Der Weg

Laß dich vom Leben nicht belügen,

nicht betrügen!

Schau nach vorn,

schau nicht zu oft zurück,

finde in der Zukunft dein Glück.

Den Kopf nicht senken,

sich nicht ergeben,

sondern erheben.

So lebe dein Leben.

Angelika Nachtmann

Angelika Nachtmann

Eine unerhörte Frau

Nicht gehört – fast zerstört

Sich im Leben erheben

und nicht bedingungslos ergeben

Scholastika Verlag

Dieses Buch widme ich in Liebe meinen Kindern Stefan, Michael und Katharina sowie meinen Enkelkindern Ludwig und Florian

Vorwort

meiner Tochter Katharina Nachtmann

Meine Gedanken und Gefühle als kleines Kind, in dieser schweren Zeit: ich bin in der 2. Klasse Grundschule. Morgens wache ich auf und habe bereits wieder furchtbare Kopfschmerzen. Doch ich muss ja zur Schule gehen, denn wenn ich zu Mam und Pa schon wieder sage: „Ich habe Kopfweh, ich kann nicht zur Schule gehen“, dann meinen sie nur wieder, ich will die Schule schwänzen.

Meine Mam glaubt mir wohl, dass ich Kopfschmerzen habe. Doch ich habe den Eindruck, sie denkt auch, dass ich wegen der ständigen Hänseleien und der viel zu schweren Schultasche eine Ausrede suche. Was soll ich nur tun, ich habe ja jeden Tag und jede Nacht diese schrecklichen Kopfschmerzen, und in die Schule muss ich doch.

Ein Tag aus meinem Leben als schwerkrankes Kind: Ein neuer Schultag beginnt mit unerklärlichen Kopfschmerzen. Nichtsdestotrotz gehe ich vorsorglich zum Schulbus, um ja nicht zu spät zu kommen. Mein Schulranzen ist viel zu groß und zu schwer, weil ich ja so klein bin, aber das macht mir nichts aus. Und zum Glück hilft mir oft mein älterer Bruder Michael beim Tragen. Für mich ist es mit meinem Kopfschmerz jedes Mal eine Tortur, die schwere Tasche zur Schule zu bringen. Dann bin ich endlich dort. Der Unterricht beginnt und ich habe große Mühe mich zu konzentrieren, weil mein Kopf so dröhnt. Aber wenn ich meiner Lehrerin sage, wie es mir geht, dann meint die sicher nur wieder, ich simuliere, weil ich die Schule schwänzen will. Und so denke ich mir einfach, irgendwie werde ich diesen Schultag schon schaffen.

Der Sportunterricht ist für mich immer das Schlimmste. Durch das ständige Rennen, Springen und Toben verstärkt sich das Kopfweh immens. Dann kommt endlich eine Pause. Ich bin immer wieder neu von der Hoffnung getragen, dass ich mich in dieser kurzen Zeit etwas erholen kann, um genügend Kraft für die letzten Unterrichtsstunden zu haben. Doch in der Pause werde ich permanent von den Schülern aus den anderen Klassen geärgert. Die anderen Kinder hänseln mich eigentlich immer, weil ich anders bin als sie, weil ich viel kleiner bin. Oft fragen sie mich, in welche Klasse ich denn gehe. Die denken nämlich, nur weil ich so klein bin, dass ich noch in den Kindergarten gehe. Und können das gar nicht verstehen, dass ich kleiner Zwerg schon in die Schule gehe. Da mein älterer Bruder in die gleiche Schule geht, habe ich Verstärkung und er hilft mir sehr oft, mich gegen die anderen Kinder zu wehren. Mit der Zeit wusste ich mir aber dann selbst zu helfen, konnte mich alleine wehren und verteidigen. Und immer weiter geht es mit dem Unterricht. Immer wieder denke ich dann: „Augen zu und durch.“ Meine Kopfschmerzen lassen einfach nicht nach und in meinem Kopf ist ein ganzer Bergarbeitertrupp zu Gange, so wie es da hämmert.

