronaut Perry Rhodan im Juni 2036 zum Mond aufbricht, ahnt er nicht, dass sein Flug die Geschicke der Menschheit in neue Bahnen lenken wird.

Rhodan stößt auf ein Raumschiff der technisch weit überlegenen Arkoniden. Es gelingt ihm, die Freundschaft der Gestrandeten zu gewinnen – und schließlich die Menschheit zu einem einzigen, freiheitlichen Staat zu einen: der Terranischen Union.

Damit hat Perry Rhodan das Tor zu den Sternen geöffnet. Doch die neuen Möglichkeiten bergen neue Gefahren: Von dem Gelehrten Crest da Zoltral erfährt er, dass die Koordinaten der Erde im Epetran-Archiv auf Arkon gespeichert sind. Mit einigen Gefährten startet Rhodan unverzüglich ins All. Er muss die Koordinaten löschen, bevor sie in die falschen Hände geraten und die Flotte des Großen Imperiums die Erde zerschmettert.

Heimlich dringen Rhodan und seine Kameraden in den Kristallpalast auf Arkon I vor. Doch der Regent stellt sie. Ihnen bleibt nur die Flucht – und die Hoffnung auf die geheimnisvollen Sternengötter ...

»Das ist nicht gerecht!«

»Was ist nicht gerecht?«

»Dass Dad pleite ist! Und solche Sachen ... Wir sind keine schlechten Leute, warum passiert uns so etwas?«

»Sieh mal, Gerechtigkeit ist eine Erfindung der Menschen. Das Leben schert sich nicht darum. Alles, was du und andere tun oder nicht tun, hat Einfluss auf das, was geschieht oder nicht.«

»Dad hat doch nichts Falsches getan! Oder?«

»Das liegt im Auge des Betrachters. Richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht – jeder sieht das anders. Wichtig ist nur, dass du eines weißt: Egal, was man dir sagt, du hast immer die Freiheit, das zu tun, was du für richtig hältst.«

»Selbst, wenn man mich zu etwas zwingt?«

»Selbst, wenn das einer versucht. Du hast immer die Wahl. Nur über die Konsequenzen musst du dir bewusst sein.«

»Immer, Onkel Karl?«

»Immer, Perry!«

 

 

1.

Flucht aus dem Kristallpalast

 

»Das ist nicht gerecht«, flüsterte Ishy Matsu.

Perry Rhodan blieb neben der Japanerin stehen. Im kalten Licht der Gangbeleuchtung wirkte ihre Haut bleich. Eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn, warf ein Schattenspiel auf Ishys Gesichtszüge. Tränen waren zu salzigen Spuren auf den Wangen getrocknet. Die mandelförmigen Augen glänzten.

»Sei stark!« Rhodan ergriff Ishys Schultern. »Wenn uns die Flucht nicht gelingt, ist unsere Suche nach dem Epetran-Archiv gescheitert. Du hast Iwans Botschaft gehört. Wir dürfen nicht aufgeben. Das schulden wir ihm.«

Er sah sich um. Der lange, leicht gebogene Gang war menschenleer, der Boden mit schwarz glänzenden Fliesen ausgelegt, die Wände fugenlos weiß. Die Decke leuchtete gleichmäßig grell. Hundert Meter hinter ihnen hatte sich die Tür des Fahrstuhls geschlossen, mit dem sie aus dem dreiundachtzigsten bis in das zweiundvierzigste Untergeschoss des Gos'Khasurn hinaufgefahren waren, immer in Furcht vor der Palastgarde, die der Regent auf sie angesetzt hatte.

Ishy Matsu kniff die Augen zusammen. »Iwan ist tot. Nichts kann ihn wieder lebendig machen.«

Chabalh war ebenfalls stehen geblieben. Er trottete zu ihnen. Der Purrer stellte sich neben Rhodan und Ishy Matsu, seine Schnurrhaare vibrierten, die Pupillen zuckten auf der Suche nach Gefahr hin und her.

»Das ist richtig. Niemand kann Iwan wieder lebendig machen.« Rhodan drückte fester zu. »Wenn du jetzt aufgibst, war Iwans Opfer umsonst.«

Chabalh stupste die Japanerin mit seiner Schnauze an. Sie senkte den Kopf. »Herr hat recht. Müssen weiter, damit Feuermanns Tod nicht umsonst.«

»Iwan. Er hieß Iwan, nicht Feuermann. Wahrscheinlich ist sein Tod sowieso umsonst gewesen. Wir können nicht wissen, ob es ihm gelungen ist, den Regenten zu töten und seine Gerätschaften zu zerstören.«

Ishy starrte auf ihre Hand, als halte sie darin noch immer die pfirsichgroße, von filigranen Mustern überzogene Goldkugel, mit der Iwan seine letzte Botschaft übertragen hatte. Sie schniefte. Ihre Lippen waren blau angelaufen, die Nase gerötet.

