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°luftschacht

Matilda hat sich ihr Leben eingerichtet, ist eine gute Schülerin, ein wenig Außenseiterin, dafür aber Liebling der Lehrer. Sie lebt mit ihrem Vater in einem engen Tal mit wenigen Fluchtmöglichkeiten, in dem sich nicht nur am Rande der Bergstraßen die Abgründe auftun. Ihre Mutter, erzählt man ihr, sei bei ihrer Geburt gestorben. Ihre Großmutter, sagt man ihr, dämmere in einem Heim dahin. Doch ausgerechnet diese angeblich Demente wird ihr den Schlüssel zur Wahrheit über ihre Mutter liefern. Und dann tritt noch Alain Bonmot in Matildas Leben. Der Franzose nähert sich ihr wie niemand zuvor. Er ist es, der aufhört, sie als Kind zu betrachten und die junge Frau in ihr zum Vorschein bringt. Mit ihm begibt sie sich auf eine Reise in die Ebene. Doch die harmlose Fahrt ins Blaue gerät schnell zu einem Road Trip voller Irrungen und Wirrungen.

Eindringlich und mit beeindruckender Konsequenz erzählt die als Lyrikerin bekannte Sonja Harter in Weißblende von einem ungewöhnlichen Aufbruch: einem Aufbruch aus dem Tal, einem Aufbruch ins Erwachsensein; und davon, dass mancher Aufbruch auch in den Absturz führen kann, wenn man von dem Falschen an der Hand genommen wird.

SONJA HARTER, *1983 in Graz, lebt heute in Wien. Seit 2001 veröffentlicht sie in Literaturzeitschriften (u.a. Manuskripte, Lichtungen, kolik), Anthologien (u.a. Jahrbuch der Lyrik, S. Fischer; Lyrik von Jetzt Zwei, Berlin Verlag, Stimmenfang, Residenz) und im ORF Radio. 2005 erschien der Gedichtband barfuß richtung festland, 2008 folgte einstichspuren, himmel. (beide Leykam). Im Herbst 2015 erschien landpartiestorno (edition keiper).

Sonja Harter

Weißblende

Roman

Luftschacht Verlag

© Luftschacht Verlag – Wien

Alle Rechte Vorbehalten

1. Auflage 2016

www.luftschacht.com

Umschlaggestaltung: Richard Klippfeld richardklippfeld.com

Satz: Luftschacht

ISBN: 978-3-902844-98-9
eISBN: 978-3-903081-56-7

Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien

Inhalt

Am Rand des Wahnsinns das Licht abgedreht.

Nervensommer.

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Kapitel XII.

Kapitel XIII.

Irrlichtern.

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Klirren.

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Videogames.

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Am Rand des Wahnsinns das Licht abgedreht.

Der Tag beginnt mit einer Weißblende. Die abwaschbaren Wände des Zimmers halten still, das ist eine Frage der Zeit, ich weiß, aber heute, ganz bestimmt, sage ich ihnen die Wahrheit. Zeit zu gehen, kein Schmerz, nur ein leichtes Ziehen hinter den Augen. Das Türschloss bewegt sich. Ein Scharren in den fiktiven Startlöchern dieses unheilvollen Tages.

Sitze hier seit Tagen, Wochen, zwischen unsteten Raumgrenzen, kämpfe gegen den unabwendbaren Kurzschluss an, während sie eine Pille nach der anderen ausprobieren, mich die Anfälle protokollieren lassen, ich mir den Stift in den Hals ramme, in die Handgelenke, zwischen die Beine. Nichts hilft. Die Tür zu meinem Bewusstsein geht jeden Tag einen Wimpernschlag schneller zu, ich kann noch Licht erkennen, aber: nichts als Neon. Ein Gleißen, dass dir Hören und Sehen vergeht. Tag und Nacht. Ich will die Augen gar nicht mehr aufmachen.

Die weißen Wände, die sich in der Unendlichkeit schneiden, reflektieren den blauen Linoleum-Boden, in den die trägen Räder der Krankenhausbetten viel zu tiefe Rillen gekerbt haben. Alles laufen lassen, steht auf diesem Schild, das nur schemenhaft über der Szene hängt. Wer hat das eingeblendet, aber da wirken schon diese Plastikpillen, die wie Kondome schmecken, wenn man sie nicht schnell genug runterschluckt. Endstation endloser Korridor. Im Unendlichen schneiden sich die anständigsten Kinder ins Fleisch.