Schulschluss! Erleichtert fahre ich mit dem Schulbus nach Hause. Dort lege ich mich erst einmal ins Bett, um mich nach so einem anstrengenden Schultag auszuruhen und zu erholen. Anders komme ich nicht über den Tag. Damit mein Kopfweh etwas besser wird, legt mir meine Mutter eine Kühlkompresse auf die Stirn. Nach einer Stunde Ausruhen esse ich eine Kleinigkeit und fange mit den Hausaufgaben an. Die muss ich oft in Etappen machen, weil es mich sonst zu sehr anstrengt. Meist ist es dann schon Abend, bis ich damit fertig bin und es ist Zeit ins Bett zu gehen, damit ich für den nächsten schweren Schultag ausgeschlafen bin. Die meiste Zeit plagen mich meine Kopfschmerzen auch nachts. Dann finde ich wenig Schlaf. Zu den nächtlichen Kopfschmerzattacken kommen oft auch noch Erbrechen und Übelkeit. Meine Mam ist stets bei mir und bezieht mir mein Bett nachts mehrfach frisch. Nach einer anstrengenden Nacht beginnt dann wieder ein weiterer, von Kopfschmerzen geplagter Schultag …

Mittlerweile bin ich fast 23 Jahre alt und kann mir kaum noch vorstellen, dass ich diese Zeit überstanden habe. Eines ist gewiss: Ich bin heute nur noch am Leben, weil ich eine so starke und unnachgiebige Mutter hatte und habe. Sie war immer für mich da und hat meine Schmerzen immer ernst genommen – fast als einzige! Meine Lehrer, Ärzte, Mitschüler und sogar Freunde behaupteten, ich würde lügen, simulieren. Das finde ich nach wie vor ungerecht und oberflächlich. Denn ich weiß ganz genau, dass ich nie gelogen habe. Ich habe immer die Wahrheit gesagt. Nach wie vor finde ich es schrecklich, dass ich als Kind eine so furchtbare und schwere Zeit erleben musste, nur weil mir niemand Glauben schenkte – außer einem einzigen Menschen in dieser großen, weiten Welt. Und nur dank dieses Menschen bin ich heute noch am Leben: meine Mam. Sie hat mir als kleinem Kind geglaubt, dass ich die Wahrheit sage, auch wenn es eine sehr schwere Zeit für uns beide war.

Für diese grenzenlose Fürsorge, für diesen Einsatz möchte ich meiner Mam meinen aufrichtigsten Dank aussprechen: Du warst immer für mich da, wann immer ich Dich gebraucht habe. Mam, ich möchte mich von ganzem Herzen und aus der endlosen Tiefe meiner Seele bei Dir bedanken. Du warst immer für mich da, auch nach dieser schweren Operation. Du bist mir beigestanden, sodass ich das alles überstehen konnte. Du hast mir die nötige Kraft und den Mut gegeben, damit ich nicht aufgebe und weiter um mein Leben kämpfe.

Von ganzem Herzen DANKESCHÖN!

Von Deinem Töchterchen Katharina

1. Kapitel

Ich habe viel geweint, viel gelacht,

mir viele Sorgen gemacht

und dennoch immer für die mir nahe stehenden Menschen,

wie für mich selbst, das Beste daraus gemacht.

Wenn ich heute mit knapp fünfzig Jahren meine Geschichte erzähle, dann scheint es mir sinnvoll, ganz vorne zu beginnen.

Hilfreich für das Verständnis dieses Romans ist meine grundsätzliche Einstellung zum Leben. Ich sehe das Leben als eine Schule, durch die wir alle gehen. Das eine Mal ist der Lebensweg steil, das andere Mal eben. Wichtig war für mich immer das Motto: „Bleib nie zu lange an einer Stelle stehen.“ Oftmals ist man aber gezwungen, länger an einer Stelle auszuharren. Und manchmal merkt man gar nicht mehr, wie viel es an Unachtsamkeiten und Gefahren gibt. Ich habe mich stets selbst an die Hand genommen, bin zum gegebenen Zeitpunkt losgegangen und hatte dabei nie das Gefühl, ich müsste schneller oder langsamer sein als andere. Ich war darauf bedacht, mein Lebenstempo möglichst immer alleine zu bestimmen, auch wenn es mir oft schwer fiel und mich bittere Tränen kostete.