Rhodan spürte, wie die Kälte auch von ihm Besitz ergriff. »Vielleicht, eventuell, möglicherweise ... Das zählt nicht. Was zählt, ist Iwans Absicht. Glaubst du, er hätte gewollt, dass du gefangen genommen wirst und stirbst? Dass du aufgibst?«

Die Japanerin sog die Luft ein. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das hätte er nicht gewollt.«

»Wo bleiben Sie?«

Onat da Heskmar, der alte Arkonide, der sie in den Palast geführt hatte, war ebenfalls stehen geblieben. Er hielt sich den Bauch und winkte heftig. »Wir müssen von hier verschwinden!«

»Wir kommen!« Rhodan nahm Ishys Hand, zog sie mit sich. Sie stolperte die ersten Schritte, dann kam sie in Tritt und befreite sich aus seinem Griff. Chabalh bildete den Abschluss der Gruppe, sicherte sie ab.

»Weshalb ist es so kalt?«, fragte Rhodan.

Onat atmete schwer. »Dies ist ein seit einiger Zeit verlassener Bereich des Kristallpalastes. Man hat ihn in einen Ruhezustand versetzt.« Er hob das Display, das Cheroth ter Irale ihnen ausgehändigt hatte. »Die ter Ghostats bewohnten ihn. Unterer Adel. Ich hörte davon, dass sie in Ungnade gefallen seien. Dass es hier wie ausgestorben ist, überrascht mich. Der Regent scheint rigoroser vorzugehen, als ich befürchtet habe.«

»Warum ist der Gang dann hell beleuchtet?«

Onat blieb stehen. »Jetzt, wo Sie es sagen ...«

Ein Schrei erklang. Rhodan hörte ein Zischen. Instinktiv ließ er sich zu Boden fallen, griff nach Onats Arm. Er riss den alten Arkoniden mit sich. Ein grellblauer Kugelblitz schoss über sie hinweg. Erneut schrie jemand. Es war Ishy Matsus Stimme. Mit schmerzverkrampftem Gesicht starrte sie den Gang hinab. Ihre Beine gaben nach. Sie brach zusammen.

Im selben Augenblick sprang Chabalh. Er glich einem schwarzen Schatten, wie er an ihnen vorbeiraste und auf einen hageren Mann zustürmte. Der Purrer stürzte sich auf den Gegner, riss ihn zu Boden. Mit seiner Pranke hieb er an die Schläfe des Arkoniden.

»Lass ihn leben!« Rhodan rappelte sich auf, überzeugte sich davon, dass Ishy nicht schwer verletzt war. Die Japanerin war nur betäubt. Sofort lief er zu Chabalh und seinem Gefangenen.

»Mann lebt. Nur bewusstlos«, knurrte der Purrer.

Rhodan schob ihn beiseite, wischte dem ausgemergelten Mann die grauweißen Haare aus dem Gesicht. Narben zogen sich quer über Stirn, Augen und Nase bis hin zum Kinn. Rhodan entdeckte keine frische Verletzung. Chabalh hatte sich zurückgehalten und mit eingefahrenen Krallen zugeschlagen.

»Onat, wer ist das? Kennen Sie diesen Mann?«

Keuchend humpelte der Arkonide auf ihn zu, ging in die Hocke und musterte den Bewusstlosen. »Der alte ter Ghostat. Was für ein perfides Spiel. Der Regent hat den dementen Patriarchen in den kläglichen Überresten seines Lebenswerks dem Schicksal überlassen.«

»Daher der Angriff.« Rhodan presste die Lippen aufeinander. »Er muss uns für Schergen des Regenten gehalten haben.«

»Wofür auch immer. Er hat auf uns geschossen. Eine Energieentladung wird angemessen. Es würde mich nicht wundern, wenn man jemanden schickt, um nach dem Rechten zu sehen. Zumindest Roboter.«

