Für Guido

 

 

 

 

Sie bemerkte die Gefahr erst, als es zu spät war.

Von einem Moment auf den anderen war der dichte Plastikmüll überall, wischte und kratzte an ihren Armen und Beinen entlang, behinderte sie beim Schwimmen und versperrte ihr jegliche Sicht.

Sie kämpfte sich an die Oberfläche. Wild schlug sie mit den Armen, aber das Plastik und die Strömung zogen sie wieder in die Tiefe.

Schaudernd stellte sie fest, dass sie im Müll gefangen war. Sie spürte Panik in sich aufsteigen. Konnte ein Meermensch in einer Ozeanmüllhalde sterben?

Als sie erneut versuchte, sich aus dem Müllstrudel zu befreien, stülpte sich zu ihrem Schrecken eine Tüte über ihren Kopf – und bedeckte ihre Kiemen.

Plötzlich begriff sie, dass es hier tatsächlich um Leben und Tod ging …

Elmsfeuer

Alea erwachte. Sie lag in einer gemütlichen, warmen Koje. Für einen kurzen Moment zwischen Traum und Wirklichkeit wunderte sie sich, wieso sie nicht in einem Schlafsack auf dem kalten Erdboden lag, irgendwo in den schottischen Highlands. Doch dann fiel ihr alles wieder ein. Lennox und sie waren zurück auf der Crucis, dem Segelschiff ihrer Bande. Die Alpha Cru war wieder vereint. Ein Lächeln stahl sich in Aleas Gesicht, und einen Augenblick lang genoss sie das Gefühl, dass alles gut war. Sie war zu Hause.

Das urige Boot knarrte und ächzte leise, und bevor die sanften Wellenbewegungen Alea wieder in den Schlaf wiegen konnten, setzte sie sich im Bett auf und schaute neugierig aus dem Bullauge. Im Abenddämmerlicht zogen grüne Hügel und eine wilde Uferlandschaft vorbei. Sie befanden sich noch immer in den Highlands. Aber dieses Mal durchwanderte Alea diese Gegend nicht zu Fuß, nein, sie fuhren mit der Crucis auf dem Kaledonischen Kanal. Von Osten nach Westen ging es quer durch Schottland hindurch, und sobald sie das offene Meer erreichten, würden Alea und die Alpha Cru Kurs auf Island setzen.

Aleas Herz machte einen Sprung. Island! Würde sie dort ihren Vater treffen? Die Botschaft, die sie in der uralten Bibliothek von Rach Turana erhalten hatte, machte ihr Hoffnung. Ihr Vater hatte darin gesagt, dass er von dem schrecklichen Virus verschont geblieben war, der das Volk der Meermenschen fast ausgerottet hatte. Das war elf Jahre her. Vielleicht lebte Keblarr noch, und vielleicht konnte Alea ihn finden!

Sie blickte in den wolkenverhangenen Abendhimmel. Anscheinend hatte sie den ganzen Tag verschlafen. Waren Lennox und sie wirklich erst an diesem Morgen von der alten Unterwasserstadt an die Oberfläche zurückgekehrt? War die Crucis erst heute Morgen nach Loch Ness eingefahren? Unglaublich, dass das alles erst wenige Stunden her war! Wenn Alea in sich hineinhorchte, spürte sie die Wucht der Ereignisse noch immer wie ein feines Vibrieren in ihrem Körper.

Ein Quietschen erklang. Die Kajütentür öffnete sich, und gleich darauf schob sich ein sommersprossiges Lausbubengesicht durch den Spalt. »Ahoi, Schneewittchen!«, rief Sammy und hüpfte ins Zimmer. »Du bist wach!« Ehe Alea sich’s versah, schlüpfte der neunjährige Junge schon zu ihr unter die Decke. »Endlich bist du wieder da! Ich hab richtig Kuschelentzug!«, sagte er und machte es sich in ihrem Arm gemütlich.

Alea lachte. »Hast du denn nicht mit Ben gekuschelt, als ich weg war?« Ben war Sammys großer Bruder, und der kleine Kuschelkönig hing bei jeder Gelegenheit an ihm.

»Nee, Ben war in den letzten Tagen ziemlich still.« Sammy schob seine nackten Füße zwischen Aleas warme Waden. »Er hat sich riesige Sorgen um dich und Scorpio gemacht. Meistens hat er finster aufs Meer geguckt.« Ben war achtzehn Jahre alt und der Skipper des Schiffes. Das hieß, dass er nicht nur für die Crucis, sondern auch für ihre Mannschaft verantwortlich war. Und da außer ihm alle Cru-Mitglieder minderjährig waren, sorgte Ben sich wohl ein klein wenig mehr um seine Besatzung als andere Skipper.

»Jetzt sind wir ja wieder da«, sagte Alea und hörte selbst, wie glücklich sie klang. Sie liebte es einfach, zu dieser Crew zu gehören und frei und ungebunden auf einem Segelschiff über die Meere zu schippern. Doch es war auch etwas ganz Besonderes gewesen, sich allein mit Lennox über Land bis nach Loch Ness durchzuschlagen …

»Was ist los?« Sammy hob den Kopf. »Dein Herz rast ja plötzlich wie verrückt!«

Alea wurde rot.

Sammy blickte sie alarmiert an, dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf. »Hast du gerade an Scorpio gedacht?«

Alea musste lachen. »Erwischt!«

»Was läuft denn zwischen euch?«, hakte Sammy neugierig nach. »Ihr habt heute Morgen zwar viel über diesen Virus in den Ozeanen erzählt, aber über euch zwei habt ihr nix gesagt.«

»Na, das wäre vor der ganzen Cru ja auch sehr peinlich gewesen.«

»Aber mir erzählst du jetzt alles?« Sammy setzte seinen unwiderstehlichsten Bitte-bitte-Blick auf. »Ich bin verschwiegen wie ein Grab!«

Alea strich sich grinsend eine Strähne ihres langen dunklen Haars hinters Ohr. Früher hatte sie ihre Haare immer so weit wie möglich ins Gesicht gezogen, damit niemand die Knubbel hinter ihren Ohren sah – sie verwandelten sich unter Wasser zwar in wertvolle Kiemen, waren im Trockenzustand aber einfach hässlich. Vor den Cru-Mitgliedern hatte sie jedoch keine Scheu mehr. »In Ordnung, ich erzähle dir alles.«

»Ja!« Sammy wurde ganz hibbelig. »Jetzt kommt ein Freundschaftsbestmoment! Ich kann es fühlen!« Er zupfte etwas von Aleas grün karierter Wolldecke. »Diese Fluse wird mich für immer an diesen unvergesslichen Augenblick erinnern«, flüsterte er und hielt ihr den kleinen grünen Wollknubbel demonstrativ vors Gesicht.

Schmunzelnd schüttelte Alea den Kopf. Sammys Faszination für Flusen und Fussel würde sie wohl nie verstehen.

Sammy verstaute die Fluse sorgfältig in seiner Brusttasche und senkte konzentriert den Kopf. »So. Ich bin bereit.«

»Lennox und ich, wir …«

Bevor Alea weitersprechen konnte, hörten sie Bens Stimme an Deck. »Ein Gewitter zieht auf!«, rief er durchdringend. »Alpha Cru! Segel einholen!« Er stampfte kräftig mit dem Fuß auf, um seine Mannschaft unter Deck wissen zu lassen, dass er sie oben brauchte.

»Ausgerechnet jetzt!«, ärgerte sich Sammy.