Nervensommer.

I.

Hier, in diesem dreifaltigen Tal (Autobahn, Hochspannungsleitung, Zugstrecke) gehört das unbändige, durch nichts aus dem Unterbewusstsein zu löschende Rauschen zum Inventar der Tage wie der Nächte. Das Rattern der Eisenbahn, die in keinem der Orte hier in der Gegend mehr Halt macht, mischt sich an heißen Sommerabenden mit dem elektrischen Sirren zwischen den dünnen Drähten, die sich viel zu tief über die Häuser spannen. Als nicht kontrollierbare Bassline das gleichmäßig an- und abschwellende Brummen der Autos, die jede Geschwindigkeitsbegrenzung hinter sich gelassen haben. Dabei gibt es hier nicht mal eine eigene Autobahnabfahrt.

Wir sind das Durchzugsgebiet, bekommen die Durchreisenden nicht zu sehen, können nicht zusteigen, von einem Ort zum anderen fahren. Die Bahnstrecke ist jenen vorbehalten, die von weit kommen und nach weit fahren. Wir sind Wartende, wenn überhaupt, manche lassen sich das nicht gefallen. Fahren mit den Bussen, den Traktoren, den klapprigen Fahrrädern von A nach B, nur um wieder umzukehren. Dieses Tal verfügt über mehrere Ausgänge, schmale Schluchten, durch die sich steile Bergstraßen schlängeln, von denen mehrmals im Jahr, meistens nachts oder bei Schneefall, die aufgemotzten Autos der jungen Männer abkommen, die den Kraftaufwand, hier rauszukommen, unterschätzen. Ihre Fahrzeuge prallen gegen die Leitschienen, die viel zu niedrigen Steinmauern, gleiten unter elektrischen Viehzäunen hindurch und zerschellen tief unten, oft werden sie erst nach Stunden entdeckt, dann kommt der Hubschrauber. Meist ist es jedoch zu spät. Dennoch bleibt das eigene Auto hier das Maß aller Dinge, für seine Anschaffung werden schon im Kindesalter Bausparverträge angelegt, die Großeltern zahlen zu Weihnachten, zum Geburtstag, ja sogar zu Ostern große Beträge ein, damit pünktlich zum 18. Geburtstag ein weiteres Auto vor den Garagen, in den Einfahrten, stehen kann, damit man zumindest ins Nachbardorf fahren kann oder der ersten Freundin vorgaukeln, ihr irgendwo, hinter den schneebedeckten Gipfeln, eine neue Chance bieten zu können.

Hier, zwischen diesen viel zu hohen Hügelketten, die den Wolken ihre Kontur streitig machen, bin ich schon längst nicht mehr Kind, habe es aber, wenn es nach Vater geht, noch möglichst lang zu bleiben. Ich tu ihm den Gefallen, ich habe nicht das Gefühl, etwas zu verpassen. Unser Hof liegt direkt an der Hauptstraße von Unteraubach, die vielleicht nie strahlend weiß gewesene Wand ist bis zu den Fenstern mit braunem Abwasser bespritzt, das vorbeifahrende Autos und Vaters Traktor über Jahre hinweg von der Straße verdrängt haben. Dahinter: die Scheune, der Stall, Unrat, dann gleich der Hang, der steil in die Berge führt. Jedes Blumenbeet, der Gemüsegarten, meine alte Sandkiste: Jede gerade Fläche muss aufgeschüttet werden, mit Brettern abgesichert, nur, um ein wenig Waagrechte zu schaffen, die daran erinnert, dass nicht alles hier in der Gegend in Schräglage geschehen kann. Auf der dem Hang zugewandten Seite, von der Straße nicht einsehbar, die Haustür, die stets nur angelehnt ist, die in den dunklen, herrlich kühlen Vorraum führt, in dem ich so gerne barfuß gehe, um den alten, kalten Stein zu spüren. Der offene Vorraum, der sogleich den Blick auf die Treppe freigibt, die zu den Schlafzimmern führt. Der Zugang zum Keller befindet sich außerhalb des Hauses, wie in diesen amerikanischen Filmen, mit in den Boden eingelassener Klapptüre, aber dahinter findet sich kein Luftschutzraum, kein Panic-Room, keine Überlebenskapsel für den Ernstfall. Wir fürchten uns vor nichts, der Eiserne Vorhang ist gefallen, bevor ich geboren wurde, Luftangriffe waren hier stets nur ein Mythos, der Keller ist gemauert und feucht, und die Glühbirne hält immer nur ein paar Wochen, bis zum nächsten Kurzschluss.