Onat zückte Cheroth ter Irales Display, das über eine Schnittstelle zu den Überwachungssystemen des Palastes verfügte. »Ja, der Schuss wurde registriert. Verdammt. Ich bin davon ausgegangen, dass man nach Entdeckung unserer Flucht vermuten würde, wir hätten auf direktem Weg den Palast verlassen. Daher wollte ich, dass wir auf dieser Ebene die Richtung wechseln, um es unseren Verfolgern schwerer zu machen.«

»Und jetzt?«

»Bislang hat man keinen Verdacht geschöpft. Was auch immer Cheroth ter Irale getan hat, um uns diesen Vorsprung zu ermöglichen – es ist noch nicht aufgefallen. Wir müssen den nächsten ...«

Onat brach mitten im Satz ab. Jemand stieß ihn zur Seite, schlug Rhodan den Ellenbogen ins Gesicht. Der Schmerz schoss ihm von der Nase zur Stirn. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen. Er fand sich auf dem Rücken liegend wieder. Warmes Blut rann ihm über die Oberlippe.

Ein Schuss erklang. Und noch einer.

Rhodan blinzelte. Durch den Tränenschleier sah er eine zierliche Gestalt über den alten ter Ghostat gebeugt. Sie hielt eine Waffe auf den Oberkörper des Bewusstlosen gerichtet.

Ishy!

Bevor sie erneut abdrücken konnte, zog Rhodan die Beine an und trat ihr ins Kreuz. Mit einem Aufschrei fiel sie vornüber. Chabalh, der vorgelaufen war, um die Umgebung zu prüfen, kam zurück. Er packte mit dem Maul die Waffe, die Ishy hatte fallen lassen, und drückte die Japanerin mit einer Pranke auf den Boden.

Ächzend wuchtete sich Rhodan hoch. Er kroch auf allen vieren zu ter Ghostat. Der Oberkörper des Alten ruckte auf und ab. Ein Röcheln entrang sich seiner Kehle. Fauler Atem schlug Rhodan ins Gesicht.

»Onat! Er bekommt keine Luft! Helfen Sie mir!« Rhodan legte beide Hände auf den Brustkorb des Arkoniden, fühlte die Knochenplatten. Als er das Brustbein spürte, begann er zu massieren. »Schnell! Beatmen Sie ihn!«

Onat öffnete ter Ghostats Mund und presste seinen darauf. Die Waffe, mit der erst Ishy, dann der Angreifer niedergestreckt worden war, musste ein Nervenschocker mit kurzer Wirkungsdauer sein. Sonst hätte Ishy sich nicht so rasch von dem Treffer erholt. Tatsächlich entspannte sich der alte Arkonide bereits. Er begann wieder, eigenständig zu atmen.

»Was ist in Sie gefahren?«, herrschte Onat die Japanerin an.

Rhodan stand auf. Ishy Matsu lag wie ein Häufchen Elend auf dem Boden, die Beine an die Brust gezogen und mit den Armen umschlungen. Sie schluchzte. Tränen flossen aus ihren Augen.

»Eine Kurzschlussreaktion.« Er schluckte. »Schreien Sie sie nicht an. Das hilft uns nicht weiter.«

Chabalh stupste Ishy an die Wange. Mit einer Zärtlichkeit, die Rhodan dem Purrer nicht zugetraut hätte, schmiegte er seinen Schädel an ihren Kopf.

»Hilf mir, Chabalh! Du trägst Ishy!« Rhodan griff nach der Japanerin, hievte sie dem Purrer auf den Rücken. Ihre Arme legte er um den muskulösen Hals. »Onat, wir müssen ter Ghostat verstecken. Am besten in einem Raum mit medizinischer Versorgung. Man darf ihn nicht so schnell entdecken, sonst findet man an seinem Körper unsere DNS-Spuren.«

Onat hustete. »Dafür bleibt keine Zeit. Tragen wir ihn in das nächstgelegene Zimmer und sehen zu, dass wir wegkommen.«

Rhodan atmete ein. »Niemals.«

»Man hat jemanden geschickt, um zu überprüfen, was hier vor sich geht. Seien Sie vernünftig. Ter Ghostat ist dem Tode geweiht.«

»Sie müssen doch auf diesem Gerät erkennen können, wo die nächste medizinische Versorgung möglich ist.«

Der alte Freund Crests seufzte. Er tippte mehrmals auf das Display, winkte ihnen dann. Rhodan nahm ter Ghostat auf den Arm. Er wog wenig. Einige Meter weiter öffnete Onat eine Tür. In dem dahinter liegenden Raum bettete Rhodan den Arkoniden auf einen Fauteuil. Ein kegelförmiger Roboter schwebte herbei und nahm sich des Bewusstlosen an.

