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°luftschacht

Eine existenzielle Verfallsgeschichte ist immer auch eine körperliche Verfallsgeschichte. In zwei miteinander verknüpften Erzählsträngen berichtet Markus Mittmansgruber in Verwüstung der Zellen vom Niedergang einer Familie. Der Vater, gezeichnet von schwerer, degenerativer Krankheit, spricht seinen Nächsten unter Selbstmorddrohung das Recht auf weitere Besuche ab. Während die Mutter dieses Gebot bedingungslos zu akzeptieren scheint und sich zunehmend isoliert, wird der Sohn von Phantomgeräuschen und Angstgefühlen geplagt; er vermutet ein großes, unausgesprochenes Familiengeheimnis und macht sich auf die Suche …

Sprachlich prägnant und ungerührt zeigt Mittmansgruber nicht nur die familiären Verwerfungen der Protagonisten auf, sondern hinterfragt – vor allem durch die Einführung eines Wiedergängers, der als tatsächliche oder metaphorische Figur gelesen werden kann – Brüche und Verödungen in unserer heutigen Gesellschaft.

MARKUS MITTMANSGRUBER, * 1981 in Linz, studierte Philosophie an der Universität Wien. Veröffentlichungen in diversen Literaturzeitschriften (u.a. Kolik, Die Rampe, Podium). Er arbeitet seit 2006 als freier Mitarbeiter bei einem Wissenschaftsverlag in Wien. Teilnehmer der Autorenwerkstatt 2015 am Literarischen Colloquium Berlin. Verwüstung der Zellen ist sein Debütroman.

Markus Mittmansgruber

Verwüstung der Zellen

Roman

Luftschacht Verlag

© Luftschacht Verlag – Wien
Alle Rechte Vorbehalten

1. Auflage 2016

www.luftschacht.com

Umschlaggestaltung: Luftschacht
Satz: Luftschacht
ISBN: 978-3-902844-93-4
eISBN: 978-3-903081-04-8

Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien

Mon Corps est comme un Sac traversé de fils rouges

II fait noir dans la chambre, mon œil luit faiblement

J’ai peur de me lever, au fond de moi je sens

Quelque chose de mou, de méchant, et qui bouge.

Michel Houellebecq

Untergehn will euer Selbst,

und darum wurdet ihr zu Verächtern des Leibes!

Denn nicht mehr vermögt ihr über euch hinaus zu schaffen.

Und darum zürnt ihr nun dem Leben und der Erde.

Ein ungewußter Neid ist im scheelen Blick eurer Verachtung. […]

Ich gehe nicht euren Weg, ihr Verächter des Leibes!

Ihr seid mir keine Brücken zum Übermenschen!