Ein Keller, der jeglicher schauriger Romantik entbehrt. H.C. Artmanns Unbekannter „met da zitrechn haund“ ist hier unvorstellbar, die Tür stets mit einem Vorhangschloss versperrt und nur Vater und ich wissen, wo sich der Schlüssel befindet. Aber vor „kindafazaran“ ist auch dieses Tal nicht gefeit, mindestens einmal pro Schuljahr kommt die Direktorin mit düsterer Miene und schlechten Nachrichten in die Klassenzimmer, tritt von einem Bein auf das andere und redet um den heißen Brei herum. Wir sollen zu niemandem ins Auto steigen und keine Süßigkeiten von Fremden nehmen und das Internet, ja das Internet. Alles Fremde ist gefährlich, hier, in diesem Spalt zwischen den Bergen, der einst, ich kann nicht nachvollziehen, warum, besiedelt wurde. Dieser ewige Schatten macht die Gemüter trübe, für einen Missbrauch braucht man sich hier nicht erst im Netz zu verfangen.

Unser Haus aber ist frei von Angst. Rechts die Küche, links das Wohnzimmer, das wir fast nie benützen, das Vater im Winter nur stundenweise beheizt, das abgesehen von einem Sofa, einem unbenutzten Esstisch und einem verglasten, halb vollen Bücherregal unheimlich leer erscheint. Unsere Mahlzeiten essen wir in der Küche, am großen Tisch mit der Eckbank, über der ein paar Fotos aus Vaters Vergangenheit hängen. Bilder seiner Eltern, einiger Tiere, keines meiner Mutter. Das Bild meiner Mutter hängt im Vorzimmer, neben der Treppe. Mutters Foto, das ich als kleines Kind stundenlang anstarren konnte, auf der dritten Stufe sitzend, stets die angelehnte Haustür im Blick, durch die Vater jederzeit kommen konnte und mich sanft am Arm packen, um mich wegzuziehen. Aber er wagt es nicht, das Foto abzuhängen, obwohl er es niemals ansieht. Zumindest nicht, wenn ich in der Nähe bin.

Das gemeinsame Abendessen ist ihm heilig, sofern Vater, der niemals in die Kirche geht, was zu Tratsch führt, immer noch, überhaupt etwas heilig sein kann. Auch wenn wir kein Wort verlieren, weil wir uns selten etwas zu sagen haben, sitzen wir einander gegenüber da und haben das Gefühl, eine besonders harmonische Familie zu sein. Der Rest einer Familie. Essen im Stehen ist streng verboten, zwischen Tür und Angel, keine Chance. Lesen beim Essen geht nicht, Vater liest überhaupt nie. Die lokale Tageszeitung haben wir erst bestellt, als es die Möglichkeit im Rahmen eines Projekts in der Schule gab und seither hat er sie nicht abbestellt, weil ich eine Stunde vor dem Frühstück aufstehe, um sie zu lesen. Ich stelle mir dann vor, dass meine Mutter das auch getan hat, auch wenn ich das nicht weiß, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es nicht getan hat. Ich wüsste gerne, welche Zeitung sie abonniert hatte, aber das darf man Vater nicht fragen, man darf Mutter überhaupt nicht erwähnen, wenn man verhindern will, dass er sich tagelang in sich zurückzieht und manisch das Haus putzt, brauchbare Dinge entsorgt und abends zitternd unter seinem Fenster hockt und mit dem Messer, das er einst von seinem Vater geschenkt bekommen hat, kleine Figuren schnitzt, die er dann den kleinen Kindern schenkt, die mit ihren Müttern auf den Hof kommen, um sich ihre Milchkannen befüllen zu lassen.