Alea schubste ihn aus ihrem Bett und sprang hinterher. Während sie sich ihre Jacke überwarf, murmelte Sammy unzufrieden: »Dann lass uns wenigstens schnell was anderes Unvergessliches sagen, damit die ganze Spannung nicht einfach so verpufft.«

Alea kicherte.

»Immerhin hab ich eine Bestmomentfluse gepflückt!«

»Samuel Draco, du bist einfach unvergesslich«, sagte Alea und strubbelte ihm durch die wilden roten Haare.

Sammy strahlte und präsentierte dabei seine riesige Zahnlücke. »Du auch, Schneewittchen!«

Dann rannte er los, und mit großen Schritten lief Alea hinter ihm durch den schmalen Korridor zum Herzen des Schiffs, dem urgemütlichen Salon. Dies war einer ihrer Lieblingsorte auf dem Boot, vielleicht auch deshalb, weil Lennox hier seinen Schlafplatz hatte.

Als sie durch die Tür hineinpreschten, fuhr Lennox aus dem Schlaf hoch. »Was ist?«, rief er und griff in sein abstehendes Haar.

»Gewitter im Anmarsch!«, antwortete Alea, während sie an ihm vorbeihastete. »Alle Mann an Deck!« Bevor sie die Treppe zur Bordtür hinaufstieg, drehte sie sich noch einmal zu Lennox um und lächelte ihn an. »Hallo«, sagte sie leise.

Auf Lennox’ Gesicht erschien ebenfalls ein Lächeln. »Hallo«, erwiderte er. In seinen azurblauen Augen lag dabei so viel Wärme, dass Alea fast geseufzt hätte. Als sie merkte, wie verträumt sie Lennox anstierte, drehte sie sich schnell um und folgte Sammy an Deck.

Oben pfiff ein kühler Wind, und schwere Wolken rollten wie eine dunkle Sturmarmee über den Himmel. Benjamin Libra stand hinter dem Steuerrad im Deckshäuschen. Mit seiner verwuschelten Rockstar-Frisur, der aufrechten Körperhaltung und dem konzentrierten Blick erinnerte er Alea mehr denn je an einen modernen Piratenkapitän.

Alea schaute sich rasch um. Sie befanden sich auf einem der vielen Lochs, den kleinen Seen, die den engen Kanal immer wieder unterbrachen. Die dichten Sträucher am Ufer bogen sich ächzend im Wind.

»Samuel Draco! Alea Aquarius!«, hörten sie eine ungeduldige Stimme mit französischem Akzent. »Nicht einschlafen!« Tess Taurus, das fünfte Mitglied der Alpha Cru, wartete bereits am Fallseil darauf, dass die anderen ihr halfen, das Vorsegel einzuholen. Der Wind zerrte an Tess’ langen schwarzen Dreadlocks und blies sie ihr ins Gesicht, aber das schien ihr nicht das Geringste auszumachen. Tess war eine sehr gute Seglerin, und Ben nannte sie sein wertvollstes Cru-Mitglied. Wenn es um Wind und Wetter ging, war Tess hart wie Stahl. Gefühle und Möwen hingegen konnten sie völlig aus dem Konzept bringen.

Während Alea und Sammy zum Bug eilten, stürmte auch Lennox an Deck.

»Lennox Scorpio, na endlich!«, rief Sammy. »Hast du dir erst noch die Haare gekämmt?«

Lennox grinste verlegen und kam schnell zu ihnen herüber. Alle gingen in Position. Ben, der am Ruder blieb, gab das Kommando zum Segelbergen. Tess und Sammy ließen daraufhin langsam das Seil herunter, während Alea und Lennox am Vorsegel zogen. Der Wind bauschte es immer wieder auf, sodass sie ihre volle Muskelkraft einsetzen mussten, um es am Schiff festmachen zu können. Sobald das Vorsegel eingeholt war, bargen sie das Hauptsegel. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte, und gemeinsam funktionierten sie wie ein Uhrwerk.

Ben wies auf den Himmel. »Dahinten zucken schon Blitze. Wir müssen den Anker auswerfen. Draco! Taurus!« Er machte das Alpha-Cru-Handzeichen für Ihr zwei – jetzt.

Sammy und Tess liefen zurück zum Bug, wo sich die Ankerkette befand. Während diese kurz darauf in die Tiefe rasselte, trat Ben aus dem Deckshäuschen und überprüfte mit aufmerksamem Seemannsblick den Himmel.

Da bemerkte Alea plötzlich ein seltsames Licht hoch oben am Mast. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück. An der Mastspitze züngelte etwas! Dort waren kleine Flämmchen! »Es brennt!«, schrie sie. »Der Mast brennt!«

Alle Köpfe fuhren herum. »Feuer!«, rief Lennox, rannte zu Alea und zog sie zurück.

Die anderen eilten ebenfalls näher und schauten nach oben. Ben kniff die Augen zusammen und entgegnete: »Nein, es brennt nicht.«

»Aber …« Alea deutete auf die eigenartig bläulichen Lichter. »Was ist das?« Die Luft schien regelrecht zu knistern!

Ben antwortete: »Das ist Elmsfeuer.«

»Elmsfeuer?«

»Elektrische Entladung bei Gewitter«, erklärte er und fügte mit fasziniertem Blick hinzu: »Das gibt es nur sehr selten.«

Staunend starrten alle auf die merkwürdigen, kühl flimmernden Flammen, die sich auf sämtliche Drahtseile gesetzt hatten. Fast sah es aus, als wären am Schiff zahllose Lämpchen angebracht worden, die es nun wie einen festlichen Weihnachtsbaum erstrahlen ließen.

»Das ist total unheimlich«, murmelte Tess.

»Früher dachten die Seeleute, Elmsfeuer sei ein schlechtes Omen. Aber das ist natürlich nur Aberglaube.« Bens Blick wanderte von dem Elmsfeuer zu den heranjagenden Gewitterwolken. »Am besten geht ihr unter Deck«, sagte er. »Der Sturm tobt gleich richtig los.«

»Nee!«, beschwerte sich Sammy. »Ich geh doch nicht nach unten, wenn hier oben Elmsfeuer rumflackert!« Er liebte Naturschauspiele. Und dies war eines, das man nicht alle Tage zu Gesicht bekam.

Alea konnte den Blick ebenfalls kaum abwenden. Aus den Flämmchen zuckten immer wieder kleine Blitze hervor, die knisternd über das Holz huschten. Sie wirkten fast lebendig, wie kleine Zauberlichter, die sich auf der Crucis niedergelassen hatten, um sie zum Strahlen zu bringen.

Und dieses Knistern … Alea hörte genau hin. Beinahe klang es wie Flüstern.

Sie trat näher an den Mast heran.

Lennox schnaufte alarmiert. »Was machst du?«

»Geh da lieber weg«, mischte sich auch Tess ein, der das Elmsfeuer nicht geheuer zu sein schien.

»Diese Lichter, sie …« Alea nahm eines der Flämmchen, das besonders tief am Mast hing, ganz genau in Augenschein.

Im nächsten Moment drehte sich die Flamme um sich selbst und … wandte Alea ihr Gesicht zu! Sie hatte ein blau funkelndes, loderndes Gesicht!

Alea schnappte nach Luft.

Lennox war sofort neben ihr. »Was ist?«, fragte er, doch da sah er es auch. Seine Augen weiteten sich. Mit einer schnellen Bewegung stellte er sich vor Alea.