Friedrich Nietzsche

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 1

der körper ist einmal zu oft und zu laut von innen gegen die wohnungstür gelaufen. nachbar jürgen hatte die unregelmäßigen dumpfen stöße gegen das holz satt. er drückt jetzt mehrmals den klingelknopf, drinnen schrillt es, beim letzten mal einige sekunden durchgehend. er bekommt weder eine antwort noch wird ihm geöffnet. er holt den vermieter aus dessen wohnung im obersten stockwerk. der vermieter begleitet jürgen mit einem zweitschlüssel, dieser klackert beim drehen im schloss. als sich dann nach der öffnung der tür die eigenen zähne tief in den hals von jürgen bohren und der körper das lebende fleisch zu kauen und das blut zu schlucken beginnt, stellt sich für einen kurzen moment so etwas wie eine ahnung ein, ein trüber, entfernter schatten: dass ich tot bin, gestorben, und gleichzeitig noch am leben irgendwie. und der schatten verschwindet wieder und streicht bei seinem verschwinden die kategorien der situation durch und weicht ihren schrägstrichabstand auf: lebendig/tot. der körper benimmt sich, als ob er wochenlang in der wohnung gelegen oder dort auf und ab gegangen wäre, vielleicht auch monate. die haut ist steif wie pergament und backpapierfarben geworden, an einigen stellen bläulich, mit purpurnen flecken. die hinteren backenzähne sind verloren gegangen. haare sind ausgefallen, vor allem auf der rechten schädelseite. die fingernägel stehen wie krallen über die kuppen. und ein knöchel ist gebrochen, der rechte: der körper zieht den geknickten, nutzlos gewordenen fuß nach. die linke hand ist nicht mehr vollständig, mittelfinger und zeigefinger sind stummel, entweder hat sich ein tier daran zu schaffen gemacht oder der eigene kauapparat hat selbst daran genagt. der verwesungsgrad der muskeln hält sich in grenzen. von den inneren organen ist nicht mehr viel übrig, teile der innereien sind flüssig oder breiartig, sie schwappen weich und widerstandslos innen gegen die hautwände, der zwölffingerdarm zum beispiel. larven eines speckkäfers haben in einer offenen wunde am rechten oberschenkel platz genommen. öffnungen sind von schmeiß–, fleisch- oder buckelfliegen besiedelt, die ihre kreise ziehen, bei den ohren und in nächster nähe zur ausgetrockneten nasenschleimhaut. aber sie summen nicht nur dort, sondern auch abseits des körpers, weiter hinten im raum, über dem tisch, wo ein azurblau getöntes, halbleeres mineralwasserglas steht. der vermieter ist wieder fort, ein stockwerk höher geflüchtet, in seine wohnung. die tür hat er dreimal laut verriegelt. jürgen liegt ausgestreckt auf der fußmatte, ihre borsten beginnen sich zu verfärben, der eigene kiefer mahlt und frisst ohne unterbrechung an ihm. er weidet ihn aus. irgendwann lässt die gier nach. das eigene weiße t-shirt mit einer schwarz-weißen kate moss darauf und die verwaschene jeans sind mit dreck, staub, trockenem kot, trockenem und neuem, frischem, fremdem, noch nassem blut beschmiert, unterschiedlich dicke schichten in unterschiedlich schillernden rottönen, an manchen stellen schuppen diese bereits, wie sich auch die pergamenthaut an manchen stellen schält. nackte fußsohlen. die beine bewegen sich über die treppe nach unten, 2. stock, 1. stock, mezzanin, erdgeschoss, richtung hauseingang. die grüne tür ist halb offen, sie hängt an einer erhabenen bodenfliese fest. ein hindurch und hinaus auf den gehsteig ist möglich. die arme sind nutzlose verlängerungen, sie verhalten sich unkoordiniert und ohne beziehung zum restlichen Organismus, baumeln spannungslos. niemand ist unterwegs, kein lärm, ein neutraler tag. dahinschlurfen auf dem asphalt, dahin, da hin, die worte „richtung“ oder „ziel“ haben alle bedeutungen verloren, so wie „jahreszeiten“ oder „ich“. „ich“ trifft keine entscheidung, ob links oder rechts. es ist weit unter einer glasglocke und von dort aus nur träumend dabei, ohne einzugreifen, stumm, unbeteiligt, zuschauer, weniger als passiv, nicht einmal auf dem beifahrersitz, sondern außerhalb, hinter dem fenster, ohne zu beobachten, in der ferne, ein autopilot, eine körper-maschine, das „ich“ ohne ich, schlafwandelnd in materie, aufgegangen in ihr, eine leerstelle, ein wiedergänger, oder ein verdichteter punkt, ein massepunkt: . erste person singular, ein massepunkt. . erster fall, zweiter, dritter, vierter fall. jeder fall. ein massepunkt, der in sich versunken ist, der wütet, aber ohne das dazugehörige gefühl. alles, was der fall ist, ein massepunkt. er hat sich vorgeschoben, ein mond, der hat das „ich“ ersetzt. fremde wahrnehmungen, die einem anderen gehören, der sich ihrer ebenso nicht sicher ist. stille atmosphäre, die hauptstadt. eine breitere straße öffnet sich vor dem , stadtgürtel, dreispurig. körper, ganze figuren oder nur halb vorhandene, manche ohne beine, aufrecht gehend, gebückt gehend, kriechend, hinkend, robbend. die gestalten bewegen sich ohne system oder muster über und entlang und an den seiten der straße. sie touchieren sich, ohne sich zu berühren. die weißen bodenmarkierungen und die schilder mit den verkehrszeichen und den straßennamen leuchten dem aus einer anderen zeit entgegen. gesprochen wird nichts. die zunge haben die maden weggeschleppt. für ist jeder buchstabe eine unmöglichkeit. kein wort in rachen und kopf und über den trockenen lippen. an sprechen ist nicht mehr zu denken. an denken auch nicht.

„Ich würde gern mein Gehirn tapezieren können“, sagte er zu ihr. „So von innen. Die Wände und die langen grauen Gänge. Mit schalldichter weißer Tapete. Weißt schon, ohne Schnörkel. Und erst recht ohne diese grässlichen Blumenmotive. Oder mit leeren Eierkartons … ja, das könnte ich mir auch gut vorstellen. Wie in den improvisierten Amateurtonstudios.“

Sie lagen auf dem Bett, sein Kopf auf ihrem Bauch, ein großes T. Sie waren vor wenigen Minuten vom Kino nach Hause gekommen, eine Nachmittagsvorstellung. Am Ende des Films hatte sich der Hauptdarsteller eine Kugel in den Kopf geschossen. Guter Film. Kein Happy End.

Mit seinen Versponnenheiten und Gedankenspielereien konnte er sie zum Lachen bringen, das wusste er. Wenn er so vor sich hin fantasierte. Da waren sie sich ähnlich, im Fantasieren, sie neigte auch dazu. Sie studierten beide Philosophie als Hauptfach, in einer Vorlesung hatten sie sich kennen gelernt. „Zum Begriff der Monade: Von Plotin bis Freud“. Sie waren im Hörsaal 32 nebeneinandergesessen, beide Linkshänder. Das Mitschreiben ihrer linken Hände hatte genügt, um während der eineinhalb Stunden flüsternd ins Gespräch zu kommen.

Dieses Mal lachte sie nicht.

„Warum?“, fragte sie.

„Keine Ahnung“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, weil ich ab und zu glaube, der Lärm da drinnen, der ist so unglaublich laut, den hört man sicher auch draußen. Geht ja gar nicht anders bei dieser Lautstärke. Aber ich will niemandem auf die Nerven gehen. Verstehst du? Ich will niemanden stören.“

Pause. Draußen klingelte die Straßenbahn einen Fußgänger oder ein lästiges Auto zur Seite.

„Ich möchte nach Afrika“, sagte sie. „Nach Mosambik. Oder nach Laos. Oder am liebsten, am liebsten wär mir Brasilien, Manaus, zum Amazonas. Fitzcarraldo, du weißt schon. Burden of Dreams und so.“

„Spielt der nicht in Peru? Fitzcarraldo, meine ich. Doch, ja, der spielt in Peru, in Isqui… Iquitos. Da bin ich mir …“

„Dort gibt es eine Stelle, an der sich der Rio Negro und der Rio Solimões vermischen, schwarzes und weißes Wasser. Klingt schön, oder? Im August, spätestens. Das geht dann auch vom Wetter her einigermaßen, soweit ich weiß. Was denkst du? Sag mal.“

Längere Pause.