Eine zeitlang kam dreimal pro Woche eine Aushilfe, die Vaters Hemden bügelte, den rauen Holzboden fegte und mir ab und zu übers Haar strich. Sie hieß Maria, wie fast alle Frauen hier, und war stumm. Die Leute sagten, sie habe bei der Geburt nicht genug Luft bekommen, sie sei zurückgeblieben, aber sie sah ganz normal aus. Ich sah ihr stundenlang zu, wie sie Vaters Hosen reparierte oder den Ofen putzte oder den Boden mit Wachs einließ, sodass er tagelang einen intensiven, wohligen Duft abgab, der mich stets an sie denken ließ. Sie hatte raue, rissige Hände, ihre Bluse war nie ganz weiß, im Sommer kam sie barfuß. Eines Abends aber, als ich früher von einem Ausflug mit meiner Freundin zurückkam, weil das Wetter umgeschlagen hatte, überraschte ich die beiden, wie Maria vornübergebeugt auf dem Küchentisch lag, mit hochgezogenem Kittel, und Vater gerade dabei war, auf ihrem Hintern abzuspritzen. Dann kam sie nicht mehr.

Gleich, gleicher, hier.

Das Putzmittel, das die Frauen, die auch das Essen verteilen, viel zu hoch dosiert in die mit lauwarmem Wasser gefüllten Eimer schütten, beißt am Gaumen, treibt mir die Tränen in die Augen, bevor ich auch nur ans Frühstück denken kann. Durch die Wände hindurch höre ich das Schmatzen der Gesundheitsschuhe, die auf dem spiegelglatten, feuchten Boden gerillte Abdrücke hinterlassen, die den Korridor nie ganz unberührt wirken lassen, auch, wenn der Putztrupp noch im Gegenlicht am Horizont zu sehen ist. Es wird hier ganz einfach nie sauber sein, denke ich mir, während ich versuche, das hinten verschnürte Nachthemd zu öffnen, um den verschwitzten, hellgelben Stoff der Nacht gegen die ebenfalls verschwitzte, blassblaue Tagesgarderobe zu tauschen. Drei Knöpfe vorne, um den Bauch herum viel zu weit. Eigene Kleidung ist nicht erlaubt, das kann ich verstehen, sonst würden sich die Unterschiede zeigen. Würde man sehen, welche Frauen Röcke tragen und welche Hosen. Die groß geblümten Blusen der Hausfrauen mit Burnout gegen die schwarze Einheitskluft all jener, die sich hier eigentlich dem Kunstbetrieb entrissen fühlen, entwurzelt, den Wahnsinn als längst gesellschaftlich anerkannten Teil ihrer Persönlichkeit verinnerlicht hatten, bis, nun ja: einer das Gegenteil behauptete. Der Wahnsinn nach außen gekehrt wurde, jemand anders für zuständig erklärt, eine Heilung als das oberste Ziel ausgesprochen wurde. Oder die Junkies, die sie hierher schicken, die mittlerweile gar nicht mehr in ihre engen Jeans passen würden, weil sie gemästet werden, weil das zum Entzug dazugehört und zum neuen Leben, das Essen. Wir sind hier alle gleich, das sagte man mir am ersten Tag, es gibt keine Rangordnung, keine Bevorzugung oder Benachteiligung nach Bildungsgrad, Kontostand, Einlieferungsgrund.

Einer der anderen, die hier ebenso wie ich auf den unvorhersehbaren Ausgang der Dinge warten, hat sich bewegt, das Licht draußen auf dem Gang flackert, geht jedoch nicht wirklich an. Schritte hallen, aber es kommt einfach keiner ins Bild.

Das Zimmer mit Aussicht leuchtet. Keine Aussicht auf Besserung, jemand hat das Bettgestell rot lackiert, an den Wänden Zeichnungen, die irgendjemandem wohl einmal das Leben gerettet haben. Die Schubladen stehen offen, jemand hat das Neue Testament entfernt, das Fernsehkabel auch.

Der Arzt, den sie ebenfalls vor dem Frühstück vorbeischicken, wird sich setzen, meine Hand berühren, meine Hand seine Hose, hier kann ich nicht bleiben. Ein Kuss auf die Stirn, Entlassungspapiere, suchen Sie sich ein Kloster. Die Tabletten mit Kondomgeschmack gibt’s auf Lebenszeit dazu. Das wird dich an mich erinnern, immer. Hörst du.

II.