Ich schätze mich selbst als einen sehr tiefgründigen und empfänglichen Mensch ein, nehme nicht einfach alles hin oder bequeme mich damit. Im Gegenteil: Ich versuche, die Menschen und die Dinge genauer zu betrachten. Zu dieser Verhaltensweise, die mein gesamtes Leben bis heute maßgeblich prägt, bin ich in meiner bittersten Stunde als Kind von neun Jahren gelangt. Damals wurde ich sexuell missbraucht. Seinerzeit dachte ich nicht im Entferntesten daran, dass und wie sich diese seelische Erschütterung als roter Faden durch mein weiteres Leben ziehen würde.

Im August 1969 war es geschehen. Ich litt Qualen, die ich kaum mit Worten beschreiben kann. Noch heute fühlt es sich für mich schrecklich an, mich zu erinnern, wie Körper und Seele so unermessliches Leid erfahren haben und ich gezwungen war, hilflos in diesem Schmerz zu verharren. Noch heute finde ich es schlimm, von einem Menschen, den man eigentlich als freundlich und angenehm kannte, an die Grenzen eines unerträglichen Schmerzes gebracht worden zu sein. Es war ein mir wohl bekannter Nachbar meiner Tante, bei der ich damals für ein paar Wochen meine Sommerferien verbrachte.

Nach diesem furchtbaren Erlebnis war nichts mehr wie vorher. Seither bin ich in der Lage, sehr schnell drohende Gefahren spüren. Dieser Missbrauch weckte in mir eine feinfühlige und instinktive Fähigkeit, die mich lehrte, die Menschen genauer zu beobachten, zu betrachten und nicht zu sehr auf den äußeren Schein zu achten, sondern in mich hineinzuhorchen und meinem Gefühl zu vertrauen. Und nichts konnte mich von diesem Tag an davon abbringen. Diese Sensibilität hatte ich später auch in Bezug auf meine Kinder entwickelt. Und ich nutzte sie damals wie heute.

Der sexuelle Missbrauch hat mich in der Folge als Kind gelehrt: „Gib gut auf Dich Acht, und pass ganz besonders auf, denn egal, wie einem jemand begegnet, man weiß nie, ob diese Begegnung Grausamkeit oder Segen bringt.

Ständig habe ich alles hinterfragt, immer nachgehakt und dabei nicht verzagt. Zu keinem Zeitpunkt in meinem bisherigen Dasein war ich ein Mensch, der es anderen leicht macht. Dafür habe ich zuviel Schreckliches mitgemacht. Auch wenn manch einer behauptet, das Leben bringt mit sich, dass einem oft viel abverlangt wird, machte es mich als Neunjährige richtig krank, dass die Menschen um mich herum meine emotionale Sprache nicht verstanden, sie nicht nachempfinden konnten oder wollten. Ob sie damit einfach nicht umgehen konnten oder wollten, in meinem inneren Erleben flüchteten sie sich in Ignoranz, um ja nicht in Konflikte zu geraten oder sich gar der Wahrheit emotional und solidarisch nähern zu müssen. Oft fühlte ich mich verlassen und alleine, und zugleich war ich doch nie einsam. Bekanntlich ist Einsamkeit das größte Gift, wenn es auf die Seele trifft.

Meine Empfindsamkeit und meine Intuition wurden mir von da an zu treuen und zuverlässigen Begleitern. Sie gaben mir die nötige Gewissheit und das Rüstzeug, den Menschen mit gebührender Achtung und mit dem nötigen Respekt zu sehen und zugleich auch das zu erahnen, was hinter seiner Fassade steckt. Wir Menschen können grausam sein, allein schon indem wir wegsehen, nichts sagen und auch nichts hören, um unser Wunschdenken ja nicht durch eine reale Wahrnehmung zu stören.

Gegen so viel Gleichgültigkeit kann man sich als Betroffene dann im Falle des Falles nicht wehren. Bis heute sehe ich Menschen mit völlig anderen Augen, als es wahrscheinlich normal wäre. Ich erlaube mir keine flüchtige oder oberflächliche Beurteilung. Lieber beschränke ich mich weiter auf das Beobachten – aus der Distanz. Für eine Beurteilung meines Gegenübers berücksichtige ich viele kleine Auffälligkeiten und achte nicht auf deren Schein, sondern auf das wahre Sein, das sich immer herauskristallisieren und erspüren lässt.