„Warum?“, fragte er und spürte, dass sie sich bewegte, dass sie ihren Oberkörper leicht aufrichtete.

„Mal weg. Raus aus der Routine. Tapetenwechsel.“ Sie lachte und wurde gleich wieder ernst. „Das wird uns gut tun“, sagte sie. „Mal was anderes sehen. Und Zeit für uns. In der wir uns beide noch besser kennenlernen können.“ „Wir kennen uns jetzt über zwei Jahre“, sagte er. „Das ist schon eine ganze Zeit, finde ich. Oder nicht?“

„Ja, sicher“, sagte sie, „aber ich meine so richtig kennenlernen, anders kennenlernen, unter anderen Bedingungen. Und ich möchte mich selbst auch besser kennenlernen. Die eigenen Grenzen austesten, verstehst du? Im Regenwald kann man das. Verzichten, die Einfachheit, weißt du? Die Zivilisation und das ganze System mal hinter mir lassen und mal mitkriegen, wie Menschen woanders leben und überleben. Zum Beispiel in den Favelas von Rio. Die Einheimischen am Rio Urubu. Oder … oder wir fliegen nach Papua-Neuguinea, zu den Fore. Mein inneres Tier wiederfinden, im Einklang mit der Natur. Ja. Das ist mein Traum. Den verlorenen Kontakt zur Natur wiederfinden, auch zu meiner eigenen. Verstehst du? Was Authentisches.“

Nein, er wollte nicht verstehen. Er hatte sie gern, sehr sogar, aber das klang für ihn plötzlich nicht mehr nach einer ihrer kleinen Versponnenheiten, sondern nach schlechter Esoterik, Selbstfindungstrip mit Räucherstäbchen, schmutzigen Füßen, Moskitostichen, nach Gitarrenlieder-Harmonie am Lagerfeuer, falscher Exotik und inszenierter Ursprünglichkeit für Backpackertouristen, die „das Authentische“ suchten. Das Authentische, das Originale, das Eigentliche, das Echte. Reizwörter, von ihm jeweils mit dem nicht abwaschbaren Stempel „Betrug/Selbstbetrug“ versehen. Ich habe dich durchschaut. Wir werden nicht miteinander alt werden. Er liebte ihre langen brünetten Haare, vor allem, wenn sie offen über ihre Schultern fielen, aber eine längere, gemeinsame Zukunft hatte sich mit den wenigen Sätzen verschlossen, das war sein Gefühl. Er schwieg. Dann sagte er, sie könne schon mal gehen, zur Universität. „Ich komm heute nicht mit. Hab noch was zu erledigen.“ Und er werde sie anrufen.

Was er auch tat. In den folgenden Wochen verdichteten sich aber die unwiderlegbaren Beweise dafür, dass er es hier mit Naivität und großer Gedankenlosigkeit zu tun hatte. Ihre Kommentare verursachten ihm Kopfschmerzen. Sie wollte ihn zum Beispiel allen Ernstes davon überzeugen, dass „jeder für sein Glück selbst verantwortlich ist“. Überhaupt kam es ihm so vor, als ob sich ihr Wesen, ihre Gestalt nur noch aus Sprichwörtern zusammenstückeln würde. So unreflektiert. So was von unreflektiert. Und noch etwas fiel ihm auf: dass ihre Körperhygiene zu wünschen übrig ließ. Er fragte sich, warum er das nicht früher bemerkt hatte. Der Geruch aus ihren Achselhöhlen, ihr Mundgeruch, besonders am Morgen, und auch der stechende Geruch ihrer Haut, wenn sie die Regel bekam. Er nahm darin schleichend eine Note wahr, die er in ihrer zunehmenden Schärfe und Aufdringlichkeit schließlich nicht mehr ausblenden konnte. Der Geruch ihrer Haare ekelte ihn an. Und kein Shampoo, nicht das parfümierteste, konnte ihn überdecken.

Alles endete dramatisch, als ihr seine Distanziertheit und eine ungewohnte Kälte aufzufallen begann. Sie stellte ihn zur Rede, fragte, bohrte, was denn los sei, bis er ihr wahrheitsgemäß antwortete. Sie beschimpfte ihn als Arschloch und Feigling, sie entschuldigte sich gleich darauf dafür. Er sagte ihr, dass es vorbei sei, sie wollte es nicht hören und sagte, dass es von Anfang an ein Ungleichgewicht der Liebe in ihrer Beziehung gegeben hätte, und sie sagte ihm, dass er der Einzige bleiben werde. Er sagte ihr, dass sie gehen solle, sie sagte ihm, dass sie sich umbringen werde, dass sie ohne ihn nicht leben könne, dass sie ihre Venen in warmem Badewannenwasser öffnen oder Tabletten nehmen werde, unter Apfelmus gemischt, und daraufhin verließ er die Wohnung. Seine nächsten Nächte verbrachte er schlaflos und wartete auf einen Anruf. Krankenhaus, Polizei, ihre Eltern. Das Handy blieb stumm. Hätte er sich nicht gezwungen, er wäre wieder zurück zu ihr, aus Angst, sie könnte sich seinetwegen etwas antun. Er widerstand und warf trotzdem jeden Morgen einen Blick in die Zeitung, auf die Spalten mit den Todesanzeigen. Ihr Name tauchte nie auf. Was ihn wiederum enttäuschte und fast wütend machte. Diese Inkonsequenz, dieses leere Drohen. Bald hatte ihr Vorname seinen besonderen Klang verloren, er sagte ihm nichts mehr. Während der ersten Monate nach der Trennung traf er die Entscheidung, sein Philosophiestudium abzubrechen. Brotlos und unnütz, reine Zeitverschwendung. Was soll ich damit? Außerdem, ich will ihr auf keinen Fall wieder über den Weg laufen, bei einem Proseminar zu Heidegger oder so, oder zufällig im Gang vor der Institutsbibliothek. Zu gefährlich. Und an ihr kann man schließlich am besten sehen, was für labile und beschränkte und verknöcherte Geister dieses Studium hervorbringt. So was von unreflektiert, da graust einem. So unreflektiert, dass es zum Himmel stinkt, im wahrsten Sinne des Wortes. Unfassbar.