Onat befahl ihm, den Körper und die Kleidung ter Ghostats zu desinfizieren, um ihre DNS-Spuren so gut wie möglich zu entfernen.

»Weiter!«

Sie verriegelten die Tür, liefen zum nächsten Aufzug. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, atmete Rhodan auf. »Und jetzt?«

»Laut den Überwachungssystemen ist unser Status weiterhin der von Gefangenen. Cheroth ter Irale verhört uns angeblich immer noch. Ich schätze, er wird seinen Leuten verdeutlicht haben, dass er den Tod seines Enkels an uns rächen will. Wenn der Kadavergehorsam innerhalb der Gos'Arbton, der Palastgarde, so ausgeprägt ist, wie ich glaube, bleibt nach wie vor etwas Zeit, um den Palast zu verlassen. Sind wir erst entkommen, besitze ich auf dem Thek-Laktran, dem Hügel der Weisen, die eine oder andere Möglichkeit.«

»Wollen wir hoffen, dass Sie recht behalten.«

»Irgendwann werden Cheroths Männer ungeduldig. Hat man erst bemerkt, dass wir geflohen sind, wird man den Zwischenfall mit ter Ghostat auf uns zurückführen. Dann ist man auf unserer Spur.«

Rhodan nickte. »Das befürchte ich auch.« Er ging in die Knie, sah Ishy in die Augen, strich ihr über das Haar.

»Es tut mir leid«, hauchte sie.

»Ich weiß.«

2.

Die Grotte der Sternengötter

 

»Wie spät ist es?« Die Uhrzeit leuchtete über ihm auf. Kuspa blinzelte. Vage erinnerte er sich daran, die Anzeige abgeschaltet zu haben, da er nicht hatte einschlafen können. Einige Passagen seiner Rede hatten ihn nicht losgelassen.

»Bring mir ein Tuch!«, befahl er. Er sah sich im Halbdunkel um. Die Decke hing auf den Boden, das Kissen zerknüllt am Fußende. »Und Wasser. Mit wenigen Tropfen Spirax.«

Kuspa massierte sich die Schläfen. Normalerweise verzichtete er auf Schmerzmittel, doch dieser Tag war kein Tag wie jeder andere. Wollte er Vaygokes aggressivem Kurs etwas entgegenhalten, musste er fit sein. Der Wahrer Ranalors war sein ärgster Konkurrent bei der bevorstehenden Wahl zum Tron'athor des Rates.

Der Zimmerservo brachte ihm das Tuch. Kuspa wischte den Schweiß von Gesicht und Oberkörper. Die Kühle des feuchten Stoffes tat gut. Dann trank er das vom Spirax gesüßte Wasser in großen Schlucken. Das leere Glas warf er dem faustgroßen Roboter zu, der neben seinem Bett wartete. Der fing es mit seinen dünnen Greifarmen auf.

Seufzend ließ sich Kuspa zurück auf die Matratze sinken. Die leuchtenden Ziffern der Zeitanzeige schienen ihm ins Gesicht. Er war zwei Tontas vor der Zeit erwacht. Der Wahrer Qinshoras fühlte sich zerschlagen, die Kopfschmerzen ebbten nur langsam ab. Nacken und Rückenmuskulatur waren hart wie Stein, seine Beine bleiern. Schon spukte die bevorstehende Debatte mit Vaygoke wieder in seinem Kopf. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

»Da kann ich ebenso gut aufstehen«, murmelte er. Kuspa mühte sich hoch. Er genoss die Annehmlichkeiten seines Standes. In seiner rebellischen Jugend hatte er gelernt, was Armut bedeutete. Doch die Dekadenz der modernen Zeit, in der sich bereits junge Frauen und Männer von Prallfeldern aus dem Bett hieven ließen, verachtete er. »Licht!«

»Wie immer Simulation des Tageslichts?«, fragte der Zimmerservo.

»Ich möchte schon etwas sehen können. Simuliere den Sonnenstand, wie er in zwei Tontas wäre.« Die Zeitanzeige erlosch. Rotgoldener Lichtschein trat an die Stelle des grünlichen Glimmens.