In den mir begegnenden Menschen habe ich mich bislang selten getäuscht. Natürlich ist es nicht einfach, sich in oft nur kurzen Momenten die Gestik, die Mimik und die verbalen Aussagen des Gegenübers einzuprägen. Aber genau darauf richte ich mein Augenmerk, und ich verzichte nicht auf das kleinste dieser persönlichen Details. Bedauerlicherweise merke ich dann immer wieder für mich, dass es sich oft nicht lohnt, mit bestimmten Menschen intensiveren Kontakt zu pflegen. Viele leben aus meiner Sicht an den wichtigen Dingen vorbei und meinen, ständig den letzten Schrei mitmachen zu müssen. Ich selbst betrachte die Geschehnisse aus einer Metaebene und werde vermutlich bis an mein Lebensende mit Sicherheit nie diese oberflächlichen und primitiven Machtspiele so vieler Menschen verstehen, geschweige denn mitspielen. Im Laufe eines Lebens verändert sich der Mensch, und manchmal nicht zu seinem Besten. Er wendet sich dem eigenen Egoismus zu, seinen Erwartungen und Forderungen und merkt nicht mehr, wie sein menschliches Mitgefühl und sein guter Kern währenddessen verkümmern.

Mein Fühlen und Denken zeigt sich auch darin, dass ich meiner inneren Stimme Gehör schenke und Acht gebe, niemanden zu Unrecht zu kränken. Das Ereignis als Neunjährige hat mich gelehrt, niemals meine innere Stimme zu bekämpfen, sondern ganz im Gegenteil, ihr immer und ausdrücklich Gehör zu verleihen. Sie ist der Boss, die Nummer Eins. Zwar hat sie mich einerseits oft an die Grenze des emotional Erträglichen gebracht, glücklicherweise hat sie mich andererseits aber so auch immer automatisch dorthin geführt, wo ich als Mensch hingehöre. Wenn ich also heute behaupte, dass genau dieser Tag im August 1969 mein Leben entscheidend beeinflusst hat, dann liegt das vor allem daran, dass genau an diesem Tag mit diesem grausamen Ereignis auch meine sensible Entwicklung begann, die schlussendlich ein Menschenleben gerettet hat: Das meiner Tochter.

2. Kapitel

Leben in Angst und Sorgen,

denn ich wusste nie, was passiert mir morgen

Es beruhigte mich auch nicht, dass mein Peiniger verurteilt wurde und seine Strafe bekam, nachdem ihn mein Vater angezeigt hatte. Für mich zählte allein die Frage: „Was hat dieser Mensch mir angetan?“ Ich war nicht in der Lage, dies in meine bisherige, unbeschwerte, unbekümmerte und glückliche Kindheit einzuordnen. Ich konnte keinen guten Platz für diesen Missbrauch in meiner Biographie finden. Bis heute nicht. Mit einem Schlag hatte damals mein Leben als Neunjährige eine ganz andere Qualität. Mir war nicht nachvollziehbar, wie ein Mensch einen anderen derart quälen kann.

So also fing meine Angst vor dem Leben und den Menschen an. Ich wurde wachsam und misstrauisch, erlebte jeden Tag und jede Nacht in der Sorge, ja nichts zu übersehen, nichts zu überhören, das mir eventuell schaden könnte. So entwickelte ich mit der Zeit ausgeprägte Überlebensstrategien, um meine Furcht unter Kontrolle zu bekommen. Sogar dort, wo ich mich sonst wohl und sicher gefühlt habe, schlug mir seit jener Nacht nur noch die tief in mir verwurzelte Angst entgegen. Ich war nicht mehr in der Lage, mein mir von der Natur gegebenes Vertrauen, meine ganz persönliche, ursprüngliche Freiheit wieder herzustellen. Ich lebte fortan in ständiger Angst. Jeden Abend schaute ich penibel unter mein Bett und in den Schrank, ob sich dort jemand befand. Ich durchsuchte praktisch jeden Winkel meines Kinderzimmers, bevor ich zu Bett ging, obwohl es dafür überhaupt keine Notwendigkeit gab.