Er bewarb sich für eine halbwegs gut bezahlte Stelle in einer international operierenden Consulting-Firma und wurde genommen.

zwischen den buchen, hinweg über ihre teils überirdisch verlaufenden wurzeln, moosgrün überzogen, dringt tiefer in den wald und in die natur. im rücken die stadt. hin und wieder schatten im unterholz, zwei, drei nacheinander. langsames vorankommen mit dem kaputten knöchel. und die brocken des nachbarn liegen bleiern im magen, der bauch ist aufgebläht, ein kreuzrippengewölbe. die schwerkraft des fleisches zieht nach unten. dann folgt geburt um geburt um wiedergeburt, teilgeburten in kleinen portionen, ganz natürlich in gang gebracht durch einen kaiserschnitt, nachdem sich eine krähe am bauch festgekrallt und ein loch durch die steife haut, die schwindende fett- und muskelschicht, die magenwand gepickt hat. bei jedem schritt fallen feuchte, unverdaute teile des nachbarn auf den harten waldboden, wo sie sich mit kalten blättern und nadeln und raureif zu kleinen, stacheligen bällchen verbinden. hinterlässt eine kindermärchenspur, sie verschwindet in den blutigen schnäbeln der vögel. so wie nachbar jürgen beständig weniger wird in , so erhöht sich langsam und kontinuierlich wieder die schrittzahl pro stunde. der körper drängt sich in dichtes gestrüpp abseits ausgetretener wege, durch dornensträucher, über hauchdünne und schmutzige schneeflächen und über unbefestigtes und rutschiges gelände. die pflanzen und die bäume zerren an ihm von allen seiten. geht wie ein marathonläufer läuft, wenn er eine bestimmte grenze seiner ausdauer überschritten hat, wenn er nicht merkt, dass er läuft, dass es läuft. von allein. allein. es.

Freitagabend nach der Arbeit, er war zu Fuß unterwegs. Er war müde von der Woche im Büro. Er hatte es satt. Und er dachte vage und harmlos an einen Schlussstrich, wieder einmal. An einer Litfaßsäule, zwei Querstraßen von der Firma entfernt, klebte gut sichtbar inmitten der Plakate, die durcheinander von aktuellen Ausstellungen in Kunsthallen, Museen und kleineren Galerien erzählten, und diese ein wenig verdeckend ein Blatt, eng bedruckt mit einem langen Text. Titel: „esc – abbrechen“. Er blieb stehen und nahm sich die Zeit (obwohl er sie eigentlich nicht hatte, denn er musste noch … die Mutter wartete, er war auf dem Weg zur ihr, hinaus an den Stadtrand …), um ihn durchzulesen:

7 Möglichkeiten: Die Sonne scheint, und es ist windstill. Die Tauben sind leise, die Krähen nicht. Er isst gerade ein Eis, 2 Kugeln, Schokolade-Erdbeere, als ihm ein leinenloser Hund mit seinen dreckigen Pfoten das Hemd vollschmiert. Er wird kurz zornig auf das Tier und die alte Besitzerin, dreht sich dann aber weg und geht nach innen lächelnd durch den Park über die Wiese. Nach einer Dusche vergisst er den Vorfall.

6 Möglichkeiten: Sie kommt verschwitzt, in jeder Hand eine schwere Einkaufstasche, durch die Wohnungstür. Er schaut sie an, als ob sie ein Versprechen gebrochen hätte. Sie geht geduckt zum Kühlschrank und räumt die Sachen ein. 10 Minuten Schweigen, in denen die Alarmanlage eines Autos ohne Unterbrechung durch die Wohnzimmerfenster zu hören ist. Dann entschuldigt er sich bei ihr. Sie ist froh und drückt sich an ihn. Er weiß nicht, ob die Entschuldigung ernst gemeint war.

5 Möglichkeiten: Es ist Freitag, im Kino drängen sich die Menschen. Aufstehen, weil jemand vorbei muss, hinsetzen. Aufstehen, hinsetzen. „Wie in der Kirche“, sagt jemand. Die in der Reihe hinter ihnen sprechen laut über Masturbation und Internetpornos. Er greift nach ihrer Hand. Sie lächelt ihn an, ziemlich „mild“. Er versucht eine Erwiderung. Sie glaubt ihr. Als Popcorn über ihre Köpfe nach vorne fliegt, fixiert er die Leinwand, ganz fest. Darauf ist eine Schwarz-Weiß-Einstellung zu sehen, ein Stillleben, im Hintergrund singt Ian Curtis. Er sieht nicht, er hört nicht. Ihre Hand knetet er leicht und abwesend.