»Und nun: Gebetsmodus.« Ein Hologramm Qinshoras leuchtete vor dem Fußende des Bettes auf. Kuspa stellte sich vor die leuchtende, grazile Frauengestalt, senkte den Kopf und sprach sein tägliches Morgengebet. »Qinshora, Mutter der Liebe und der unendlichen Güte, gedankt sei dir für diesen neuen Morgen im Glanze Arkons. Qinshora, Gütigste aller Sternengötter, gepriesen seist du für deine Gaben, und dafür, dass du uns erquickest, jetzt und für immerdar ...«

Nach den einleitenden Worten wechselte er zu den Fürbitten. Für die Trauernden, die Leidenden, die Verletzten, die ihm Anvertrauten – und an diesem Morgen vor allem für sich selbst, dass er die Kraft haben mochte, sich im Namen der Sternengöttin für all diese Seelen einsetzen zu können.

»Qinshora, heute steht mein Rededuell mit Vaygoke an, dem Wahrer Ranalors, des Gottes der Stärke. Ich bitte dich, gib mir die Kraft, ihn in die Schranken zu weisen. Echodim.« Mit der traditionellen Formel beendete Kuspa sein Gebet.

»Ich werde wiedergewählt«, murmelte er. »Vaygoke darf nicht Sprecher des Rates werden. Er würde die Grotte der Sternengötter mit seiner aggressiven Politik gegenüber dem Regenten in den Abgrund führen. Qinshora, ich weiß, dies ist deine bisher größte Prüfung für mich. Ich werde sie bestehen und Vaygoke mit meinen Worten in die Schranken verweisen.«

Kuspa löschte das Hologramm der Göttin mit einem Augenzwinkern. Dann streckte er sich, dass die Knochen knackten, und aktivierte mit einem Fingerdruck auf die Schläfe das Komplantat in seinem linken Ohr sowie den Optisteg, den er statt einer Augenbraue auf der gleichen Seite trug.

Sein Stellvertreter Quetror hatte ihm die Zusammenfassung des gestrigen Tages geschickt. Die zweiundzwanzig Wahrer der Sternengötter – alle außer Eskur Desman – hatten am Abend ihre Reden beendet. Darin erklärten die Wahrer, wie sie sich die Politik der Grotte in den nächsten zehn Perioden vorstellten. Sie dienten zur Einleitung der Streitgespräche zwischen den Kandidaten und ihren Unterstützern.

Seit der Regent die Macht übernommen hatte, waren die intriganten Streitigkeiten in den Hintergrund gerückt. Es zählte nicht mehr, welchen Stellenwert die einzelnen She'Nerkhai, die Glaubensgemeinschaften, innerhalb der Grotte einnahmen. Die Zeiten waren vorbei, in denen darum geschachert worden war, welchem Sternengott die größte Aufmerksamkeit zuteil wurde. Jeder hatte begriffen, dass sie an einem Strang ziehen mussten, um ihre Souveränität zu bewahren. Nur über die Richtung herrschte Uneinigkeit.

»Waschen!«, sagte er schwer atmend, nachdem er einige Kraftübungen absolviert hatte. Der Boden verhärtete sich. Glaswände umschlossen Kuspa. Ein feiner Regen prasselte auf seinen Körper nieder, erst lauwarm, dann von duftenden, antibakteriellen Mitteln durchsetzt. Während er duschte, versuchte Kuspa sich auf andere Dinge zu konzentrieren, wenigstens einige Zentitontas nicht an die bevorstehende Debatte zu denken.

Bald sind die Wahlen vorbei. Dann werde ich endlich wieder Zeit haben, in den uralten Dokumenten des Archivs nach den Ursprüngen unseres Glaubens an Qinshora zu forschen.

Der Wasserguss versiegte. Wechselweise warme und kalte Luft trocknete seinen Körper, besprühte ihn mit Ölen, die seine Haut aufsog wie die Gläubigen seine tröstenden Worte.

Die Glaswände versanken im Boden. Der Servoroboter reichte ihm seine Kleidung. Kuspa stieg in die dunkle, weiche Hose, zog das weiße Seidenhemd über. Beide Kleidungsstücke passten sich seiner Körperform an. Nur den mit Kristallstaub verzierten und knopfbewehrten Kragen schloss er eigenhändig. Er schlüpfte in die ledernen Mokassins, strich seine Haare zurück, fixierte sie und verließ sein Zimmer.

Eine eigentümlich Stille lag auf dem von Wohnnischen gesäumten Gang. Als Wahrer gebührte ihm zwar eine größere Wohneinheit, doch Kuspa schätzte die gute Lage. Mit fünfzig Meter Abstand reihten sich Fahrstühle und Treppen aneinander, mit denen man die höher oder tiefer gelegenen Kavernen erreichte. Der Weg zur Anrufungshalle, in der die Statue der Sternengöttin stand, war kurz. Von dort führte ein repräsentativer Prozessionsweg direkt zur Halle der Vierundzwanzig.