Wir sind eine kleine Klasse. Sieben Mädchen und neun Buben. In den anderen Jahrgängen sieht es ähnlich aus und jedes Frühjahr sprechen die Lehrer offen von ihrer Angst, dass die Schule bald ganz schließen wird und wir mit dem Bus nach Kratzbach fahren müssen. Auch in Kratzbach fehlen Schüler, aber sie haben ein Kino, ein Hallenbad und aus der Fremde hergezogene Arbeiter, die in der großen Fabrik Bestandteile für Fertighäuser herstellen. Wenn eine von beiden Schulen geschlossen werden muss, ist es unsere. Das ist politisch ausgemachte Sache, sagt Vater.

In wenigen Wochen beginnen die großen Sommerferien und eine Entscheidung hätte längst gefällt werden müssen. Seit Anna nach Bayern gezogen ist, weil ihr Vater dort Abteilungsleiter in einer Autozulieferfabrik geworden ist, sitze ich an meinem Tisch alleine in der ersten Reihe. Ich hätte mich zu Marika nach hinten setzen können, aber dann hätte ich zugeben müssen, dass ich auf diese Entfernung nicht an die Tafel sehen kann und eine Brille ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann. Ich habe den größten Busen von allen, wenn ein T-Shirt nicht weit genug ist, um ihn zu verbergen, pfeifen mir die Burschen auf dem Gang nach und stoßen sich mit den Ellbogen gegenseitig in die Rippen. Niemand trägt eine Brille und ich habe keine Lust, durch ein äußerliches Merkmal noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich bin die Einzige, die ihre Haare nicht gefärbt oder getönt hat. Marika hat einen Rotstich, der ihre Locken schimmern lässt, die anderen probieren seit Monaten verschiedene Blondtöne aus, die ihre aschfarbenen, schlaffen Haare unnatürlich wirken lassen. Es erinnert an das Blond der Mädchen aus den Pornos, die sich die Burschen unter ihren Tischen auf ihren Smartphones anschauen. Manchmal zeigen sie sie uns und fragen, ob wir Lust auf einen Arschfick haben. Haben wir nie.

Meine Haare sind im Sommer hellblond, im Winter beinahe braun, ich habe sie mir wachsen lassen, damit ich sie mir vor den Schultern über den Pulli fallen lassen kann. Das lenkt vom Busen ab, ganz bestimmt. Ich habe auch keine Lust, mich in der Pause über Schminktechniken zu unterhalten oder über den Geschmack von Kondomen. In der Schule wird Lidschatten nicht gern gesehen und nachmittags an der Bushaltestelle abzuhängen, um darauf zu warten, dass ein paar Burschen mit ihren Mopeds aufkreuzen, um gemeinsam ein paar Zigaretten zu rauchen, ist auch keine Perspektive. Sie fahren ja nicht einmal irgendwohin. Die Burschen bleiben auf ihren Maschinen sitzen, die Helme hängen sie über die Lenkstangen und die Mädchen stehen einfach rum oder sitzen auf den Gehsteigkanten und lassen ihre Höschen blitzen. Manchmal spielen sie Musik auf ihren Telefonen, drehen die Lautstärke der Lautsprecher voll auf, es knackt, es rauscht und Mädchen wie Marika nicken im Takt mit dem Kinn.

Frau Hochgatterer hat einen Schweißausbruch, sie nimmt ihr buntes Tuch von den Schultern, die hochgesteckten rotblonden Haare werden am Ansatz feucht, sie lächelt, dann bläst sie Luft in den Ausschnitt ihrer Bluse. Aus dem Haarknoten löst sich eine Locke und ich erschrecke, als ich aufstehen will, um sie ihr hinters Ohr zu streichen. Meine Geschichtslehrerin geht zum Fenster, öffnet es, schaut auf die Berge hinaus. In der Klasse wird es laut, sie kümmert sich nicht darum, stützt sich mit beiden Händen auf das Fensterbrett und atmet tief ein. Ihr Brustkorb bläht sich, ich stelle mir vor, wie die Konturen ihres BHs unter der beigen Seidenbluse sichtbar werden. Die Luft, die an ihr vorbei ins Klassenzimmer strömt, ist für einen Junitag unglaublich kühl, sie mischt sich mit Frau Hochgatterers Parfum, oder ist es die blühende Kastanie. Sie dreht sich so schnell um, dass ich meinen Blick nicht abwenden kann und sieht mir ins Gesicht. Ich spüre, wie mir heiß wird, kann einfach nicht wegsehen, die Lider senken, als hätte ich etwas Verbotenes getan. Aber sie lächelt mich an, ich stelle mir vor, dass sie auf mich zukommt, mir über die Haare streicht und flüstert: Alles ist gut. Die anderen haben nichts bemerkt, der Lärmpegel wächst mit der Bewegung der Zeiger auf der Uhr, die über der Tafel hängt, neben dem Porträt des Bundespräsidenten, es läutet in drei Minuten zur Pause. Niemand wird mehr das Geschichtsbuch aufschlagen, ihr zuhören, eine ihrer absichtlich naiv gestellten Fragen beantworten. Wir beide wissen das, in diesem Moment, der schon viel zu lange dauert und mit dem nächsten Windhauch lockert sich eine neue rotblonde Locke aus ihrer Frisur. Frau Hochgatterer löst sich vom Fensterbrett, lässt die Flügel offen, kommt auf mich zu und lehnt sich an meine Tischplatte.