»Das sind Lebewesen!«, rief Alea. »Die Flammen leben!«

»Was?« Ben schien lachen zu wollen, aber dann kam er zu ihnen und sah es sich selbst an.

»Vorsicht!«, warnte Tess.

Ben atmete geräuschvoll ein. Fassungslos starrte er auf die Flamme.

Jetzt drängelte sich Sammy an ihm vorbei nach vorn. »Meine Fresse!«, entfuhr es ihm.

Alea linste um Lennox herum. Die Flamme wandte sich ihnen noch immer zu. Es war, als bestünde ihr Körper aus reinem Elektrofeuer, und in ihrem winzigen Gesicht war deutlich ein abwartender, ernster Blick zu erkennen, mit dem sie die Menschen unter sich musterte.

Ein lautes Donnergrollen ließ Alea zusammenzucken, aber um nichts in der Welt wollte sie jetzt unter Deck gehen. »Hallo«, sagte sie vorsichtig zu der Flamme und schob sich an Lennox vorbei. Sie war inzwischen schon einigen magischen Wesen begegnet und hatte keine Angst. »Ich bin Alea.«

Tess japste. »Du sprichst wieder Wassersprache!«

»Wirklich?« Das hatte Alea gar nicht gemerkt. Sie hatte wohl, wie schon so oft, ganz automatisch in die Sprache des Meeres – Hajara – gewechselt, die alle Magischen verstanden.

Die blaue Flamme hing regungslos am Mast und beobachtete sie. Plötzlich züngelten die anderen Flämmchen scharenweise von der Mastspitze zu ihnen herab.

»Heiliger Himmel!«, stieß Ben hervor.

»Das gibt’s ja gar nicht«, ächzte Sammy. »Die haben alle Gesichter!«

Es stimmte. Nun konnten Alea und die anderen auch sehen, dass es sich um regelrechte kleine Feuergestalten handelte. Sie hatten flackernde Arme und Beine und außerdem etwas auf den Köpfen, das wie leuchtende Helme aussah – Helme, aus denen immer wieder bläuliche Blitze hervorzuckten.

Jetzt hingen fast alle Gestalten tief am Mast. Es war so hell, dass Alea die Augen zusammenkneifen musste. Die blaue Flamme, die sich als erste gezeigt hatte, züngelte über die anderen hinweg herab. Sie verharrte, als sie auf Augenhöhe mit Alea und der Alpha Cru war. Und dann sprach sie. »Du bist ein Meermensch«, zischelte sie Alea zu. Es war nicht viel mehr als ein flüsterndes Knistern, aber Alea verstand es ganz genau. »Und du auch«, setzte die Flamme an Lennox gerichtet hinzu.

Er verstand sie offenbar ebenfalls. »Ich bin Lennox«, erwiderte er. »Wer seid ihr?«

Sammys Augen wurden groß. »Du sprichst ja auch Wassersprache, Scorpio!«, stellte er verblüfft fest, während Tess Ben zuwisperte: »Ich glaube, die unterhalten sich richtig mit den Dingern!«

»Wir sind Helmse«, knisterte die Flamme. »Ihr kennt uns nicht?«

»Nein«, entgegnete Lennox. »Leider nicht.«

»Was seid ihr?«, fragte Alea.

»Wir sind Gewitterhüter«, erwiderte der Helms. »Seit langer Zeit werden wir von Landgängern für ein Naturphänomen gehalten. Doch wir gehören den Magischen der Wasserwelt an. Wir beschützen das Meer bei Gewitter vor Blitzen. Mit unseren eigenen Flammen bilden wir ein Gegenfeuer, das wie eine Schutzhülle wirkt und die Wohnstätten anderer Magischer absichert – früher auch die von Meermenschen.«

Lauschend legte Sammy den Kopf schief, und Alea vermutete, dass er wahrscheinlich nicht mehr als ein Rascheln hörte. »Was knirschen die Blauhelme denn da vor sich hin?«, wollte er wissen. »Sind die eher Deko, oder hat das ganze Rumgeflackere auch einen Sinn?«

Alea hätte fast gelacht. Bens ernste Miene hielt sie jedoch davon ab. Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaute er über das Loch und den Kanal. In den Weiten der Highlands zuckten erneut Blitze durch den dunklen Himmel, und der Donner folgte in immer schnelleren Abständen.

»Leute, egal, wie spannend das hier ist –, ihr müsst jetzt unter Deck!«, verlangte der Kapitän nun von seiner Crew. Einem Holzschiff wie der Crucis konnten die Blitze eines Gewitters durchaus gefährlich werden, und dieses Gewitter schien direkt in ihre Richtung zu ziehen.

»Wartet!«, bat Lennox, als Tess sich schon zum Gehen wandte. »Könnt ihr auch Schiffe schützen?«, fragte er den Helms eilig.

Alea horchte auf. »Das wäre ja … phantastisch!«

Der Helms schüttelte jedoch den Kopf. »Wir sind hergekommen, um euch beide zu schützen – euch Meermenschen –, aber nicht das Landgängerschiff«, entgegnete er. »Von Landgängern halten wir uns eigentlich fern.« Sein Blick intensivierte sich. »Wir wissen, dass ihr beide ins Wasser könnt – Isibellen haben es uns verraten. Also los, springt von Bord! Im Wasser seid ihr sicher.«

Alea und Lennox tauschten einen erschrockenen Blick. Es kam für sie nicht infrage, die Crucis zu verlassen.

»Was ist jetzt?«, verlangte Ben zu wissen.

»Vielleicht könnten die Helmse uns helfen!«, sagte Alea hastig und wandte sich dann flehend an den Magischen: »Diese Landgänger sind unsere Freunde! Und dieses Schiff ist unser Zuhause. Ich bitte euch, schützt uns alle zusammen!«

Der Helms schwieg.

»Unser Kapitän hat ein wahres Seefahrerherz!«, fügte Alea hinzu und deutete auf Ben.

Ben machte ein fragendes Gesicht, und der Helms musterte ihn prüfend. »Ist seine Liebe zum Meer größer als seine Landgängerinteressen?«

»Ja!«, versicherten Alea und Lennox gleichzeitig.

»Auch Tess und Sammy lieben das Meer«, erklärte Alea. »Alle drei sind eurer Hilfe würdig!«

Der Helms wandte sich den anderen Flammen zu, und es schien, als würden sie sich leise beraten.

Bens Geduld war nun zu Ende. »Ihr zieht euch jetzt sofort Rettungswesten an!«, befahl er seiner Mannschaft. »Und dann geht ihr unter Deck.« Das Gewitter war bei ihnen angekommen. Obwohl es noch nicht regnete, folgten Blitze und Donner schnell hintereinander, und das ohrenbetäubende Krachen ließ die Cru-Mitglieder immer wieder zusammenfahren.

Tess und Sammy liefen zur Rettungswestenkiste. Doch Lennox und Alea blieben, wo sie waren.

Atemlos warteten sie auf die Antwort der Magischen.

Da drehte sich der Helms ihnen endlich wieder zu und zischelte: »Wir verlassen uns auf euer Wort, dass diese Landgänger dem Meer in besonderer Weise verbunden sind.«

Alea hob die Brauen. »Heißt das …«

»Das heißt: Wir werden euer Schiff schützen.«

Sie stieß einen Freudenschrei aus.

»Danke!«, sagte Lennox erleichtert.

»Was ist los?«, fragte Ben. »Helfen sie uns?« In seiner Stimme lag ein mehr als dringlicher Ton, denn die Crucis schaukelte immer heftiger auf den Wellen.