Für mich wurde dieser Kontrollgang zum Ritual, und wenn meine um ein Jahr jüngere Schwester Erika sagte: „Geli, da ist doch nichts.“, so versuchte ich so zu tun, als ob ich ihr glaubte und stoppte mein Kontrollieren unmittelbar. Dann wartete ich, bis sie eingeschlafen war und kontrollierte weiter. Sonst konnte ich kein Auge zu tun. Ich musste die Gewissheit haben, dass da wirklich niemand ist. So manches Mal ist meine Schwester durch meine Aktionen wieder aufgewacht und fragte nach, was ich denn da bloß mache. Für mich war es nicht leicht, ihr das zu erklären, und so fand ich meist eine Ausrede, indem ich behauptete, ich würde nur schauen, ob meine Kleidung für den kommenden Schultag vorbereitet sei. Irgendwann fing dann auch meine Schwester an, mit mir unters Bett, in und auf den Schrank zu schauen. Meine Furcht hat sich so klammheimlich über die Zeit auch auf meine Schwester übertragen, obwohl ich das nicht wollte. Doch ich war meinem Kontrollzwang ausgeliefert und nur so konnte ich mir etwas innere Ruhe verschaffen. Wenn ich mal später ins Zimmer kam als Erika, so sagte sie oft: „Brauchst heute nicht mehr schauen, Geli, hab ich schon getan, ich sag Dir doch immer: Da ist keiner da.“ Dennoch konnte sie mich nicht beruhigen und verstand auch nicht, warum ich diesen nächtlichen Kontrollgang machte. Sie war jünger und da ich selbst nicht wusste, weshalb ich sogar im eigenen Elternhaus, wo es mir doch immer gut ging, diese Angst nicht mehr los wurde, konnte ich ihr das auch nicht verständlich machen.

Im Gegenteil, meine Angst steigerte sich mehr und mehr. Absolute Dunkelheit konnte ich überhaupt nicht mehr ertragen. Die Vorhänge, die meine Mutter jeden Abend zuzog, riss ich sofort wieder auf und zur Sicherheit schloss ich den Kleiderschrank zusätzlich ab. Auf dem Schrank hatte ich einen Besenstiel deponiert, damit ich mit ihm unter dem Bett, von einer Seite zur anderen, alles abtasten konnte. Ein simpler Besenstiel wurde zu meinem ganz eigenen Symbol der Sicherheit, sollten meine Augen doch etwas übersehen haben. In mir hatte sich der Satz meines Peinigers, den er mir in dieser folgenschweren Nacht mit auf den Weg gab, festgefressen: „Wenn du jemals einem Menschen davon was sagst, bringe ich Dich um! Ich finde Dich, egal wo Du wohnst!“ – Dieser Satz hatte sich in meine Seele gefressen. Ich konnte ihn nicht mehr löschen, auch dann nicht, als er endlich verurteilt war.

Es war mir als neunjähriges Mädchen unmöglich zu begreifen, dass mir mein Peiniger nichts mehr tun würde. Woher auch! Wie sollte ich wissen, was im Kopf eines solch grausamen Menschen vorgeht, sobald er aus dem Jugendstrafarrest entlassen war. Äußerlich war zwar durch die Verurteilung alles aufgedeckt, doch in mir, blieb der Schrecken dieses sexuellen Missbrauchs im wahrsten Sinne des Wortes stecken. Mein instinktives Überlebensprogramm lief Tag und Nacht, ohne Pause. Von diesem Tag an achtete ich beispielsweise auf alle Autos, die langsam an mir vorbeifuhren, während ich zur Schule ging. Ich bemühte mich, immer ganz nah am Straßenrand zu bleiben, um genug Platz zu haben, falls ich fliehen müsste.