Kuspa beschloss, einen Spaziergang zu unternehmen. In den letzten Tagen hatte er kaum Zeit aufbringen können, sich um das Tagesgeschäft zu kümmern. Sinnend betrachtete er die Fresken, das Muster der Holzdielen. Er sog den Duft der ätherischen Öle ein, strich mit den Fingerspitzen über die edelsteinernen Statuetten.

Qinshoras Wahrer nahm einige Abzweigungen, fuhr mit einem Aufzug zu nächsthöheren Ebene. Dort sah er im Spital nach dem Rechten, wechselte ein paar Worte mit dem Nachtwächter. In dem Wissen, dass alles seinen geregelten Lauf ging, führte er seinen Weg fort.

Nach dem Rundgang betrat er den Park der Anrufungshalle. Er verschränkte die Arme am Körper, hob die Schultern und schüttelte sich. Sein Atem kondensierte. Einen Moment lang bereute er, nur das dünne Hemd angezogen zu haben. Die Temperatur innerhalb der Halle wurde synchron zu der außerhalb der Grotte auf dem Hügel der Weisen gehalten. Am Horizont der Himmelsprojektion erkannte er einen rotgoldenen Streifen, doch noch war Arkons warmer Schein nur eine Ahnung.

Kuspa wandelte durch das kniehohe, taubedeckte Gras. Er lauschte dem Zirpen der Insekten und den ersten Gesängen der Vögel. Normalerweise stand er öfter früh auf, um die Ungestörtheit zu genießen, wenn die Grotte noch nicht mit Pilgern, Hilfe- und Sinnsuchenden überlaufen war. In den letzten Wochen war er nicht dazu gekommen.

Seine Enttäuschung war umso größer, als laute Stimmen die Ruhe störten. Jemand weinte. Kuspa runzelte die Stirn. Er folgte den Geräuschen dem äußeren Ring entlang, vorbei an einigen Treppen und Aufzügen, die zu den Galerien hinter der Himmelsprojektion führten. Unter dem milchigen Schein einer Laterne erkannte er drei Adepten. Die jungen Männer redeten gestikulierend auf eine Frau ein. Der dürre Körper der Arkonidin bebte. Tränen erstickten ihre Worte. An die Brust hielt sie ein Kind gepresst.

Einer der Schüler entdeckte Kuspa und eilte auf ihn zu. »Wahrer Kuspa!« Beinahe stolperte er.

Ein Jousca brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Quakend hüpfte die Amphibie davon, verschwand im Schilf eines Tümpels, der den äußeren Ring vom nächsten abgrenzte.

»Wahrer Kuspa ...« Schwer atmend kam der Junge vor ihm zum Stehen. Seine Wangen waren gerötet. Kuspa kramte in seiner Erinnerung. Der Junge war seit Kurzem Schüler der Qinshorai. Sein Name wollte dem Wahrer jedoch nicht einfallen. »Die Unruhe tut mir leid. Aber die Frau lässt sich nicht vertrösten. Sie ...«

Kuspas verweisender Blick ließ ihn verstummen. Der Adept schluckte, seine Lippen bebten. Er strich sich durch das raspelkurze Haar. »Entschuldigung! Ich meinte es nicht so. Ich wollte sie nicht wirklich vertrösten! Ich meine ... wir wissen nicht, was wir tun sollen! Ich habe nach einem erfahrenen Qinshorai gesucht, konnte aber keinen finden.«

»Wer ist dein Betreuer, Junge?« Kuspa presste die Lippen aufeinander, winkte ab. »Ach, vergiss es. Ich will niemanden an den Pranger stellen. Aber ein paar ernste Worte an die Allgemeinheit scheinen mir angebracht. Unser täglicher Dienst an den Hilfesuchenden darf nicht hinter der Wahl zurückstehen.«

Er seufzte. Seinen Spaziergang durch die frühmorgendliche Landschaft konnte er vergessen. »Die Frau lässt sich nicht beruhigen, sagst du? Lass mich raten. Ihr Kind ist todkrank. Sie erhofft sich von uns, dass wir für sie zu Qinshora beten. Die moderne Medizin vermochte den Kleinen nicht zu heilen. Die Arme glaubte zwar nie an die Götter, aber in der Not wusste sie nicht, wen sie noch um Hilfe bitten kann.«

Das klang routiniert und abgedroschen, fand Kuspa, aber genau so war es wohl. Jeden Tag erlebte er, wie sich Männer und Frauen in ihrer Verzweiflung an die Sternendiener wandten. Insbesondere an ihn. Von der Göttin der Liebe und Güte versprach man sich am ehesten Hilfe.