»Ja, sie machen es!«, erwiderte Lennox.

Tess und Sammy kamen mit Rettungswesten zu ihnen zurück.

Der Helms warf einen Blick in ihre Richtung und sagte: »Wir zeigen uns den Landgängern normalerweise nicht. Sie erkennen in uns nie etwas anderes als Elmsfeuer. Aber du, Junge, kannst sie später ja vergessen lassen, was sie erlebt haben.«

»Ich, ähm …«, stotterte Lennox. Die Helmse sahen ihm wohl an der außergewöhnlichen Farbe seiner Augen an, welchem Stamm er angehörte. Als Oblivion war er in der Lage, die Erinnerung von Landgängern auszulöschen. Aber das wollte er bei den anderen Cru-Mitgliedern bestimmt nicht tun. Alea und er hatten Tess, Ben und Sammy alles über die untergegangene Meerwelt erzählt, was sie selbst erfahren hatten, und sie immer in alles eingeweiht.

Der Helms sprach weiter. »Wir müssen uns schnell auf unsere Positionen begeben«, knisterte er, und für die anderen Helmse war dies offenbar das Signal auszuschwärmen. Innerhalb weniger Sekunden züngelten sie bis zum höchsten Punkt des Masts hinauf. »Die Feuerkraft dieses Gewitters ist außergewöhnlich stark«, erklärte der Helms noch, dann eilte auch er ihnen nach und heftete sich an die oberste Mastspitze.

Doch es schien, als hätten die Helmse zu lange gewartet, denn im nächsten Moment zuckte direkt über ihnen ein Blitz vom Himmel herab. Er zielte geradewegs auf den Mast der Crucis und schlug ein.

Tess schrie auf, und Sammy klammerte sich entsetzt an Ben.

Da leuchtete der Mast funkelnd blau auf. Die Helmse schienen die Kraft des Blitzes in sich aufzunehmen, und gleich darauf zuckte das grelle Licht wieder aus ihrer Mitte hervor und schoss nach oben. Die Helmse schickten den Blitz zurück in den Himmel!

Mit offenem Mund stand Alea da.

»Das ist so was von krass«, flüsterte Sammy.

»Er ist eingeschlagen!«, rief Ben fassungslos. »Er ist in den Mast eingeschlagen! Und sie haben den Blitz abgewehrt!«

»Ich glaube, ich träume«, murmelte Tess.

In diesem Augenblick begann es zu regnen. Dicke schwere Tropfen fielen hernieder, und Tess, Ben und Lennox zogen sich ihre Kapuzen über den Kopf.

Sammy hingegen war durch das, was gerade geschehen war, anscheinend ganz aufgedreht und streckte übermütig die Arme aus.

Alea seufzte. Ihre Anspannung und die Angst um die Crucis fielen von einem Moment auf den anderen von ihr ab, und sie lächelte still in sich hinein. Langsam hob sie den Kopf und ließ den anschwellenden Regen auf ihr Gesicht herabströmen. Sie liebte Regen – sie liebte, wie er sich anfühlte, wie er schmeckte, wie er klang. Und dieser Regen prasselte in ganz eigener Weise auf die Planken des Decks. Wie ein wilder Tanz klang es. Wie steppende Schritte im Rhythmus des Sturms.

Im Zauberlicht der Helmse stand Alea da und reckte sich dem Himmel entgegen. Der goldblaue Regen beschwor ein großes Gefühl in ihr herauf, ein Gefühl von immenser Freiheit und unendlichen Weiten. Und von Glück. Wie in einem wilden Freudentaumel schauerte der Regen sein Lied auf sie herab.

Alea breitete die Arme aus und begann zu tanzen. Zuerst nur ganz sachte und langsam, doch dann immer schneller. Ihr wurde fast schwindelig, aber sie machte weiter und tauchte in das schillernde Farbgemisch des Regens ein, das von Goldblau über Violett bis zu Silber reichte. Mit weit ausholenden Bewegungen wirbelte sie herum, drehte sich um sich selbst und stampfte mit den Füßen in die Pfützen, sodass das Wasser wie ein explodierender Regenbogen nach allen Seiten spritzte.

Auf einmal war Lennox neben ihr. »Was machst du?«

»Einen Regentanz!« Alea nahm Lennox’ Hand und zog ihn mit sich. Als sie ihn voller Übermut anlachte, begann er schmunzelnd, sich mit ihr zu drehen.

»Kommt!«, forderte Alea die anderen auf. »Tanzt auch mit!«

Sammy musste man das nicht zweimal sagen. Mit einem großen Satz sprang er mitten in eine Pfütze. »Wunderbärchen!«, jauchzte er und fing an, auf seine ureigene Weise zu tanzen – mit unkontrolliert herumwedelnden Armen, die ihn aussehen ließen, als wollte er eine Wespe vertreiben.

Alea lachte. »Ben! Tess! Ihr auch!«

Ben lächelte, schlug seine Kapuze zurück und stellte sich mit geschlossenen Augen in den Regen. Offenbar wollte er das Wasser lieber still genießen.

Tess verschränkte die Arme.

Alea griff nach der Hand von Sammy, der keinerlei Widerstand leistete, und drehte sich wasserstampfend mit den beiden Jungen im Kreis.

Schließlich kam auch Ben zu ihnen, und sie nahmen ihn in ihren Ring auf. Lachend drehten sie sich schneller und schneller und schwangen zu Tess hinüber, um sie trotz Gegenwehr einfach mit sich zu ziehen. Nun wirbelten sie zu fünft herum, und schon nach kurzer Zeit konnte sich auch Tess nicht mehr dem Übermut entziehen, der alle ergriffen hatte. Die Helmse hatten ihr Schiff davor bewahrt, in Flammen aufzugehen, und je klarer ihnen das wurde, desto übersprudelnder wurde ihre Stimmung.

Auf einmal blitzte es direkt über ihnen. Erschreckt schauten alle nach oben. War ein weiterer Blitz eingeschlagen? Nein, es war blaues Elektrofeuer, das durch die Luft zuckte. Alea konnte kaum glauben, was sie sah: Die Helmse sprangen von einem Seil zum anderen und schossen dabei sprühende Funkenfontänen aus ihren Helmen! Es wirkte, als ob …

»Feuerwerk!«, stieß Alea hervor. »Die Helmse machen ein Feuerwerk für uns!«

»Ich werd bekloppt!«, entfuhr es Sammy.

Alea hörte knisterndes Lachen. »Sie wollen mitfeiern.«

»Die mögen uns jetzt wohl doch, was?«, bemerkte Tess.

Mit einem Schulterzucken antwortete Ben: »Na, wir sind ja auch was ganz Besonderes.«

»Was sind wir denn?«, fragte Lennox.

Ben grinste. »Na, komische Vögel!«

»Und zwar gerne!«, riefen die anderen vier wie auf Kommando und lachten.

Ben hielt die Hand in die Mitte. Sofort legten alle anderen ihre Hände darüber, und aus fünf Kehlen erklang im Licht des magischen Feuerwerks ihr Ruf: »Alpha Cru!«

Morgenstern

Spätabends, als das Gewitter vorüber war und das Strahlen der Helmse nachließ, lichteten Alea und Ben den Anker. Alea wollte die Nachtwache am Ruder übernehmen, schließlich hatte sie den ganzen Tag über geschlafen. Ben half ihr noch bei ein paar Handgriffen, und gemeinsam warfen sie den Motor der Crucis an.