Irgendwann, nach Jahren, hat mir dann meine Großmutter ganz beiläufig erzählt, dass der Nachbarssohn von meiner Tante in Niederbayern, bei der das damals passiert ist, bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Sie sprach von meinem Peiniger, aber sie erwähnte es so ganz nebenbei, als sei dies irgendetwas Belangloses, das jeden Tag passiert. Und weil es so belanglos als Nebensatz kam, war ich nicht in der Lage, ihrer Aussage Glauben zu schenken. Zwar fühlte ich kurzfristig eine deutliche Erleichterung, doch die hielt nicht an. Ich konnte nicht einschätzen, ob das wahr war oder nicht. Auf den Friedhof, wo er seine letzte Ruhe gefunden hatte, konnte ich nicht, da dieser mehr als zweihundert Kilometer von meinem Heimatort entfernt war. Ich hatte damals keine Möglichkeit, mich zu vergewissern und die Aussage der Tante zu überprüfen. Stattdessen lebte ich weiterhin in der Angst, dass er irgendwann kommt, um mich umzubringen, wie er es mir angedroht hatte.

Heute ist mir klar, dass niemand in meinem Umfeld damals je begriffen hat, wie sich mein inneres Erleben durch diese Schandtat verändert hatte und wie mein inneres emotionales Chaos aussah. Keiner konnte erahnen, wie mich dieser Zustand innerlich quälte, der durch die Urteilsverkündung für die anderen „Beteiligten“ plötzlich behoben war. Selbstverständlich gingen sie davon aus, dass das für mich als Opfer sicher auch so war. Doch weit gefehlt. Für mich war alles wie damals, die Schreckensnacht war mein ständiger Begleiter im Präsens meines Seins. Für die anderen war das Thema mit der Verurteilung und dem Tod des Peinigers einfach ad acta gelegt und für mich gefühlt unter den Tisch gekehrt.

Fortan war es mir nicht mehr möglich, unbeschwert und frei zu leben. Das Schlimmste daran war, dass es keinem auffiel. Meinen besten Freund Mandi animierte ich unter irgendeinem Vorwand, wie es Kinder gerne machen, mit mir zusammen ein Lager zu bauen oder beim angrenzenden Landwirt im Heustadel einen unterirdischen Gang zu graben, der für mich im Fall der Fälle als Fluchtmöglichkeit dienen sollte. Mandi half mir da gern, für ihn war es ein Spiel und er ahnte nicht, dass dieses Spiel für mich nicht nur der Aberteuerlust galt, sondern für mich bitterer Ernst war und mir eine gewisse Sicherheit vermittelte. Dort, so dachte ich, würde mein Peiniger mich niemals finden, falls er mich je suchen sollte. Mandi und ich hatten viele kleine Verstecke, die nur er und ich kannten.

Auch einen Jägerstand beschlagnahmte ich oft in den Sommermonaten, um mehr Übersicht zu haben. Aus heutiger Sicht denke ich, die Sommermonate waren es vor allem deswegen, weil die Tat im Sommer geschah. In diesen sonst so beschwingten Wochen des Sommers verfolgte mich meine geschändete Neunjährige, die in mir nie zu Ruhe kam, mehr als in den übrigen Jahreszeiten.

Für meine innere Sicherheit brauchte ich die absolute Gewissheit, dass mich mein Peiniger nicht finden könne. Und so investierte ich sehr viel Zeit für das Finden und Einrichten von Fluchtorten. Ich wusste auch genau, dass Mandi, egal was passieren würde, unsere „Lager“ niemandem verraten würde. Das war ein unausgesprochenes Geheimnis, wie es zwischen Kindern eben üblich ist. Dorthin flüchteten wir natürlich auch, falls man uns mal wieder für verschiedene Erledigungen und Pflichten in Beschlag nehmen wollte, wozu wir gar keine Lust hatten. So hörten wir nur noch die Rufe nach uns und genossen lieber unser Spiel, obwohl wir genau wussten, dass damit der Ärger vorprogrammiert war, sobald wir wieder zu Hause waren. In solchen Momenten war ich dann ein ganz normales Kind. Ich genoss das Zusammensein mit Mandi und wir machten uns oft lustig darüber, weil keiner von unseren vielen kleinen Verstecken wusste. So war Mandi für mich in meiner „angeschlagenen“ Kindheit der wichtigste Mensch in meinem Leben und für diese Freundschaft empfinde ich noch heute unendliche Dankbarkeit und bin froh, dass es Mandi in meinem Leben noch immer gibt.