Hat sich jemand gemeldet?

Nein, sage ich.

Schade.

Die Schulglocke läutet, die anderen packen ihre Rucksäcke und schlendern plaudernd aus dem Raum. Es wird still und meine Bücher liegen immer noch auf meinem Tisch, an dem Frau Hochgatterer nach wie vor lehnt. Sie blickt zur offenen Klassentür, sekundenlang, dann streicht sie mir über die Haare.

Wirklich schade, sagt sie und lächelt. Dann geht sie zurück zum Lehrertisch, schließt ihre Mappe, öffnet ihre Tasche und verstaut das Unterrichtsmaterial. Sie geht zum Fenster, atmet noch einmal hörbar ein, bevor sie es schließt. Ohne mich noch einmal anzusehen, geht sie zur Tür. Im Hinausgehen wünscht sie mir einen schönen Nachmittag und ich sage nichts.

Vor einigen Wochen habe ich vorgeschlagen, eine Schülerzeitung zu gründen. Ich stand vor der Klasse, Frau Hochgatterer nickte mir zu und ich fragte in die Runde, wer im Redaktionsteam dabei sein wolle. Wir könnten es nur online machen, um Druckkosten zu sparen. Wir könnten ein Forum anschließen, um Neuigkeiten oder Probleme zu diskutieren. Wir könnten Ausflüge nach Kratzbach machen und über die Aufführungen im Kellertheater schreiben. Die spielen sogar Werner Schwab oder Marlene Streeruwitz, anders als unsere Theatergruppe in Unteraubach, die einmal pro Jahr eine englische Komödie gibt. Wir könnten das Essen aus der Schulkantine testen oder Politiker interviewen. Studienrichtungen vorstellen oder CDs von angesagten Bands besprechen. Keiner sah mich an, Anna schaute aus dem Fenster, Marika begutachtete ihre Haarspitzen, Jonathan schrieb etwas auf ein Blatt Papier, faltete es und schoss den Flieger in meine Richtung. Unsere Geschichtslehrerin bückte sich, hob ihn auf und faltete das Papier auseinander. Frau Hochgatterer hielt den Zettel in die Runde, sodass es jeder sehen konnte. Er hatte einen Penis gezeichnet, auf der Eichel ein Gesicht. Dann knüllte sie das Papier zusammen und schoss es zu Jonathan zurück, er fing den Ball auf und lachte. Wir alle lachten, ich setzte mich wieder hin und Frau Hochgatterer ließ uns das Buch auf Seite 124 öffnen.

Was kannst du uns über die Französische Revolution erzählen, fragte sie Jonathan mit süffisantem Lächeln, der sich über seine mit Gel an den Kopf geklebten Haare fuhr, ins Buch sah, seinen Sitznachbarn Hannes anrempelte und dann langsam den Mund öffnete.

Es war eine wilde Zeit, sagte er und nickte mir zu. Alle lachten. Egal was Jonathan sagte, immer lachten alle, auch wenn es nicht komisch war. Jeder wollte ihm gefallen, manchmal hatte ich das Gefühl, dass sogar die Lehrer mitspielten. Er war der Sohn des Bürgermeisters.