»Du hast das Schiff noch nie allein in einem Kanal manövriert«, bemerkte Ben. »Traust du dir das wirklich zu?«

Alea nickte zuversichtlich. »Ich habe in letzter Zeit Dinge getan, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Das Schiff zu steuern …«

»… ist dagegen pillepalle«, vollendete Ben grinsend den Satz. »Okay. Ich glaube auch, dass du das schaffst. Wollte es nur von dir hören«, sagte er. »Außerdem bin ich bestimmt wieder wach, bis die nächste Schleuse kommt.«

Auf einmal verstärkte sich das leise Knistern der Helmse und schwoll zu einem prasselnden Summen an.

»Die Helmse lösen sich!« Alea wies auf den Mast. Eine blaue Flamme nach der anderen ließ sich fallen, hielt sich am Wind fest und wurde davongetragen.

Alea schaute ihnen mit einer gewissen Wehmut nach. Insgeheim hatte sie gehofft, heute Nacht, wenn ein wenig Ruhe herrschen würde, noch einmal mit ihnen sprechen zu können. Nun winkte sie nur, leise lächelnd, zum Abschied.

Ben hatte die Helmse mit offenem Mund beobachtet. »Unglaublich«, raunte er beeindruckt, als alle fort waren.

»An so etwas musst du dich gewöhnen«, neckte Alea ihn. »In Zukunft könnten uns öfter Magische begegnen. Und dann darfst du nicht jedes Mal mit heruntergeklapptem Unterkiefer rumstehen.«

Ben boxte ihr leicht gegen die Schulter. »Du wirst immer frecher!«

Alea lachte. »Ja, super, oder?«

»Absolut. Von dem schüchternen Mädchen, das in Hamburg bei uns angeheuert hat, ist nicht mehr viel übrig.« Ben lächelte sie an. »Pass gut auf mein Schiff auf, Matrose«, sagte er und überließ Alea ihrer Wache.

»Aye, aye, Käpten!«, rief Alea ihm nach. »Und gute Nacht!« Sie ließ sich im Deckshäuschen auf dem alten Schemel nieder und machte es sich gemütlich.

Die Nacht verlief ohne Zwischenfälle und schenkte Alea die nötige Ruhe, die Erlebnisse der vergangenen Tage Revue passieren zu lassen und ihre Gedanken zu ordnen.

Am frühen Morgen gegen halb fünf tauchte Lennox an Deck auf. Er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze, und Alea war sich sicher, dass Landgänger ihn im Licht der Dämmerung keinesfalls wahrgenommen hätten. Denn Lennox konnte sie nicht nur Dinge vergessen lassen, er wurde darüber hinaus meist auch von ihnen übersehen.

Mit einem fragenden Lächeln im Gesicht kam er nun direkt auf Alea zu. Rasch öffnete sie die Tür zum Deckshäuschen und ließ Lennox ein.

»Hi«, sagte er und setzte sich auf den Hocker neben sie.

»Hi«, erwiderte sie und freute sich so sehr, ihn zu sehen, dass sie ein bisschen heiser klang. Seit Loch Ness hatten sie keine Möglichkeit gehabt, sich allein zu unterhalten und noch einmal darüber zu sprechen, was sich in Rach Turana zwischen ihnen verändert hatte.

Lennox räusperte sich. »Es ist ganz gut, nach der Tour durch die Highlands einfach mal wieder ein paar ruhige Tage an Bord vor sich zu haben, hm?«, fragte er etwas unbeholfen.

Alea war erleichtert, dass er nicht cooler war als sie. »Ja, es wäre gar nicht schlecht, mal kurz Urlaub von den Abenteuern zu nehmen«, antwortete sie. »Aber … obwohl unser Trip total anstrengend war, war er auch gut und … wichtig.«

Lennox lächelte und schwieg. Mit nachdenklicher Miene blickte er auf etwas in seiner Hand. Es war der Fotostein mit dem Bild seiner Mutter, den der Gilf Reburius in der alten Bibliothek als Erinnerungsstück für ihn angefertigt hatte. Xenias schönes Gesicht mit den azurblauen Augen trat aus dem Stein hervor. »Unsere Mütter sind tot«, sagte Lennox leise und mit einer Traurigkeit, die Alea unvorbereitet traf und tief ins Herz schnitt. »Dieser verdammte Virus …« Er senkte den Kopf. »Ich kann nicht länger herumphantasieren, dass ich meine Mutter vielleicht eines Tages irgendwo wiederfinde.«

Alea sah ihm an, wie sehr ihn das bewegte. Und sie verstand. Lennox’ Lage war verzweifelter denn je. Sein Vater war ein Landgänger, ein Trinker, der seinen Sohn nach einem Streit vor die Tür gesetzt hatte. Zu ihm konnte und wollte Lennox niemals zurück. Doch seine Meermenschenmutter war tot, und es existierte kein Ort, an den er sich noch hinträumen konnte. Für ihn gab es kein Island. Umso höher rechnete Alea es Lennox an, dass er ihren Wunsch unterstützte und sich mit ihr und der ganzen Crew auf die Suche nach ihrem Vater gemacht hatte.

Als hätte er Aleas Gedanken gelesen, sagte Lennox: »Statt unserer Mütter werden wir deinen Vater finden.«

»Ja, hoffentlich …«, gab sie zurück. »Ich hab vorhin mal in diesem Island-Reiseführer geblättert und ein paar Sachen nachgeschlagen.« Durch die Botschaft ihres Vaters hatte Alea erfahren, dass der Wasservirus bei einer Temperatur von über fünfunddreißig Grad unschädlich wurde. Aus diesem Grund war Keblarr gemeinsam mit ein paar anderen Überlebenden nach Island geflüchtet. »Es gibt echt viele heiße Quellen auf dieser Insel«, fuhr sie fort, »und die Meermenschen, die sich dorthin zurückgezogen haben, wollen doch bestimmt nicht entdeckt werden. Wie sollen wir sie finden?«

Lennox raffte sich zu einem weiteren Lächeln auf. »Na, mit einer Finde-Finja.«

Alea lächelte zurück. »Ja. Das werden wir versuchen.«

Lennox schien wieder ins Grübeln zu verfallen. Nach einer Weile stellte er Alea eine Frage: »Und was, wenn wir deinen Vater tatsächlich finden?«

»Was meinst du?«

»Willst du … bei ihm bleiben?«

Erstaunt hob Alea die Brauen. »Ich will ihn gern kennenlernen. Aber über das, was danach passiert, hab ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht.«

Lennox jedoch hatte offenbar genau das getan. »Wenn du bei ihm bleiben willst …«, begann er mit schwerem Unterton, sprach aber nicht weiter.

Plötzlich ahnte Alea, worauf er hinauswollte.