Über viele Jahre war es für mich kaum zu ertragen, einen Zeitungsartikel oder im Fernsehen eine Dokumentation über kindlichen sexuellen Missbrauch zu verfolgen. Getriggert von den eigenen Erlebnissen als Neunjährige hatte ich sofort wieder diese fürchterlichen und schrecklichen Dinge jener Nacht vor mir, so als wäre es erst gestern gewesen. Auch bestimmte Düfte und Dinge, die mich daran erinnerten, schleuderten mich in Blitzgeschwindigkeit zurück in den Schock von damals. Gleichsam einem lähmenden Aufwallen der Vergangenheit, das mich bewegungs- und gefühlsunfähig machte. Jedes Mal braucht es dann einige Zeit, um mein angstvolles und hoch emotionales Unterbewusstsein und die erstarrte Neunjährige in mir zu beruhigen und zu warten, bis mein Verstand wieder greifen und die Steuerung übernehmen konnte.

Es heißt war immer, die Zeit würde alle Wunden heilen. Das mag vermutlich in einigen Fällen ganz richtig sein, doch wie auch immer, Narben werden bleiben. Seelische sowie körperliche Wunden können in meinem Erleben nie erzählen, wie sehr sie jemals geschmerzt haben, auch nicht, wenn sie bereits vernarbt sind. So blieb ich, wenn ich es heute als Erwachsene betrachte, in der Tiefe meiner Seele ein trauriges Kind, obwohl die mit mir lebenden Menschen das nie wahrnehmen konnten, weil ich mich ja immer ganz gegenteilig präsentierte, um mich gut zu schützen.

Ich hatte meine ganz speziellen Überlebensmechanismen entwickelt und sie haben sich bewährt. Der Preis dafür war, dass mich meine Mitmenschen oft als sehr „eigen“ beschrieben und meine spezifischen Verhaltensgewohnheiten nicht verstehen konnten. Auch heute, nach so vielen Jahren, ist es für mich nicht immer einfach, mit dieser Vergangenheit zu leben. Sie hat noch immer keinen guten Platz in mir gefunden. Für mich ist es fast nicht möglich, unbeschwert und oberflächlich zu leben, wie es um mich herum so viele Menschen tun. Mir fehlt auch das Verständnis für die Menschen, die, egal ob in der Politik, Wirtschaft und in vielen führungsorientierten Ämtern, ihre Macht ausnutzen. In meinem Erleben steckt da sehr viel menschliche Respektlosigkeit, verdeckte Gewalt und Aggression dahinter – sei es nun geistig oder körperlich, das macht für mich keinen Unterschied.

Es gab Stunden und Momente, da bin ich an meinen seelischen Qualen fast zerbrochen und doch hatte alles seinen Sinn. Mein Leben wurde dadurch ein anderes und selbst, wenn man ich es nur bedingt verstehen konnte, ging ich dadurch dennoch meinen ganz eigenen, persönlichen Weg.

Natürlich kann sich das Leben schwerer und unbequemer anfühlen, wenn man sich nicht in der so genannten Normalität bewegt. Doch was soll eine Neunjährige machen, wenn es nicht anders geht, wenn die für den Menschen wichtige natürliche Grenze der Persönlichkeit gewaltsam überschritten bzw. niedergerissen wurde. Sie steht da, schutzlos ausgeliefert. Und bleibt fortan immer in Hab-Acht-Stellung, damit niemand sie jemals wieder benutzt. Ich weiß noch genau, wie das Leuchten in meinen Augen an jenem Tag erlosch. Allein mein starker Lebenswille wurde nicht gebrochen. Ich begann mehr und mehr in mich hineinzuhorchen. Vermutlich war es genau dieses Verhalten, das mir die Kraft gab, mein weiteres Leben zu bestehen und Menschen wie Dinge mit anderen Augen zu sehen. Für mich zählt am Ende stets das Resultat, das mir immer und immer wieder bewiesen hat, dass ich die richtigen Schritte gewählt habe. Ich hatte ich mich innerlich entschieden, dem Unrecht keinen Platz zu geben und es zu immer zu besiegen und nie der vermeintlichen Unwissenheit oder Oberflächlichkeit zu verfallen, wie es in meinem Umfeld der Brauch geworden war.