4 Möglichkeiten: Montag, und in der Arbeit läuft alles nach Plan. Es ist wenig los. In den letzten 2 Wochen hatte er rund 3-mal den Hörer abnehmen müssen. Er betastet seinen Hals. Er glaubt kurz, dass da etwas gewachsen ist, im Kehlkopf oder bei den Mandeln oder an den Stimmbändern. Es ist nichts. Das Schlucken fällt ihm aber schwer. Und das Atmen. Er wird morgen zu Hause bleiben. Er geht, ohne sich bei jemandem zu verabschieden. Dabei ist es ihm fast egal, ob über ihn geredet wird.

3 Möglichkeiten: Was ist Geduld? Er kennt sie nur flüchtig, sie flieht immer, weicht vor ihm zurück, wenn er sich nähert. Er will immer – SOFORT, es muss ihm – SOFORT – gelingen, für Schönheitsfehler, schöne Fehler, Ästhetik des Fehlers hat er nichts übrig. Warten = verlorene Zeit, es stört ihren Fluss, sie stockt. Vor einiger Zeit ist es ihm wenigstens noch gelungen, sie bei der Busstation oder in einer Supermarktschlange mit Gedankenspielchen in zwar langsamer, aber stetiger und beruhigender Bewegung zu halten. Diese Funktion ist ihm kaputtgegangen.

2 Möglichkeiten: Und die Trennung könnte nicht umfassender sein. Vor dem Bildschirm hämmert er immer wieder die Buchstaben des sozialen Netzwerks in die Suchmaschine, mit Gewalt, Stunde für Stunde, Stunde, Stunde. Die Antwort ist immer die gleiche, von oben herab spuckt die Maschine, die Wolke auf den Menschen. Sie isoliert ihn. Jede andere Seite funktioniert, nur diese eine nicht … „Ups! Dieser Link scheint nicht zu funktionieren.“, der Fehler liegt bei dir, ups, unfähiger Idiot, ups, kontrollier doch noch einmal den Link, ups. Und er kontrolliert und kontrolliert, das ups, das Unwort, bleibt. Um 3 Uhr nachts schaltet er den Computer aus und schlägt gleich darauf mit der Faust 10- oder 11-mal gegen die Wohnzimmertür, der weiße Lack rieselt, danach kommen Tritte gegen Regale und Wände. Er lässt sich gehen. Dazu habe ich das Recht, sagt er sich, ich bin allein.

1 Möglichkeit: Das Land der Alternativlosigkeit ist eine Wüste … Er fragt sich, ob er die Lautsprecherdurchsage noch hören wird. „Wegen der Erkrankung eines Fahrgastes …“

2 Möglichkeiten: Entweder/Oder, Entweder/Oder, Entweder-Oder, Entweder-Oder, Entwederoder, Entwederoder, entweder- oder, entwederoder, entoderweder, entwedoder, entwoder, oder, und – bis dorthin ist es lang und weit, da muss vorher etwas wachsen, damit die 3 wieder auftauchen kann von irgendwo, oder sie schlägt lautlos vor oder neben ihm ein, die Zahl, die sich gegen den Punkt stemmt, ihn verdreifacht …

Am unteren Rand des Blattes befanden sich zehn senkrecht vorgeschnittene Streifen, die man abreißen konnte, mit einer Telefonnummer und den fett gedruckten Wörtern „Zur Möglichkeiten-Multiplikation“. Alle zehn waren noch da. Er stellte sich vor, wie der Verfasser jeden Abend oder mitten in der Nacht, jedenfalls im Schutz einer Dunkelheit, zu dieser Säule pilgerte, um den Bestand der verbliebenen Streifen zu kontrollieren. Er dachte sich jemanden in seinem Alter, um die dreißig. Und wie dieser Jemand jedes Mal nach einem kurzen Blick enttäuscht und beschämt den Rückzug antrat und verschwand, in der Hoffnung, von niemandem in seiner Enttäuschung gesehen zu werden. Und wie er bei sich zu Hause auf die schwarze esc-Taste starrte, minutenlang, und wie er diese dann ruhig mit dem Zeigefinger antippte, zuerst gemächlich und sanft, und wie er dann schneller und schneller und gleichzeitig immer härter darauf einhämmerte, ohne damit den gewünschten oder auch nur irgendeinen Effekt zu erzielen. Er stellte sich den Mann vor, und er stellte sich vor, wie er aufgab.

Den Streifen ganz links außen riss er mit einem Ruck ab, faltete ihn einmal in der Mitte und verstaute ihn in seiner rechten Hosentasche. Die Nummer wählen. Wer würde sich melden? Wie würde die Stimme klingen? Wie klingt eine Telefonstimme zu so einer Geschichte? Und er überlegte, was der Mann sagen würde, vorausgesetzt, dass es ein Mann war, dieser vorgestellte Er um die Dreißig, ein Alter Ego, ein Double. Ob er überrascht sein würde oder verschlafen, oder vielleicht würde er auch ärgerlich sein wegen der Störung. Den Text fand er eigentlich gelungen. Etwas platt und ein wenig flapsig in manchen Formulierungen vielleicht, für meinen Geschmack jedenfalls, und dann auch etwas zu getragen an anderen Stellen, aber darüber kann man hinwegsehen. Viel wichtiger als die sprachliche Qualität war, dass er beim Lesen etwas von sich darin wieder erkannt hatte, ein seltsames Gewicht in den Zeilen: Es war anzunehmen, dass es da jemanden gab, dem es ähnlich ging wie ihm. Der auch das Gefühl hatte, dass seine Möglichkeiten weniger wurden, nach und nach. Und der von seinen Lebensumständen aufgerieben wurde. Und der daher darauf aus war, eine Entscheidung zu treffen, um diesen Raubbau, diesen Verlust zu stoppen.