»Wenn du bei ihm bleiben willst«, fuhr Lennox fort, »kann ich mich dir nicht anschließen.« Es schien ihm nicht leichtzufallen, das zu sagen. »Dein Vater und seine Freunde leben ja wahrscheinlich in den Tiefen der Quellen.«

Und du kannst unter Wasser nicht atmen …, ergänzte Alea seinen Satz in Gedanken. Lennox war eben nur zur Hälfte Oblivion und besaß weder Kiemen noch Schwimmhäute. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie tief in den Quellen leben«, wandte sie ein, denn darüber hatte sie während ihrer Nachtwache wiederum intensiv nachgedacht. »In dem Reiseführer stand, dass in den Tiefen bis zu zweihundert Grad herrschen. Da würde man gekocht werden! Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob die Schwimmhäute und Kiemen in den heißen Quellen überhaupt rauskommen.«

Lennox runzelte die Stirn. »Wieso nicht?«

»Wenn ich dusche oder ein heißes Bad nehme, bleiben meine Knubbel einfach nur Knubbel.« Sie blickte auf die hässlichen Verkrustungsgebilde zwischen ihren Fingern, die sie vor ihren Freunden nicht mehr unter Handschuhen versteckte. »Sie verwandeln sich im warmen Wasser nicht.«

Perplex sah Lennox sie an. Darüber hatte er wohl seinerseits noch nie nachgedacht.

»Wenn ich in der warmen Badewanne Schwimmhäute kriegen würde, hätte ich doch schon viel früher herausgefunden, dass ich ein Meermädchen bin«, erklärte sie. »Es passiert noch nicht mal im Regen, obwohl er meist ziemlich kalt ist. Ich muss komplett im kalten Wasser untertauchen, damit ich mich verwandele.« Sie fasste zusammen: »Also, warmes Wasser ist für Meermenschen zwar super, weil kein Virus drin ist, aber man verwandelt sich eben auch nicht. Nur im kalten Wasser kommen die Kiemen und Schwimmhäute raus. Ich frage mich, wieso mein Vater trotzdem zu den heißen Quellen wollte.«

Lennox dachte nach. »In der Badewanne ist Süßwasser«, sagte er dann. »Bist du schon mal in warmem Salzwasser geschwommen? Vielleicht kommen die Schwimmhäute im warmen Salzwasser ja doch raus …«

»Hm …«, brummte sie grübelnd. Womöglich machte das tatsächlich einen Unterschied, und vielleicht konnten die Meermenschen in den heißen Quellen doch unter Wasser atmen und dort das Leben führen, das im kalten Wasser nicht mehr möglich war. Von den wenigen Meermenschen, die ihnen bereits begegnet waren, hatte niemand in freien Gewässern schwimmen können, und es schien, als wären Lennox und Alea die Einzigen, die sich noch im Meer aufhalten konnten. Dadurch, dass Lennox so viel Landgängerblut in sich hatte, genügte ihm ein Wasserkraut zum Schutz gegen den Meermenschenvirus: Rotfarn. Alea hingegen schien aus irgendeinem Grund immun gegen das zu sein, was Tausende andere dahingerafft hatte.

»Aber selbst wenn mein Vater und die anderen in den heißen Quellen leben sollten«, nahm Alea den Faden wieder auf, »kann ich mir eigentlich gar nicht mehr vorstellen, länger an ein und demselben Ort zu bleiben.«

»Nein?« Auf Lennox’ Gesicht ließ sich ein zaghaft hoffnungsvoller Ausdruck erkennen. »Die Walwanderin in dir will nie wieder sesshaft werden, was?«

»Ja, ich glaube, ich bin dafür geschaffen, unterwegs zu sein! Ich will frei sein«, erklärte sie gedankenvoll. »Und hier bin ich frei.« Sie hielt kurz inne, um den Mut zu finden, noch etwas hinzuzufügen. »Bei dir bin ich frei«, sagte sie und errötete leicht. Doch es stimmte. Mit niemandem hatte sie sich je freier gefühlt als mit Lennox. Mit ihm war alles möglich. Er würde überall mit ihr hingehen. Sofern er konnte.

Lennox fuhr sich mit einer hastigen Bewegung durch das dunkle Haar. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, wie sehr er sich über ihre Bemerkung freute. Anscheinend wusste er aber nicht, was er erwidern sollte. Alea wünschte sich, er würde den Arm um sie legen. Sie wäre ihm jetzt gern nah gewesen. Sollte sie sich an ihn schmiegen? Oder sollte sie vielleicht etwas über den Morgenstern sagen, der als letzter der blasser werdenden Gestirne noch klar am Himmel stand? Wäre das nicht zu kitschig?

Lennox räusperte sich. »Wie findest du, ähm …« Er überlegte. »Wie findest du die Vorstellung, eine Zwillingsschwester zu haben?«

Alea spürte, wie die Frage sie unvermittelt erzittern ließ.

Anthea.

Alea hatte einen Großteil der Nacht damit verbracht, sich zu fragen, ob ihre Schwester noch lebte und wo sie wohl war. Wie sie wohl war. »Ich kann noch gar nicht richtig begreifen, dass sie irgendwo existiert«, erwiderte sie. »Das ist so … sonderbar. Womöglich sind wir eineiig, und sie sieht genauso aus wie ich!« Der Gedanke war seltsam und elektrisierend zugleich. »Vielleicht ist sie auch gegen den Virus immun – bei Zwillingen ist das gar nicht so unwahrscheinlich, oder? Auf jeden Fall ist sie auch eine Walwanderin wie unsere Eltern und ich. Das heißt, wenn ich Anthea jemals finde, könnten wir zusammen auf Wal-Trosk gehen!« Das Wort hatte Alea von Artama, der Geschichtenbewahrerin in Rach Turana, gelernt – auf Trosk begleitete man Wale auf ihren Wanderungen durch das Meer. Es auszusprechen löste ungeheure Sehnsucht in ihr aus. Nachdenklich blickte Alea in die Dämmerung hinaus. »Vielleicht lebt Anthea ja irgendwo in Holland«, fasste sie ihre nächtlichen Überlegungen zusammen. »Schließlich hat unsere Mutter uns an einem holländischen Strand nacheinander an verschiedene Landgänger übergeben.« In Renesse hatte Alea keine genaueren Hinweise auf Anthea oder ihre Mutter finden können, aber die Wahrscheinlichkeit war groß, dass Anthea zu Holländern gekommen war.

Bis vor Kurzem hatte Alea noch geglaubt, Lennox wäre das zweite Kind, das ihre Mutter damals in Renesse weggegeben hatte. Doch Artama hatte ihnen versichert, dass er und Alea aufgrund ihrer Augenfarben unmöglich verwandt sein konnten. Sie wussten nun sicher, dass das zweite fortgegebene Kind Anthea gewesen war.

Artama hatte ihnen erzählt, dass viele verzweifelte Meereltern ihre Söhne und Töchter damals – so wie Nelani, Aleas Mutter –, an die Küsten gebracht hatten. Sie drückten ihre Kinder Landgängern in die Arme und logen ihnen vor, die Kleinen hätten Kälteurtikaria – Kaltwasserallergie. Denn nur so konnten sie ihre Kinder davor schützen, jemals wieder mit dem Virus im kalten Meerwasser in Berührung zu kommen.

»Woran denkst du?«, unterbrach Lennox Aleas Gedankenfluss.

Alea seufzte. »Seit Artama uns gesagt hat, dass noch andere Meerkinder überlebt haben könnten, muss ich ständig an sie denken.«

»Ja?«

»Die Vorstellung, dass diese Kinder an Land leben und wahrscheinlich keine Ahnung haben, wer sie in Wirklichkeit sind, macht mich irgendwie ganz verrückt!«, sagte sie verdrossen. »Uns ging es ja lange Zeit auch nicht anders. Aber jetzt wissen wir, wer wir sind, und das ist … so wichtig! Man muss doch wissen, wo man herkommt!« Während Alea dies aussprach, wurde ihr erst richtig bewusst, wie bedeutsam dies für ihr Leben war. »Ich finde, diese anderen Kinder haben auch verdient, dass sie die Wahrheit über sich selbst erfahren.«

»Ja, das stimmt«, gab Lennox ihr recht.