Beim Gehen komme ich am Lehrerzimmer vorbei, die Tür steht offen. Frau Hochgatterer sitzt zurückgelehnt auf ihrem Platz, die Hände im Nacken verschränkt, den Busen nach vorn gedrückt, den Blick an die Zimmerdecke. Ich weiß nicht, warum ich stehenbleibe. Ich möchte noch etwas sagen, vielleicht zur Schülerzeitung, die ich so gerne gemacht hätte, oder über die Sommerferien, deren unendliche Länge mir Angst macht. Es gibt nichts zu tun, Vater fährt mit mir nicht nach Griechenland, wie Marikas Eltern oder nach Italien, in einen Club, auf den sich Jonathan seit Wochen freut, weil er glaubt, dass er dort gratis Alkohol trinken kann. Vater hat viel zu tun, jetzt im Sommer. Ich könnte ihm helfen, aber ich muss nicht, hat er gesagt. Neun Wochen Stillstand. Endlose Tage am Teich, wo die Dorfjugend den langen Steg in Beschlag nimmt, die Burschen die kreischenden Mädchen an den Handgelenken packen, sie unter großem Gejohle ins Wasser werfen und lachend an ihren Zigaretten ziehen. Wo es ein Wettbewerb ist, wer als Erste von den älteren Jungs zu einem Eis eingeladen wird und wo es keine Möglichkeit gibt, meinen Busen halbwegs zu verstecken. Im Herbst werden dann auch die letzten von ihnen von ihren Entjungferungen schwärmen, vom Geschmack der Kondome und der Angst, dass ihre nächste Periode nicht kommt. Jedes Jahr dasselbe, jedes Jahr bleiben ein paar von ihnen übrig, die es wieder nicht geschafft haben.

Vor einigen Tagen habe ich den Deutschlehrer gebeten, mir eine Liste von Büchern zu geben, die ich in den Ferien lesen könnte. Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, starrte kurz auf meinen Busen, sah dann über meine Schulter hinweg ins Leere und versprach, sich etwas zu überlegen.

Diese Bitte kann auch nur von dir kommen, sagte er noch und ich spürte, wie ich rot wurde. Im Weggehen drehte er sich noch einmal um.

Warum versuchst du nicht, selbst etwas zu schreiben? In seinen dunklen Augen blitzte es kurz auf, seine Lippen gaben seine sehr weißen, sehr großen Zähne frei.

Das würde dir guttun, sagte er noch und ich spürte, wie der Schweiß aus meinen Achseln auf der Innenseite meiner Arme hinunterrann. Ich drückte die Arme an meinen Körper. Er war der einzige Lehrer, der in der Schule Jeans trug und als er sich wieder umdrehte, um zu gehen, fand ich, dass ihm das gut stand. Dann verschwand er im Lehrerzimmer.

Frau Hochgatterer setzt sich auf, räuspert sich und bevor sie aufsteht, verlasse ich die Schule.

Soweit das Auge reicht, bis zur Wand.

Ich versuche mich zu konzentrieren, fokussiere auf das rote Bettende, das geschwungene Gitter, an das meine Füße in der Nacht stoßen, sobald ich mich strecke. Der immer kalt bleibende Rahmen dieses Bettes, das meine Heimat geworden ist, aber nicht bleiben wird, bestimmt nicht. Diese nicht zu beschreibende Stille, die selbst das Rauschen im Kopf auslöscht: Stundenlange Amnesie am Morgen, Filmriss, Blackout, das kennt jeder, der einmal eine Flasche zu viel hatte. Aber tagein, tagaus. Aufwachen im Stimmengewirr und die Sekunden, in denen du nicht weißt, ob sie drinnen oder draußen flüstern. Die Stimmen schwellen an, von fern das Klingen eines Schlagstocks auf Metallstäben oder aber auch nur das Ächzen beim Öffnen der behäbigen Türen mit dem Guckloch. Keine Erinnerung an das Einschlafen, die Minuten, die Stunden davor. War ich auf der Terrasse gesessen, hatte ich zu Abend gegessen? Im Speisesaal mit den Wahnsinnigen oder hier, in meinen vier Wänden? Hatte ich abends noch Besuch gehabt, aber da fällt mir ein, dass ich ja überhaupt niemanden kenne. Bis auf den Arzt, genau, vielleicht besucht er mich jeden Abend, nachts, wissend, dass ich mich am Morgen danach nicht an das Geringste erinnere. Ich taste zwischen meine Beine, kein Blut, schon lange nicht mehr. Das liegt an den bunten Pillen und den geringen Mengen an Anstaltskost, die ich bei mir behalten kann.