„Weil, genau, das Land der Alternativlosigkeit ist wirklich eine Wüste“, wiederholte er im Gehen zwei Straßen weiter aus dem Gedächtnis. Sollte er enttäuscht werden, sollte er die Telefonnummer wählen und nichts würde passieren, niemand würde abheben, nicht einmal die automatische Tonbandstimme einer Mailbox, tote Leitung, so würde es immerhin eine kleine Störung im monotonen Tagesablauf gewesen sein, in dem Ablauf, den er sich aufgebaut und in den er sich eingemauert hatte und der ihm inzwischen kaum noch Luft ließ. Versuch es. Riskier endlich was. Das sogenannte Risiko: letztlich nur, eine fremde Telefonnummer wählen. Komm. Trau dich. Immerhin eine Veränderung. So geringfügig diese auch gewesen sein würde. Immerhin, dachte er beim Weitergehen, eine minimale Abweichung vom Gang durch jene obskuren Bezirke, die ihm der Vater nun bereits seit einigen Monaten auf seinem chaotischen Planeten anschaulich zeigte.

ist im kreis gegangen, mehrmals, mit wenigen geringfügigen abweichungen im radius. die landschaft, sie ist monoton, sie läuft auseinander. die aufmerksamkeiten des körpers verlaufen sich im unterholz. die kleinen geräusche (das zweige-knacken, das blätter-rauschen, das rindenknarren, das nadeln-rieseln) können sie nicht mehr zurückholen. die tage, sie sind vorbeigezogen, und im vorbeiziehen sind sie länger geworden. frost beginnt sich aus dem boden zu heben. der wurmstichige atem ist bereits wieder zu seiner unsichtbarkeit zurückgekehrt. dann, jäh, eine erschütterung, sie geschieht nahe einer lichtung, in hohem gras. eine eiche mit dünnem stamm, sie zuckt in der ferne unter axtschlägen, splittert leise, schwankt, bis sie krachend ihre krone senkt, umfällt und einschlägt. die erschütterung rollt heran, getragen von der oberen gesteinsschicht, sie trifft auf die braune hornhaut an den nackten füßen von , eine kaum wahrnehmbare schockwelle in der erde, ein mikro-beben – und eine art stichflamme durchpulst und bringt den körper in fahrt. über 200 meter hinweg fixieren die augen den in der erde gebliebenen baumstumpf, zoomen ihn heran. an ihm lehnt ein mann mit kariertem hemd, einer schwarzen kappe und einem dichten, braunen vollbart. es liegt nicht mehr in der natur des körpers, sich vorsichtig anzuschleichen. stürmt auf ihn zu. der kaputte knöchel behindert nicht. scheuklappen sind festgezurrt, links und rechts nur verschwommen-trübe schemen. die Peripherie des blicks ist ausgeschaltet. dafür brennt sein Zentrum, klar und konzentriert zeichnen sich die lebendigen konturen des mannes ab, auf den zurennt, und der mann bemerkt den herannahenden körper, da ist noch 150 meter von ihm entfernt. der mann hat genug zeit, sich auf die ankunft vorzubereiten. er stößt sich vom baumstumpf ab, zieht in einer fließenden bewegung die axt zu sich und stellt sich breitbeinig und mit entschlossener miene entgegen. er wirkt gefasst. es ist nicht der erste , dem er begegnet. die finger umfassen den axtstiel sehr fest, die knöchel verschneien. er wartet auf .

100 m

72 m

43 m

20 m

13 m

8 m

5 m

2 m

und als sich kurz vor dem mann die arme von nach ihm vorstrecken und sich recken und lang machen, verändert sich der gesichtsausdruck des mannes. schmerzen sind zu erkennen, und mit offenem mund, ohne einen laut, lässt er die axt zu boden fallen, und seine beine knicken ein. ein kniefall. die beiden anderen hatten sich unbemerkt von hinten nähern können. der erste, kleinere, stürzt sich auf seinen linken oberarm, der zweite, großgewachsen, schlank und mit einer grünen und blauen regenbogenhaut, verbeißt sich in seine rechte schulter. reißt alle drei zu boden und spürt den pulsierenden knorpel einer nase im mund, umspült von warmem blut. die gegenwehr ist schwach. die übermäßige adrenalinausschüttung wirkt sich auf das fleisch aus: es ist weich und wässrig. innerhalb weniger minuten ist der liegende mann umringt von vielen anderen, gesichtslosen, die aus allen richtungen herbeikommen und den brustkorb mit bloßen händen aufreißen und verschlingen. einige machen ohne einen bissen kehrt. frisst, ohne satt zu werden, da helfen weder die gesättigten noch die ungesättigten fettsäuren. das gedränge löst sich auf. kein knochenstück, auch kein kariertes hemd ist mehr übrig. alles verschwunden, bis auf etwas farbe im gras, auf den spitzen der halme. und bis zum schluss kein stöhnen, kein schreien, kein hilferuf. als hätte es den holzfäller gar nicht gegeben.