Es trat eine Pause ein, in der Alea versunken vor sich hinstarrte. »Weißt du …«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn man diese Kinder einmal gefunden und ihnen erzählt hätte, wer sie sind, dann …«

Lennox blickte sie forschend an. »Was dann?«

»Wahrscheinlich ist es nur eine fixe Idee, aber …« Sein aufmerksamer Blick forderte sie auf weiterzureden. »Könnte man diese Kinder vielleicht irgendwie zusammenführen?«

Lennox’ Augen verengten sich überrascht.

»Könnte aus ihnen nicht wieder ein Meervolk entstehen?«, fügte Alea hinzu, denn auch darüber hatte sie stundenlang nachgegrübelt – obwohl sie sich darüber im Klaren war, dass diese Gedanken eigentlich total unsinnig waren. Denn es war ein verdammt großer Traum, den sie da träumte. Es grenzte regelrecht an Größenwahn, dass sie sich tatsächlich die halbe Nacht mit der Idee beschäftigt hatte, sie könnte diese verschollenen Kinder finden und sie zu einem neuen Meervolk vereinigen. Alea zog eine Grimasse. Das war einfach eine Schnapsidee. Es gab da nämlich noch ein kleines Problem: Die Kinder würden im Meer wahrscheinlich alle sterben, denn der Virus befand sich ja nach wie vor im Wasser. Alea seufzte abermals. »Ich hätte Artama viel mehr Fragen zu den anderen Meerkindern stellen sollen.« Die weise Meerfrau hätte ihr gewiss interessante Antworten geben können. »Aber irgendwie ging bei dem Gespräch alles viel zu schnell.«

Lennox nickte. »Im Nachhinein fallen mir auch jede Menge Dinge ein, die ich Artama gern gefragt hätte. Es gibt immer noch so vieles, was wir nicht über die Meermenschen wissen.«

»Ja, ich wüsste zum Beispiel gern, wie das alltägliche Leben in so einer Unterwasserstadt abgelaufen ist«, sagte Alea und richtete ihre Gedanken gern auf etwas anderes als die Meerkinder. Von den großen Ideen drehte sich ihr schon der Kopf. »Gab es dort auch Krankenhäuser und Schulen und so etwas?«

»Bestimmt. Immerhin wissen wir, dass es Bibliotheken gab!«

Alea lächelte. In der Bibliothek von Rach Turana hätte sie sich wochenlang einnisten können. »Ich würde am liebsten all die Muscheln lesen, die wir dort gesehen haben.«

Lennox schien zu grübeln. »Artama hat doch gesagt, dass es in allen Meermenschenhaushalten Büchermuscheln gab. Das heißt, jede Muschel, die man findet, könnte ein Buch sein.«

»Stimmt!« Alea war sofort Feuer und Flamme. »Sobald wir das nächste Mal eine Muschel finden, müssen wir nachsehen, ob sich ein Buch darin versteckt!«

Lennox grinste. »Das machen wir.«

Alea grinste zurück. Sie sahen einander an. Aus einem Augenblick wurde eine halbe Ewigkeit voller Fragen und Möglichkeiten. Mit einem Mal war Alea ganz aufgeregt. Ob sie seine Hand nehmen sollte? Sie hatten schon oft Hände gehalten, aber an Bord der Crucis war alles viel komplizierter als in den Highlands. Hier begann ein ganz neues Kapitel ihrer gemeinsamen Reise.

Lennox holte Luft und schien etwas sagen zu wollen. Die Art, wie er sie dabei ansah, brachte Alea dazu, sich ein kleines Stück vorzubeugen.

»Bonjour«, hörten sie in diesem Moment eine Stimme.

Tess stand vor dem Deckshäuschen.

Wenn das Wasser ruft

»Oh, hallo Tess«, sagte Alea überrascht.

»Ich übernehme deine Schicht.« Tess blickte von Alea zu Lennox. »Störe ich?«

Alea hätte beinahe »Ja« geantwortet, da stand Lennox auf und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Du wolltest doch noch etwas mit Tess besprechen, oder?«

»Das stimmt«, musste Alea ihm recht geben. Zwischen Tess und ihr waren noch ein paar Dinge ungeklärt. Zum Beispiel, warum Tess ihr gesagt hatte, Lennox wäre bestimmt nicht in sie verliebt – obwohl Tess sich sicher gewesen war, dass es so sein musste. Warum hatte sie verhindern wollen, dass Alea und Lennox zusammenkamen?

Lennox verschwand durch die Bordtür nach unten. Tess blieb unschlüssig vor dem Deckshäuschen stehen. »Ich mache vielleicht besser erst mal Frühstück …«, grummelte sie und wandte sich zum Gehen. Lennox’ Andeutung schien in ihr einen akuten Fluchtimpuls ausgelöst zu haben.

»Tess!«, hielt Alea sie zurück.

Sie blieb stehen, hatte Alea aber schon den Rücken zugewandt. Es war offensichtlich, wie unwohl sie sich fühlte.

Alea wollte Tess gerade fragen, was in ihr vorging, da sah sie, dass weiter vorn an der Kanalbiegung ein Schleusentor auftauchte. »Mist!«, fluchte sie überrascht. »Ben war sich doch sicher, dass erst mal keine Schleuse kommt!« Eine Schiffsschleuse zu passieren und wie in einem Fahrstuhl von einem Wasserpegel zum nächsten transportiert zu werden, war alles andere als ein Kinderspiel. »Sollen wir ihn wecken?«

Tess drehte sich zu ihr um. »Non«, sagte sie und kam zu Alea ins Deckshäuschen. »Dazu brauchen wir Ben nicht. Das schaffen wir auch zu zweit.«

Die Entschlossenheit in ihrer Stimme gefiel Alea. »Gut«, antwortete sie und straffte die Schultern.

Tess trat hinters Steuerrad. »Ich übernehme das Ruder«, sagte sie. »Geh du nach vorn und gib mir Handzeichen.«

»Aye, aye!« Alea lief zum Bug, und wenig später winkte sie dem Schleusenwärter. Das Schleusentor öffnete sich, und die Crucis fuhr langsam in die Schleusenkammer ein. Alea beeilte sich nun, das Schiff mit Seilen an den eisernen Wandringen festzumachen. Dabei bekam sie vor Aufregung schweißnasse Hände. Wenn der Wasserspiegel abgesenkt wurde, mussten sie nach und nach Leine geben und das Schiff schnell genug hinunterlassen, sonst würde es an der Wand in der Luft hängen bleiben!

Ein lautes Rumpeln erklang, und das Wasser begann zu sinken. Tess und Alea nickten sich entschlossen zu. Dann begannen sie genau so viel Leine wie nötig zu geben, während das Schiff langsam in die Tiefe wanderte.

Tess stand der Schweiß auf der Stirn, und Alea hielt das Seil so fest, dass es wehtat. Doch sie schlugen sich gut! Die Crucis senkte sich immer weiter ab, und sie hatten es fast geschafft! Alea warf Tess einen triumphierenden Blick zu, und auf Tess’ Pokerface erschien ein feines Lächeln.

Ein paar Minuten später öffnete sich das Tor vor ihnen. Alea machte die Leinen los, und Tess steuerte das Schiff mit ruhiger Hand aus der Schleusenkammer. Kurz darauf waren sie wieder auf dem Kanal und konnten ihre Fahrt fortsetzen.