»So ist es, Wahrer. Sie heißt Endra. Woher wissen Sie das alles?«

»Solange es den Leuten gut geht, lachen sie über uns, verspotten uns als abergläubige Spinner. Sie preisen die Wissenschaft als höchstes Gut. Aber wenn ihnen ihr ach so scharfer Intellekt nicht weiterhilft, bitten sie um unsere Hilfe. Sie wissen es nicht besser, wachsen in einer wohlhabenden und technikhörigen Gesellschaft auf, in der jede Spiritualität als lächerlich abgetan wird. Doch letztlich sind wir alle Kinder der Sternengötter und stolz darauf, das auserwählte Volk zu sein, das von ihnen zu den Sternen geführt wurde.«

»Was sollen wir tun?«

Kuspa klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist noch nicht lange bei uns, aber wirst mit deinen Aufgaben wachsen. Das verspreche ich dir. Verschwindet nun! Ich kümmere mich um Endra.«

Der Junge verbeugte sich knapp. »Ja, edler Wahrer. Vielen Dank.«

Kuspa seufzte. Das ergebene Gehabe würde er dem Jungen noch abgewöhnen. Stiefellecker konnte er nicht gebrauchen. Sie neigten dazu, ihre Unterwürfigkeit gegenüber den Höhergestellten mit Machtausübung gegenüber den Hilfesuchenden zu kompensieren.

Der Junge lief zu der Gruppe, die mittlerweile auf sie aufmerksam geworden war. Dort sprach er kurz mit der Frau, zeigte auf den Wahrer.

Dann verließen die Adepten die Anrufungshalle durch eines der nahen Portale.

Kuspa ging auf Endra zu, die ihn aus verweinten Augen anstarrte. Ihr Teint war blass, die Lippen spröde. Sie trug ein teures, dünnes Kleid, das den Eingeweihten Abnutzungserscheinungen erkennen ließ. Das Kind hatte sie in eine Decke gewickelt, aus der nur ein Haarschopf und das bleiche Gesicht hervorlugten.

»Ich grüße Sie, Endra!«

»Edler Wahrer!« Sie machte Anstalten, in die Knie zu gehen, doch Kuspa kam ihr zuvor, versperrte den Weg zum feuchten Boden.

»Kuspa genügt.« Er lächelte. »Wer ist der kleine Mann?«

»Hiab«, hauchte sie.

»Ich grüße dich, Hiab!« Kuspa streichelte dem Jungen übers weißblonde Haar.

»Er ist sehr krank.« Endra schluckte, rang sichtlich nach Worten. »Bitte helfen Sie ihm! Die Bauchaufschneider haben ihn aufgegeben. Wir waren bei den Aras, haben Chronnor um Chronnor in die Behandlung investiert. Keine Therapie schlug an. Sie sind unsere letzte Hoffnung.«

»Gehen wir ein Stück.« Kuspa ging voran. Nach wenigen Metern drehte er sich um und winkte ihr. Einen Moment lang stand sie unschlüssig da, dann folgte sie ihm an dem vom Schilf bewachsenen Tümpel vorbei. Sie betraten den nächsten der fünf Ringe, die durch Bäume, Mauern, Hecken, Sträucher und ähnliche Begrenzungen voneinander getrennt waren. Kies knirschte unter ihren Füßen.

»Die Anrufungshalle Qinshoras war nicht immer so eine naturnahe Umgebung, wissen Sie?« Kuspa hatte Gespräche wie dieses schon ungezählte Male geführt. Man durfte die Hilfesuchenden nicht gleich mit der Enttäuschung konfrontieren, sondern musste ihnen etwas mitgeben, über das sie nachdenken konnten, sobald ihre Enttäuschung und Wut verflogen waren.

»Einer meiner Vorgänger im Amt des Wahrers ließ vor mehr als vierhundert Jahren die pompöse Einrichtung entfernen. Er war der Meinung, dass wir nicht in Opulenz leben und den Pilgern gleichzeitig predigen könnten, dass die Liebe und Güte Qinshoras auch Demut und Verzicht bedeutet. Stattdessen legte er diesen Garten an. In fünf Ringen. Sie symbolisieren die Bücher der Liebes- und Güteschriften.«

Sie passierten einen Brunnen. Zhymdrosseln hüpften auf dem Rand des Beckens. Sie reinigten ihr rot-, orange- und gelbfarbenes Gefieder. Endra starrte ins Leere, zuckte zusammen, als einer der Vögel mit einem Schrei zur Höhlendecke emporflatterte.