„Sterbebegleitung – dieses Wort ist doch wohl der absolute Gipfel des Egoismus“, so der Vater, während er seinen dichten, braunen Vollbart gekratzt hatte. Ein Freund der Familie war an diesem Nachmittag beigesetzt worden, Josef so und so, Krebs, Lunge, metastasiert. Es war für den Sohn das erste Begräbnis gewesen. Er hatte zwei Monate davor seinen fünfzehnten Geburtstag gefeiert. Der Vater hatte dann fortgesetzt: „Es ist doch schon mehr als genug, jemandem vorher und dann über die Jahre mit den Symptomen des Älterwerdens auf die Nerven zu gehen. Sich dann aber auch noch dabei begleiten zu lassen … Würdelos und unanständig ist das. Und schwach.“

Josef so und so hatte sich begleiten lassen, beim Sterben. Über Jahre. Von seiner Frau, von seiner erwachsenen Tochter. Der Vater hatte in seiner ihm eigenen, entschiedenen Deutlichkeit gesprochen, bei Tisch, im örtlichen Gasthaus. Er, der Sohn, war dem Vater gegenüber gesessen, in einem schwarzen neuen Anzug mit zu kurzen Ärmeln. Die Trauergäste am Nebentisch hatten aufgeschaut, obwohl der Vater nicht laut gewesen war. Damals war dem Sohn trotzdem nicht der Gedanke gekommen, dass der Vater es vielleicht ernst meinen könnte. Auch für die Mutter war es nur eine Harmlosigkeit gewesen. Sie wussten beide, dass der Vater gelegentlich aus reinem Spaß an der Provokation zu Übertreibungen neigte, besonders gern, wenn er getrunken hatte. Die Mutter hatte lächelnd den Kopf geschüttelt.

Als der Vater dann fünfzehn Jahre später sein Verbot verhängte, erinnerte sich der Sohn wieder an diese Begebenheit und ihm wurde klar, dass er damals jedes Wort ernst gemeint haben musste. Jedes Wort bei diesem Leichenschmaus, auch nach Weinglas Nummer Sechs. Die Sätze von damals hatten das Verbot von heute prophezeit. Genau eine Woche nach der Diagnose sprach der Vater es aus, in seinem Patientenzimmer, auf dem Krankenbett liegend, zur Mutter und zu ihm:

„Danke euch für den Besuch. Jetzt geht bitte. Beide … Und ich möchte nicht, dass ihr wiederkommt. Habt ihr mich verstanden? Ich meine es ernst. Ich will euch hier nicht mehr sehen. Das da, das alles, das geht euch nichts an. Das ist meine Sache. Da muss ich durch. Das ist nicht eure Angelegenheit. Ihr wisst, dass ich es so meine. Todernst. Sonst … ihr werdet mich sonst auf der Stelle los sein. Endgültig. Versprochen. Ihr werdet mich auf dem Gewissen haben. Ich habe Mittel, und ich finde Wege. Also. Redet mit den Ärzten. Haltet euch von mir aus bei ihnen auf dem Laufenden über meinen Zustand. Das kann ich sowieso nicht verhindern. Aber lasst mir meine …“

Der Vater wandte sein Gesicht zum Fenster, aber untheatralisch. Das Theatralische war kein fester Bestandteil seines Charakters. Trotzdem sah sich der Sohn in diesem Augenblick selbst als Teilnehmer einer heiligen Zeremonie, oder als Statist, oder noch eher als Requisit in einer Krankenhausserienszene. Nur die musikalische Untermalung fehlte. Die Melancholie einer Ballade. Das zarte, verletzliche Wispern.

Die Mutter und er verließen das Krankenhausgebäude. Im Gegensatz zu ihr, die das Verbot sofort als ewiges, in Steintafeln gemeißeltes Gesetz betrachtete (der Vater will es so; das müssen wir respektieren, wenn das sein Wunsch ist; er hat das letzte Wort, Punkt), war er davon überzeugt, dass es nicht von Dauer sein würde. Diagnose, Krankheitsverlauf, ihre Stadien … Ich bin informiert über das, was kommen wird, Gratis-Broschüre im Wartebereich sei Dank. Es wird instabil werden, dein Verbot. Es wird Risse bekommen und verhutzeln und nachgeben. So wie dein Geist. Du wirst schon sehen.

Und tatsächlich: Die Krankheit schritt unaufhaltsam und selbstsicher und mit starker Hand voran, eine kompakte, effiziente und gut eingespielte Armee. Darüber gab ihm der zuständige Arzt, dessen Namen er sich nicht merken konnte, einmal pro Woche per Telefon Auskunft, sachlich, medizinisch, informativ. Ergebnisse von Differentialblutbildern, Kernspintomographien, SPECT und Lumbalpunktion. Er stellte sich später vor, dass der Mann, sein Vater, in diesem Zeitraum jeden inneren Monolog und jedes Selbstgespräch eingestellt haben musste. Vielleicht aus Furcht, jedes auch nur kurz angedachte Wort in eine Dunkelheit fallen zu sehen, bevor es überhaupt in die Nähe seiner Stimmbänder geraten konnte. In eine Dunkelheit des Unzusammenhängenden, des Nichtnachvollziehbaren.

Oft am Morgen, kurz nach dem Aufwachen, beschloss der Sohn, heute, ja, endlich, jetzt ist es soweit, ganz sicher heute, das Verbot zu brechen oder es auf irgendeine Weise zu umgehen. Dann putzte er sich aber die Zähne, wusch sein Gesicht, zog sich an und ging wie immer ohne Frühstück ins Büro. Für das Umgehen des Verbots fehlte ihm die Kreativität, und für das Darüberhinwegsetzen die Entschlossenheit. Ich habe keine Kraft. Meine Kräfte sind fast am Ende. Und nach der Arbeit fuhr er nach Hause und legte sich schlafen.