Sobald sie außer Sichtweite des Schleusenwärters waren, begann Alea laut zu jubeln. »Wir haben es geschafft!« Sie lief zu Tess ins Deckshäuschen, und die Mädchen klatschten sich ab.

Mit fettem Grinsen im Gesicht standen sie da – zwei Amazonen des Einparkens. Siegessicher fuhren sie weiter, und Alea schwelgte in dem Gefühl, dass sie nicht nur unter Wasser, sondern auch an Land schwierige Herausforderungen meistern konnte. Nach einer Weile ebbte das Hochgefühl jedoch ab, und sie erinnerte sich daran, dass zwischen Tess und ihr noch etwas geklärt werden musste. Zwar wollte Tess ganz offensichtlich nicht darüber reden, aber Alea fand, dass ihre Freundin ihr das schuldig war. »Lennox und ich … wir sind jetzt zusammen«, sagte sie.

Reglos blickte Tess durch die große Scheibe auf den Kanal. Dann sah sie wohl ein, dass sie einem Gespräch nicht aus dem Weg gehen konnte. »Und du bist dir sicher, dass er dich nicht nur als Aufgabe sieht?«, fragte sie. »Du dachtest doch, dass er nur an dir interessiert ist, weil er quasi geboren wurde, um dein Bodyguard zu sein.«

»Ja, Oblivionen haben es im Blut, andere Meermenschen zu beschützen. Ich bin mir inzwischen aber sicher, dass er mich wirklich mag«, antwortete Alea sachlich. Sie wollte Tess lieber nicht sagen, wie verliebt sie in Lennox war. Immerhin war es sehr gut möglich, dass Tess selbst in ihn verknallt war. Vor einiger Zeit hatte Alea Verliebtheitsgefühle in einer Wasserflasche erkennen können, aus der Tess gerade getrunken hatte. Alea besaß nämlich die sehr nützliche Walwandererfähigkeit, aus den Farben des Wassers die Empfindungen anderer herauszulesen. In Tess’ Flasche waren damals flirrende rosarote Funken umhergeschossen – Zeichen von Verliebtheit. Sie empfand bestimmt etwas für Lennox. Aus welchem Grund hätte sie sich sonst so merkwürdig verhalten sollen? Es tat Alea leid, dass Tess nun vielleicht Liebeskummer wegen Lennox hatte, aber wie konnten sie anders mit dieser Sache umgehen, als ehrlich miteinander zu sein?

Tess schaute weiter starr geradeaus. »Ihr passt gut zusammen.«

Nun hatten sie genug um den heißen Brei herumgeredet, fand Alea. »Unser letztes Gespräch, kurz bevor Lennox und ich die Crucis verlassen haben …«, setzte sie an. »Da wolltest du mir doch dringend etwas sagen. Was war das?«

»Das ist jetzt nicht mehr wichtig.«

»Bist du in Lennox verliebt?«

»Nein!«, entgegnete Tess. Endlich schaute sie Alea an. »Wirklich nicht. Er ist überhaupt nicht mein Typ.«

Alea und Tess wechselten einen langen Blick. Tess wirkte aufrichtig. Dennoch wünschte Alea, sie befänden sich im Meer oder Tess würde zumindest noch einmal einen Schluck aus einer Wasserflasche trinken, damit Alea sich ihre Farben anschauen konnte. Aber hier und jetzt musste sie allein ihrem Herzen vertrauen. Und das sagte ihr, dass Tess sie nicht anlog.

Wie eigenartig, dachte Alea. In irgendjemanden musste Tess doch verliebt sein. Ihre Farben hatten es eindeutig verraten. »Und warum hast du damals nicht die Wahrheit gesagt?«, bohrte Alea weiter. »Du hast behauptet, er hätte bestimmt nichts für mich übrig. Später hast du dann gesagt, es wäre offensichtlich, dass er in mich verliebt ist. Wieso hast du denn zuerst gelogen?«

Unbehaglich trat Tess von einem Bein auf das andere. »Bitte lass uns nicht mehr darüber reden.«

»Aber –«

»Ich war einfach blöd!« Tess lachte kläglich. »Es tut mir echt leid.«

Angespannte Stille trat ein. Alea ahnte, dass sie nichts weiter aus Tess herausbekommen würde. Sie wollte allerdings nicht, dass diese Sache zwischen ihnen stand. »Na gut«, sagte sie. »Was auch immer gewesen ist – vergessen wir’s. Ja?«

»Wirklich?«, fragte Tess ungläubig. »Du kannst mir … verzeihen?«

Alea nickte. »Ich glaube, du bereust das inzwischen –«

»Total!«, versicherte Tess. »Ich würde das nie wieder machen. Ehrlich nicht! Das war komplett bescheuert.«

»In Ordnung. Dann reden wir nicht mehr darüber.«

Es war fast, als könnte man den riesigen Stein herunterkrachen hören, der Tess da wohl gerade vom Herzen fiel. »Danke«, kam es gepresst aus ihr heraus. »Danke.«

Alea schüttelte sich kurz wie ein Hund, der Regenwasser abstreifte, und fragte dann: »Wie ist es eigentlich mit deinen Eltern gelaufen, als sie auf der Crucis waren?«

»Oh, ich hatte solchen Schiss!« Bereitwillig fing Tess an zu erzählen. »Ich dachte, ich bekomme ein … wie heißt das … ein Donnerwetter zu hören. Und ich dachte, dass sie mich wieder mit nach Frankreich nehmen. Das Donnerwetter gab es auch, aber das hatte ich ja wirklich verdient.« Tess’ Eltern wollten sich scheiden lassen und redeten schon länger nicht mehr miteinander. So war es nicht aufgefallen, dass Tess ihrer Mutter wochenlang erzählt hatte, sie wäre bei ihrem Vater, und ihrem Vater, sie wäre bei ihrer Mutter. Tess hatte unbehelligt mit der Alpha Cru segeln können, bis ihr Lügengerüst letztlich zusammengebrochen war. Ihre Eltern waren noch am selben Tag zu ihr geflogen. »Maman und Papa haben hier an Bord endlich wieder miteinander gesprochen. Eigentlich war es richtig schön, sie zu sehen.« Tess lächelte. »Sie haben mir erlaubt, bei der Alpha Cru zu bleiben, bis im Herbst die Schule wieder anfängt, weil sie gemerkt haben, wie gut es mir hier geht«, fuhr sie fort. »Ben, Sammy und ich haben übrigens auch einen Song für sie gespielt. Ich glaube, dabei haben meine Eltern gesehen, wie besonders es ist, was mir hier gerade passiert, und wie glücklich ich bin.«

Alea war müde und unterdrückte ein Gähnen, um Tess nicht das Gefühl zu geben, sie wäre gelangweilt. Denn das war sie ganz und gar nicht! Es tat gut, Tess so offen reden zu hören. Vermutlich hatte auch sie ihre Freundschaft und ihre Gespräche vermisst.

Tess sprach schon weiter. »Für mich ist das Wichtigste hier auf der Crucis unsere Band. Unsere Musik.« In ihrer Stimme schwang Sehnsucht mit. »Wir sind wirklich gut. Mehr als gut. Wir sind … spektakulär einzigartig. Ist dir das eigentlich klar?«

Nachdenklich strich Alea sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Einige Mitglieder der Cru waren tatsächlich außergewöhnlich talentiert. Tess am allermeisten. »Du bist spektakulär«, sagte sie. »Und Lennox auch.«