»Seitdem hat die Anrufungshalle sich gewandelt. Pilger bringen Pflanzen, Tiere und Kunstwerke aus ihrer Heimat als Gabe für Qinshora. Dieser Garten symbolisiert sowohl die Verbundenheit mit dem Natürlichen als auch die Vielfalt der Qinshorai.«

Endra blieb stehen. »Ich verstehe nicht, was Sie mir damit sagen wollen, Kuspa.«

Er zeigte in die Projektion des frühmorgendlichen Himmels. Der rotgoldene Streifen Arkons war breiter geworden. Man konnte bereits die Wölbung der Sonnenscheibe erkennen. »Arkon geht auf. Tag für Tag. Egal, was uns zustößt – es wird immer ein Morgen geben. Sollte das Imperium untergehen, wird die Sonne weiter ihr Licht auf diesen Planeten werfen. Das ist der Lauf der Dinge. Die Natur erscheint uns oft gnadenlos. Der Vogel frisst den Wurm, der Bissat frisst den Vogel. So geht es weiter vom Kleinen bis zum Großen. Irgendwann verschlingt ein Schwarzes Loch unsere Sonne.«

Ein Schwarm holografischer Weißkalabri flog in Keilformation über sie hinweg. Eine täuschend echte Illusion, unter den vielen Metern Gestein.

Endra presste die Lippen aufeinander, die von tiefen Falten umgeben waren. Kuspa schätzte die Frau auf etwa vierzig Jahre. Sorgen hatten sie vorzeitig altern lassen.

»Ich verstehe. Sie wollen mir nicht helfen.« Endra presste Hiab noch enger an ihren Körper. »Ich dachte, Sie seien anders als die übrigen Sternendiener. Sie wirkten so ... gütig.«

»Kommen Sie! Gehen wir weiter.«

Endra zögerte, folgte ihm jedoch zwischen Vritrabäumen hindurch in den nächsten Kreis der Halle.

»Ich versuche, Liebe und Güte, die Weisungen Qinshoras, zu leben«, erklärte Kuspa sanft, aber nachdrücklich. »Was ich Ihnen über die Natürlichkeit der Dinge erzählte, soll nicht bedeuten, dass ich nicht helfen möchte. Es heißt, dass ich es nicht kann. Wir verfügen nicht über bessere medizinische Möglichkeiten als die Bauchaufschneider und Aras. Wir sind keine Wunderheiler, sondern Diener der Sternengötter, insbesondere Qinshoras. Wir verkünden die frohe Botschaft, lindern seelischen Schmerz und helfen, einen tieferen Sinn zu entdecken.«

Kuspa verkürzte den Weg, ging gemächlich, aber zielstrebig von Kreis zu Kreis, bis sie das Zentrum der Anrufungshalle erreichten. Inmitten der sanft ansteigenden Rasenfläche glänzte die weiße, in allen Nuancen von Blau durchzogene Statue Qinshoras. Eine schlanke, ätherische Frauengestalt mit lang gezogenem Kopf, der an eine Ara erinnerte. Im Gegensatz zu den Bildnissen auf der Hauptpforte waren die Gesichtszüge nur angedeutet.

»Mein Sohn wird sterben.« Endras Stimme vibrierte. »Sie waren meine letzte Hoffnung. Die Gnade der Götter war meine letzte Hoffnung.« Wieder rannen ihr Tränen die Wangen hinab. »Und Sie erzählen mir von einer frohen Botschaft?«

»Setzen wir uns«, flüsterte Kuspa. Er ließ sich im knöchelhohen, blaugrünen Gras nieder. Wollige Moqpas grasten auf der naturbelassenen Wiese, die von wilden Blumen und Kräutern durchsetzt war. Kuspa liebte den würzigen Duft.

Endra blieb stehen.

»Bleiben Sie bei uns«, riet Kuspa. »Finden Sie Trost in den Worten Qinshoras. Wir lassen niemanden fallen. Egal woher; egal ob arm oder reich; ob Essoya oder Adliger. Vor den Sternengöttern sind alle gleich. Auf unserer Krankenstation wird es Hiab an nichts mangeln, und er kann in Frieden zu den Göttern gehen.«