Seine Kräfte erschöpften sich buchstäblich im Nichts-tun und Nichts-tun-Können. Die Arbeitszeit in der Firma und vermehrt auch die Freizeit verbrachte er damit, in aller Unruhe zu sitzen und darüber nachzudenken, wie es sein würde, wenn er den Vater wieder sähe. Welcher Anblick sich ihm bieten würde. Was sie zueinander sagen würden. Bei diesen Vorstellungen legte sich immer häufiger ein merkwürdiger Druck auf sein linkes Ohr, wie beim Starten oder Landen in einem Flugzeug. Er gewöhnte sich an, zur rechten Zeit Kaugummi zu kauen, damit bekam er den Gehörgang bald wieder frei. Daneben begann sich jedoch allmählich auch ein hoher, bösartiger Ton einzunisten, der zwar auch wieder verschwand, dessen Anwesenheitsintervalle aber zusehends länger wurden. Und der sich nicht abfangen oder besänftigen ließ. Auch nicht mit Kaugummikauen.

Monate verstrichen. Der Vater war inzwischen in ein Pflegeheim überstellt worden. Der Sohn hatte alles aus der Ferne geregelt, über E-Mails, mit Telefonaten. Dort, im Pflegeheim, begann schließlich jener Zustand des Vaters, der „das finale Vergessen“ ankündigte, so der neue, zuständige, etwas jüngere Arzt, dessen Namen er sich ebenfalls nicht merken konnte und immer mit dem Namen seiner Volksschullehrerin verwechselte („Huemer“) – jene unvermeidliche Episode, in deren Verlauf die anfängliche „zerstreute Vergesslichkeit“ von einer „Panzerglaspermanenz“ ersetzt wurde, wie der neue Arzt sagte, der sich lyrischer als der vorherige auszudrücken verstand. Eine Panzerglaspermanenz, auf deren Oberfläche sich das hartnäckige Fernbleiben jeglicher zusammenhängender Äußerungen abzuzeichnen begann. So telefonierte man ihm also eines Tages hinterher, um ihm mitzuteilen, dass der Vater ihn sehen wolle. Dass er nach ihm rufe. Dass er ständig fragen würde, wo er bleibe, wo er sei. Warum er ihn im Stich lasse. Sein einziger Sohn. Und nachdem er dann alles stehen und liegen gelassen hatte und kopflos, ohne auch nur einen Gedanken an das Verbot zu verschwenden, direkt vom Büro zum Krankenbett gehastet war, blickte ihn der Kranke kurz und verwundert an und fragte ihn, ob er seinen Sohn kennen würde, ob er ihm schon einmal begegnet sei, und dass er ihm ähnlich sehen würde, ob er ihn nicht anrufen und herholen könnte. Er versuchte ihm zu erklären, dass er es war, er selbst, sein Sohn. Ich hätte früher kommen sollen. Das Verbot schlichtweg ignorieren. Nicht bis zu diesem Anlass warten. Mein Gehorsam, mein scheußlicher, scheußlicher Gehorsam…

„Wir sind alle hier gestrandet, und wir alle tun unser Bestes, um das zu verleugnen.“ Ein Satz aus dem Mund des Vaters, er allein mit ihm in Zimmer 0304. Die Mutter abwesend und ohne von seinem Besuch, von seiner Übertretung zu wissen. Der Satz des Vaters klang wie ein Zitat, unvermittelt aus einem unbekannten, fernen Kuckucksnest gefallen, an jenem Samstagnachmittag im August, bei 32,7 Grad im Schatten. Die Wörter standen hager in der heißen Zimmerluft, bei wenig Wind, ihre Federn kompakt und unter ihnen das tote Meer. Der Vater sagte die Worte langsam vor sich hin, ernst, fast gesungen, die Betonung sehr sorgfältig gewählt, so sorgfältig, dass der Sohn beinahe darüber lachen musste. Dann kam ein Pfleger, drehte den Vater vor seinen Augen auf die Seite und wechselte ihm die Windeln und sprach mit ihm furchtbar wie mit einem Kind. Der Sohn dachte, dass der Vater entweder seine himmelhohe Scham hinter einer apathischen Fassade verbergen musste und es so einfach geschehen ließ, oder dass die Fassade selbst bereits ein Opfer des Verfalls geworden war und er es deshalb geschehen ließ.

Kapitel 2

geht über eine wiese. in wellen hebt und senkt sich während des gehens die bauchdecke von , nicht wegen hunger oder atmung, sondern wegen der insektenbesiedelung und ihren unablässigen völkerwanderungen. sie verlagern ihre zentren in richtung anus. dort kriechen sie in hinein und wieder aus hinaus und in die jeans, die sich hinten am gesäß füllt, auch mit ihrem, nämlich mit tierischem kot. die schließmuskeln sind außer betrieb, sie verschließen nichts mehr, ziehen sich nicht mehr zusammen und weiten sich auch nicht mehr. sie sind entkräftet, so wie die welt und das universum entkräftet sind: es wird aus ihnen und mit ihnen und in ihnen nichts mehr gepresst. sex und urin haben sich für auch erledigt, denn der penisschwellkörper ist nicht mehr existent. die schlaffe vorhaut beherbergt eine ruine, ihre letzten trümmer verschwinden in den pharynxen der ameisen. dann muss die vorhaut selbst dran glauben, auch sie verschwindet letztlich, und ein loch bleibt zurück, kreisrund. treibt es trotzdem weiter durch das gras.

TakelageTa-ke-laaa-ge.